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Das Diktum Henri Lefebvres, dass die Stadt unsere Fabrik sei, übersieht, dass die urbanen Zentren nicht nur wichtige Sphären der Produktion, sondern auch der Reproduktion sind. Unter dem nüchternen Begriff der Reproduktionsarbeit werden gemeinhin alle Tätigkeiten verstanden, die auf die Aufrechterhaltung der Arbeitskraft und damit der Regeneration des Körpers wie der Psyche ausgerichtet sind. Dazu können u. a. Haus- und Familienarbeit, Sexualität sowie die Pflege, Versorgung und Betreuung von Alten, Kranken und Kindern gezählt werden. Weite Bereiche dieser Reproduktionsarbeiten wurden und werden in der kapitalistischen Moderne primär von Frauen geleistet, wie feministische Autor_innen seit den 1970er Jahren immer wieder betont haben.

Auch wenn diese vielfältigen Tätigkeiten konstitutiv für die gesellschaftliche Ordnung sind und die kapitalistische Lohnarbeit elementar auf der reproduktiven Arbeit aufbaut, wird diese doch selten als Arbeit anerkannt, zumal sie klassischerweise unentgeltlich und ‚aus Liebe‘ geschehen soll. Im Zuge der Durchsetzung kapitalistischer Raumorganisation wurde zudem ein Teil der Reproduktionsarbeit von der Sphäre der Produktion getrennt. Dies und ihre fehlende Anerkennung hat entscheidend zur ‚Unsichtbarkeit‘ und Marginalisierung der Reproduktionsarbeit beigetragen. Derzeit lassen sich jedoch auch gegenläufige Entwicklungen beobachten: So löst sich die strikte Trennung von Produktions- und Reproduktionsbereich durch die ‚Entgrenzung von Arbeit‘ teilweise wieder auf, allerdings ohne dass es zu einer Aufwertung der Reproduktionsarbeit käme. Stattdessen sind die institutionalisierten und entlohnten Formen von Reinigungs- und Sorge-Arbeit – nicht zuletzt in den ‚weißen Fabriken‘, d. h. den Kliniken, Pflegeheimen oder Kinderbetreuungseinrichtungen – oftmals besonders prekär und marginalisiert. Gerade Migrant_innen, Schwarze und People of Colour sind in diesen Arbeitsfeldern überrepräsentiert und besonders von Ausbeutung betroffen.

So unsichtbar, wie diese Tätigkeiten im Alltag oftmals erscheinen, so unbemerkt sind sie abseits der feministischen Debatten auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften geblieben. Dabei kann die Sphäre der Reproduktion nicht nur als blinder Fleck klassisch marxistischer Analysen gelten, sondern auch der Stadtforschung. Dies gilt jedoch nicht vollständig: Seit den 1970er Jahren wurde die feministische Stadtkritik wieder aufgenommen (Dörhofer, Terlinden u. a.). Und auch Autor_innen der New Urban Sociology versuchten, Städte als zentrale Einheiten in der Reproduktion der Arbeitskraft zu bestimmen und sie damit den Unternehmen entgegenzustellen, die die Produktion organisieren (Castells). Aus dieser Perspektive erscheinen Stadtquartiere ebenso wie Kindergärten, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen als Teil der urbanen Reproduktionssphäre. Aber auch Bordelle, Parks, Wellnessoasen, Diskos, Fitness-Studios und andere Orte der Erholung und Freizeit könnten dazu gezählt werden.

Eine massive Transformation der Reproduktion wird aktuell vor allem in queerfeministischen Zusammenhängen als ‚Krise der Reproduktion‘ und ‚Care-Revolution‘ thematisiert (kitchen politics u. a.). Ausgelöst wird diese Krise nicht nur durch die Erosion staatlicher Versorgungs- und Fürsorgeinstitutionen im Zuge der Durchsetzung neoliberaler bzw. post-fordistischer Austeritätspolitiken (Fraser), sondern auch durch den Wandel fordistisch-patriarchal organisierter Familienstrukturen, Solidarformen und Werte. Während sich deren klassische Formen einerseits auflösen oder auflockern, andererseits aber auch retraditionalisieren, lässt sich eine Vielzahl neuer (und nicht ganz so neuer) Gemeinschaftsstrukturen beobachten, wie Regenbogenfamilien, Wohngemeinschaften und Community-Strukturen. Diese orientieren sich nicht nur mehr oder weniger stark am heteronormativen Modell der Kleinfamilie, sondern bilden oftmals auch neue Fürsorge-Gemeinschaften. Zugleich mehren sich die Anzeichen für eine eskalierende Krise gesellschaftlicher Reproduktion, die aus dem sich verschärfenden Widerspruch zwischen den Reproduktionskosten von Arbeit und der Maximierung von Profit erwächst (Winker). Zugleich wird nunmehr von den Individuen erwartet, sich den rasch wandelnden Bedingungen flexibel anzupassen und stets an der Selbstoptimierung zu arbeiten (Boltanski/Chiapello).

Im Zuge dieser Entwicklungen lässt sich seit einiger Zeit eine massive Ökonomisierung der Reproduktions­sphäre konstatieren, die sich in u. a. in der Zunahme von oftmals informell wie prekär Beschäftigten in diesem Feld zeigt. Als Dienstleister_innen arbeiten sie bspw. in mobilen Pflegediensten, als Nannies und Tagesmütter_väter, in der Betreuung Alter, Kranker und Behinderter sowie als Sexarbeiter_innen oder als Reinigungskräfte für private Haushalte, Unternehmen und öffentliche Einrichtungen. Da insbesondere in der Sorgearbeit Fachkräfte fehlen, auch aufgrund schlechter Entlohnung und unattraktiver Schichtarbeit, richtet sich die staatliche Migrationspolitik zunehmend auf Arbeitskräfte aus dem Ausland, die die Sorgearbeit der ‚altenden Gesellschaft‘ übernehmen sollen. Vor allem die sozial-pflegerischen Formen der Kommodifizierung der Reproduktion werden als ‚Care-Work‘, ‚Care Share Economy‘ und ‚Affective Labour‘ problematisiert – allerdings selten im Hinblick auf die räumliche oder städtische Organisation. Dies mag erstaunen, sind es doch gerade die Städte, die als Labore wie Motoren dieser Entwicklungen gelten können. Gerade hier artikulieren sich neue Anforderungen, aber auch Einschränkungen und Rassismen, ebenso wie Formen kollektiver Auseinandersetzung und des Widerstands. Dies zeigt sich beispielsweise in neuen nachbarschaftlichen Organisationen, Initativen und Institutionen wie Tauschringen, ‚Neuen Nachbarschaften‘, Demenzcafés, selbstorganisierter Kinderbetreuung, Mütterzentren usw., aber auch in der Zunahme von Lieferdiensten und kleinen Dienstleister_innen aller Art. So hat sich weit über den sozial-pflegerischen Bereich hinaus vor allem in den Länderns des globalen Nordens längst ein neues, prekarisiertes ‚Dienstleistungsproletariat‘ herausgebildet, das für Reproduktionsarbeit im umfassenden Sinn zuständig ist. Die zahlreichen lebensnotwendigen Arbeiten wie die Essenszubereitung und -anlieferung, Wäschewaschen, Bügeln, Putzen, Pflegen, Reparieren u. v. m. werden dabei zunehmend an prekarisierte Dienstleister_innen ausgelagert, viele von ihnen zugewandert.

Auch das Wohnen spielt in dieser Perspektive eine vielschichtige Rolle. War die Wohnung über Jahrzehnte eine wichtige, aber auch ambivalent zu bewertetende Sphäre der Reproduktionsarbeit, die die Reproduktionsarbeiterin stark isolierte, wackelt diese gesellschaftliche Sphäre mittlerweile nicht nur aufgrund der Entgrenzung von Arbeit und der Erosion traditioneller Geschlechterarrangements. Die Finanzialisierung der Wohnungsmärkte (Heeg) und die derzeitige Wohnungs- und Sozialpolitik, die soziale Ungleichheiten verstärkt und zementiert, erzeugen für immer mehr Menschen entsicherte Wohnverhältnisse.

Welche spezifischen räumlichen Organisationsformen entstehen also in der aktuellen ‚Stadt der Reproduktion‘? Welchen Einfluss hat Reproduktionsarbeit auf die Räume des Urbanen, und wie prägen städtische Stukturen und Kulturen die Praktiken und Vergesellschaftungsformen der Reproduktion? Der geplante Themenschwerpunkt will sich diesen Fragen und Phänomenen ausgiebig widmen. Ein Ziel ist dabei auch, zu diskutieren, wie Reproduktionsarbeit vor dem Hintergrund aktueller und historischer Entwicklungen in der Stadtforschung konzeptionell (neu) gefasst werden kann.

 

Der Themenschwerpunkt soll sich insbesondere, aber nicht ausschließlich, mit folgenden Fragen befassen:

Stadtstrukturelle Prozesse:

  • Inwiefern stehen staatliche Politiken im Bereich der Reproduktion (Familien-/Erziehungsgeld, ‚Herdprämie‘, Pflegegesetzgebungen, Hartz IV, Prostitutionsgesetz etc.) mit städtischen Prozessen wie Gentrifizierung, Suburbanisierung oder Reurbanisierung in Zusammenhang? Welche Rolle spielen dabei gesellschaftliche Prozesse der Finanzialisierung, Ökonomisierung und Prekarisierung?
  • Inwiefern werden ‚Ghettos‘ bzw. ‚benachteiligte‘ Stadtteile mit familiärer Benachteiligung in Verbindung gebracht (etwa mit Bezug auf Teenagerschwangerschaften, einen hohen Anteil an Alleinerziehenden oder die Rolle von Sexualität und Geburtenrate)? Gibt es Zusammenhänge zwischen familiären Benachteiligungen und marginalisierten Quartieren? Und welche Rolle spielt dabei Rassismus?
  • Unter welchen Bedingungen ermöglichen bzw. behindern räumliche Konstellationen die Vereinbarkeit von Reproduktionsarbeit, Erwerbsarbeit und Freizeit?
  • Inwiefern wirken sich spätkapitalistische Mobilitätsanforderungen im Bereich der Erwerbsarbeit auf die Reproduktionssphäre aus?
  • Inwiefern begrenzt oder erweitert Reproduktionsarbeit den räumlichen Radius der Reproduktionsarbeitenden?

Territorien der Reproduktion:

  • Für wen sind welche Räume und Bereiche in der Stadt wichtig? Welche städtischen Raumeinheiten erfüllen welche Bedürfnisse und ermöglichen welche Reproduktionspraktiken?
  • Wie werden städtische Räume aufgrund von Reproduktionsarbeit bewertet? Verschiebt sich der Bewertungsfokus?
  • Inwieweit trägt das Konzept der Heterotopien im Kontext von Sorgearbeit? Welche Merkmale haben diese Territorien der Reproduktion, und wie verhalten sie sich zu Konzepten von Privatheit und Öffentlichkeit, des Eigenen und des Anderen oder des Nahen und des Fernen?

Bedeutung traditioneller bzw. pluraler Lebensformen (andere Familien, Freundschaften, Communitys…):

  • Welche Rolle spielen neue Formen der Familie, aber auch die Abnahme der Bedeutung familiärer Bindungen innerhalb eines zeitgenössischen Reproduktionsregimes?
  • Welche Beispiele für städtische Sorge-Arbeit in Freundschafts- und Community-Netzwerken jenseits familiärer Strukturen gibt es?
  • Welche queeren Formen von Reproduktionsarbeit und -organisation lassen sich beobachten?
  • Inwieweit kann Sexarbeit als Teil von Care- oder Reproduktionsarbeit verstanden werden?

Protest, Widerstand und Selbstorganisation im Bereich der Reproduktion:

  • Welche Formen der Organisation, des Protests und des Widerstands mit Bezug zu Reproduktionsarbeit lassen sich historisch wie gegenwärtig in den Städten beobachten (Streiks von Reinigungskräften, in Kitas und Krankenhäusern)?
  • Inwieweit kann Reproduktion als Feld utopischer, emanzipatorischer oder gar widerständiger Politiken und Organisationsformen gelten?
  • Welche Rolle spielen Soziale Zentren, Schulen oder Community-Treffpunkte für die Netzwerkbildung von Reproduktionsarbeiter_innen?
  • Wie lassen sich Selbstorganisation, Empowerment und Weiterbildung z. B. von Alleinerziehenden oder von Pflegenden demenzkranker und behinderter Freunde und Angehöriger im städtischen Kontext verorten?

 

Für Aufsätze erbitten wir Abstracts im Umfang von 300-500 Wörtern mit Angaben zu Fragestellung, methodischem Vorgehen, theoretischem Ansatz und ggf. zur empirischen Basis, erbitten wir bis zum 31.1.2017. Die vollständigen Artikel sollen (nach Einladung) bis 30.4.2017 eingereicht werden. Der Umfang von 40.000-60.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen, Anmerkungen und Literaturverzeichnis) bei vollständigen Artikeln sollte nicht überschritten werden. Die Artikel durchlaufen vor der Publikation ein Peer-Review-Verfahren. Die Veröffentlichung des Themenheftes ist für Herbst/Winter 2017 geplant. Zusendungen als Word-Dateien erbitten wir an: nina.schuster@tu-dortmund.de und stefan.hoehne@metropolitanstudies.de.

Hinweise für Autor_innen, die unbedingt beachtet werden müssen, finden sich unter: http://www.zeitschrift-suburban.de/sys/index.php/suburban/about/submissions#authorGuidelines.

Außerdem laden wir zur Einreichung für die Rubriken ‚Magazin‘ und ‚Rezensionen‘ ein. In der Rubrik ‚Magazin‘ werden Interviews, Essays, literarische Texte und andere Formate mit Bezug zum Thema des Heftes gebündelt. Rezensionen können unabhängig vom Thema des Heftes eingereicht werden. Zusendungen bitte an:

Nina Schuster nina.schuster@tu-dortmund.de und Stefan Höhne stefan.hoehne@metropolitanstudies.de.