„Die Stadt der Toten ist die Kehrseite der Gesellschaft der Lebenden oder besser gesagt: Sie ist ihr Bild, ihr unzeitgemäßes Bild. Denn die Toten haben den Moment des Wandels durchlaufen und ihre Denkmäler sind das sichtbare Zeichen für die Beständigkeit ihrer Stadt.“ So beschrieb Philippe Ariès (1974: 74; Übers. d. A.) das neue Verhältnis von städtischer Gesellschaft, Tod und Nekropole, das sich im ausgehenden 18. Jahrhundert in Westeuropa herausbildete. Wurden die Körper der Toten zuvor den Kirchen überantwortet, die sie in den meisten Fällen wenig zeremoniell beerdigten, so gaben fortan öffentliche Friedhöfe den Verstorbenen einen bleibenden Ort in der Gesellschaft. Von nun an dachte man, „dass die Gesellschaft sowohl aus den Toten als auch den Lebenden besteht“ (ebd.: 73). Im Anschluss an Michel Foucault (1999) lässt sich die moderne Begräbniskultur als paradoxer Ausdruck einer gesellschaftlichen Marginalisierung des Todes im Zeichen einer biopolitischen Zentralstellung des Lebens verstehen: An die Stelle des für die frühe Neuzeit prägenden Spektakels des Todes – als Reich von Verdammung und Erlösung, Mystik und Erotik – tritt das Festhalten am Leben der Toten (vgl. Ariès 1989 [1980]). Fortan wird der Tod zu etwas höchst Privatem, der tote Körper zum Tabu (vgl. Alsheh 2015). Zugleich wird das Recht gut zu sterben zum Merkmal menschlicher Würde. Aufbahrung und Leichentuch, Bestattung und Grabstätte, Trauer und Grabpflege bringen nun zum Ausdruck, dass Menschen über ihren Tod hinaus respektiert werden, die Hinterbliebenen ihrer gedenken, sich um ihre sterblichen Überreste gesorgt wird.
An dieser Verortung der Toten in Stadt und Gesellschaft knüpft die interdisziplinäre Diskussion um Deathscapes an, die nach einer ersten Konjunktur in den 1990er Jahren in den vergangenen zehn Jahren ein Revival erfuhr (siehe Heng 2021; House/Westendorp/Maddrell 2023; Hunter 2016; Maddrell/Sidaway 2010a). Avril Maddrell und James Sidaway (2010b: 4) definieren Deathscapes als „places associated with death and for the dead, and how these are imbued with meanings and associations“. Der Schwerpunkt der Diskussion liegt auf der Frage, wie Verbindungen zu den Verstorbenen aufrechterhalten werden (vgl. Heng 2021). So wird etwa untersucht, wie sich Trauern und Gedenken verräumlichen – sei es im Kontext von Friedhöfen und Gedenkstätten oder bei informellen Praktiken wie dem Verstreuen der Asche.
Doch nicht immer existieren Verbindungen zwischen Lebenden und Verstorbenen; nicht immer entstehen Deathscapes als Orte, die in sorgender Weise für die Toten geschaffen werden. Wurde das Sterben mittels öffentlicher Friedhöfe und Praktiken des Gedenkens einerseits in die Gesellschaft eingefasst, so vervielfältigten sich in der globalen Moderne[1] zugleich andere Verräumlichungen des Todes. Beispielsweise ging die Säkularisierung des Begräbnisses auch mit einer Tendenz zu dessen Industrialisierung einher. Die Leichname arbeitender und rassifizierter Bevölkerungsgruppen wurden in großem Stil einer Feuerbestattung zugeführt und die Friedhöfe dieser Gruppen an die Ränder von Städten gelegt (vgl. Ariès 1989 [1980]: 409 f.; Fischer 2015). Dies verweist auf Ausschlüsse von biopolitischen Sorgeverhältnissen auch nach dem Tod. Noch weitergehend können mit Foucault (1999) rassistische Genozide – die Tötung der Anderen im Namen der eigenen Bevölkerung – als konstitutives Außen der modernen Biopolitik verstanden werden. Damit werden anonyme Beerdigungen und Massengräber ebenso zum Ausdruck der modernen Nekropole wie der städtische Friedhof. Inzwischen widmet sich eine facettenreiche Diskussion dieser nekropolitischen Seite des modernen Lebens und Sterbens. Um die nekropolitische Seite der Stadt der Toten soll es im Folgenden gehen.
Im Januar 1996 treten bei Renovierungsarbeiten in einem Hinterhof in Rio de Janeiros Hafenviertel Gamboa im Boden plötzlich zahlreiche Knochen und Gebeine zum Vorschein. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Teile des Cemitério dos Pretos Novos („Friedhof der neuen Schwarzen“) – des größten Massengrabs, das im Kontext des transatlantischen Sklavenhandels entstanden ist. Zwischen 1770 und 1830 wurden auf einer Fläche von der Größe eines Fußballfeldes nach Schätzungen zwischen 20.000 und 30.000 Körpern abgelegt und – wenn überhaupt – nur notdürftig beerdigt. Größtenteils handelte es sich um die Körper von Menschen, die am nahe gelegenen Valongo-Kai angekommen waren, dem damals weltweit größten Ankunftsort versklavter Menschen. Sie waren an den Folgen der qualvollen Mittelpassage verstorben, noch ohne die Möglichkeit, über ihr Verkauft-Werden als Sklaven innerhalb der kolonialen Ordnung eine Bestattung zu erhalten (Pereira 2007). In seinem Reisebericht von 1814/1815 beschrieb der Frankfurter Naturkundler Georg Wilhelm Freyreiss diesen Ort so:
„In der Mitte des Raumes war ein Erdhaufen, aus welchem hier und da die Reste der Toden heraussahen, von denen Regen die leicht bedekkende Erde abgewaschen hatte. Noch lagen mehrere da, die wahrscheinlich schon lange musten hierher gebracht worden sein. Nackend waren die in eine Matte gewickelt, die am Halse und den Füssen festgebunden war. Wahrscheinlich beerdiget man nur alle Woche einmal und die hergebrachten Toden denn schon grösstentheils in Verwesung übergegangen, so ist der Gestank zuweilen fürchterlich.“
(Freyreiss 1968: 95 f.; Interpunktion geändert)
Die Körper dieser Verstorbenen wurden behandelt „als wären sie wilde Tiere“, wie Sebastião Monteiro da Vide, der Erzbischof von Bahia, es bereits im frühen 18. Jahrhundert bezogen auf ähnliche Orte im Nordosten des Landes bemerkte (zitiert nach Pereira 2007: v; Übers. d. A.; vgl. auch Karasch 1987).
Fast forward. Im Dezember 2020 werden in einer Bauschutthalde von Pereira, in der südlichen Peripherie São Paulos, die sterblichen Überreste dreier Menschen geborgen. Zwei der Schädel weisen Verletzungen durch Kugeln oder Macheten auf. Einem Medienbericht zufolge werden bis Ende des darauffolgenden Jahres auf einem Zehntel der elf Hektar großen Fläche 24 weitere Leichname entdeckt – jeweils nur bis zu einem Meter tief vergraben (vgl. Rossi/Dacau/Guimarães 2022). Nur fünf Leichname konnten zum Zeitpunkt des Berichts identifiziert werden. Einer von ihnen ist der Leichnam von Daniel Gois, eines 31-jährigen schwarzen Zubehörhändlers. Allem Anschein nach wurde er zusammen mit einem guten Freund, dem 30-jährigen Darcio de Souza, von São Paulos größter Drogenhandelsorganisation exekutiert, dem Primeiro Comando da Capital (PCC). Daniel Gois’ Familie hatte ihn bereits im März 2018 als vermisst gemeldet, die Behörden hatten jedoch keine Ermittlungen eingeleitet.
Diese Fälle fügen sich ein in das in Lateinamerika vielerorts verbreitete Phänomen des gewaltsamen „Verschwindenlassens“ von Menschen, das Angehörige und Menschenrechtsakteure bereits zur Zeit der Diktaturen der 1970er und 1980er Jahre thematisierten. Damals wie heute sind neben Oppositionellen vor allem arme, peripherisierte, schwarze und indigene Bevölkerungsgruppen zuvorderst von dieser Gewalt betroffen (Denyer Willis 2022; Wright 2017). Hintergrund sind meist territoriale Konflikte zwischen bewaffneten Akteuren (einschließlich staatlichen) vor dem Hintergrund legalen wie illegalen Handels oder extraktivistischer Landnahme.
Sowohl die Massengräber für Versklavte als auch die heutigen Orte des Verschwindenlassens stehen exemplarisch für vielfältige Weisen, auf die Menschen von modernen oder tradierten Arten des guten Sterbens und der würdevollen Bestattung ausgeschlossen werden. Stattdessen werden sie einem „schlechten Sterben“ preisgegeben, wie es Cláudia Rodrigues (1997) im Anschluss an Ariès formuliert. Wie die Autorin bemerkt, war für weite Teile der versklavten wie freien afrodiasporischen Bevölkerung Rio de Janeiros die Vorstellung, nach dem Tod auf einem Ort wie dem Cemitério dos Pretos Novos abgelegt zu werden, hochgradig schreckenerregend. Besonders, wenn Bezüge zu Yoruba- und Bantukosmologien existierten, kam das einsame Abgelegt-Werden ohne spirituelle Begleitung einer Entkopplung vom Reich der Ahnen gleich.[2] Auch heute erleben viele Hinterbliebene von Verschwundengelassenen es als eine Form des Terrors, wenn sie ihren Angehörigen kein würdevolles Begräbnis ermöglichen können und die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden (vgl. Denyer Willis 2022; Smith 2016a).
Wenn bestimmte Gruppen systematisch einem schlechten Sterben ausgesetzt werden, während hegemonialen Gruppen ein gutes Sterben ermöglicht wird, kann dies im Anschluss an die Arbeiten Foucaults (1999), Achille Mbembes (2003) und anderer als Ausdruck einer Nekropolitik verstanden werden, also einer Regierungsform, die das Leben der einen fördert, während sie andere im Rahmen intersektional rassifizierter Machtformationen dem Tod ausliefert. Und wie der Ausschluss vom guten Sterben zeigt, reicht die Nekropolitik sogar über den Tod hinaus (vgl. Denyer Willis 2022; Robben 2015; Zengin 2022).
Räumlich wurde Nekropolitik bereits verschiedentlich über Konzepte wie thanato-geographies (Griffiths 2022), necrolandscaping (Casid 2018), necrosettlements (Jha 2023) oder necroburbia (Ortega 2020) thematisiert. Für die aktuelle Ausgabe der s u b \ u r b a n ist zur Beschreibung verräumlichter Nekropolitik besonders die Verwendung des Begriffs Nekropole interessant. Dieser bezeichnet ursprünglich Bestattungsplätze in der Nähe prähistorischer Siedlungen. Ebenso wie Deathscapes wurden Nekropolen meist im Hinblick auf Verbindungen zwischen Lebenden und Toten untersucht. Inzwischen bestimmen ihn aber beispielsweise Michael McIntyre und Heidi J. Nast als „Raum der Negation und der gesellschaftlich Toten, hervorgebracht durch Enteignungen und Entfremdungen innerhalb wie außerhalb europäischer Nationalstaaten“ (2011: 1467; Übers. d. A.; vgl. Alves 2014).
Weiten wir dieses Verständnis auf die Negation nach dem tatsächlichen Tod aus, so haben wir es mit einer „anderen Nekropole“ zu tun, die gerade nicht über Verbindungen zwischen Lebenden und Toten entsteht. Diese andere Nekropole, die nekropolitische Deathscape, entsteht dort, wo die Körper von Verstorbenen im Rahmen gesellschaftlicher Machtformationen unzeremoniell und anonym in Massengräbern abgelegt, liegen gelassen, zerstückelt oder zerstört werden, wo sie den Kräften von Erde, Wasser und nicht-menschlichem Leben anheimgestellt werden. Dies kann Kontexte von Versklavung und Entrechtung ebenso betreffen wie bewaffnete Konflikte, Grenzregime, Kriegsverbrechen oder Genozide.
Aber auch das ungleich verteilte einsame Sterben, das in spätkapitalistischen Gesellschaften verbreitet ist (vgl. Loke 2023), trägt Züge dieser anderen Nekropole. Ebenso können Begräbnisse Namenloser (vgl. etwa Fischer 2014; Hasse 2016) mit Blick auf ihre den Tod überdauernde Nekropolitik untersucht werden. Ein anschauliches Beispiel liefert Aslı Zengins Forschung zu den sogenannten Friedhöfen der kimsesiz in der Türkei. So werden dort diejenigen bezeichnet, die „der intimen und affektiven Bindungen, der sozialen Bindungen und der Gemeinschaft beraubt“ sind (Zengin 2022: 166; Übers. d. A.). Es handelt sich um Fälle, in denen die Toten von ihrer Verbindung mit den Lebenden entkoppelt werden: Sie erhalten keine würdige Bestattung, keinen Ort der Trauer oder des Gedenkens – kein Ruhen in Frieden.
Richten wir den Blick also auf die andere, die nekropolitische Nekropole, so stellen sich die analytischen Fragen, wer ihr überlassen wird, wie sie der Etablierung von Machtverhältnissen dient und wie sie sich verräumlicht. Verschiedene Diskussionsstränge haben Beiträge zur Beantwortung dieser Fragen geleistet und damit Forschungsperspektiven auf nekropolitische Deathscapes eröffnet. Besonders aufschlussreich sind Auseinandersetzungen mit Massengräbern und dem gewaltsamen Verschwindenlassen von Menschen. Wie ich im Folgenden umreißen möchte, ist ein wiederkehrendes Motiv die Verbreitung von Terror durch einen entwürdigenden Umgang mit toten Körpern und – damit verbunden – das Sabotieren sozialer und politischer Vergemeinschaftung.
Beschäftigungen mit Genoziden und staatlichem Terror haben sich ebenso wie Arbeiten zu lokalen Gewaltakteure mit der Vernichtung von Körpern und deren Verschwindenlassen in klandestinen Gräbern und Gewässern beschäftigt. Wie sie zeigen, kann der entwürdigende Umgang mit Toten, der oft mit einem Unsichtbarmachen der Täter einhergeht, eine Atmosphäre des Terrors erzeugen, der Formen sozialer Vergemeinschaftung und politischer Öffentlichkeit verunmöglicht (vgl. etwa Bargu 2014; Ferrándiz 2015). In meiner Forschung in der Metropolregion Rio de Janeiro gehe ich der Frage nach, wie Praktiken des gewaltsamen Verschwindenlassens – meist junger schwarzer Männer – unheimliche Deathscapes entstehen lassen, in denen die lokale Bevölkerung im Alltag unvermittelt mit Leichen und sterblichen Überresten konfrontiert wird. Gerade dort, wo Menschen selbst von Gewaltverhältnissen betroffen sind – hier vor allem ärmere, schwarze und queere Menschen – erfahren sie diese Landschaften als zeitlich und räumlich schwer eingrenzbare terrorscapes.[3] Subalterne Beziehungsweisen können dort nur mit großen Risiken und Unwägbarkeiten aufgebaut werden (Hutta i. E.).
Hieran knüpfen Forschungen zu Grenzregimes an, die sich mit dem Töten und Sterbenlassen von Menschen entlang der Migrationsrouten in die Staaten des Nordatlantiks beschäftigen. So zeigt Jason de Leóns (2015) Forschung zum Grenzgebiet zwischen Mexiko und den USA, wie Menschen eine Gegend durchkreuzen, in der andere Menschen nach dem Verdursten einfach liegen gelassen wurden. Dieses Sterben ist allgemein bekannt, wird aber zugleich beständig unsichtbar gemacht. So entsteht, wie de León zeigt, ein „Land der offenen Gräber“, das einer makabren Politik der Abschreckung durch Terror den Weg bereitet und auf diese Weise exklusive Formate der Nationalstaatlichkeit sichern soll. Estela Schindel (2022) und Philipp Themann (i. E.) zeigen wiederum für den Kontext der EU-Außengrenzen, dass derartige Grenzregime auch auf die zersetzenden Kräfte von Wasser, Erde und Lebewesen zielen. So werden Identitäten ausgelöscht und Spuren der Verantwortlichkeit verwischt.
Doch nicht nur das Verschwindenlassen, auch die Zurschaustellung verstümmelter Körper und die narrative Repräsentation von Gewalt verbreiten Terror (vgl. Huffschmid 2019; Taussig 1984). So untersuchte María Victoria Uribe (2004), wie während der als „La Violencia“ („Die Gewalt“) bezeichneten Zeit starker Polarisierung der 1950er Jahre in Kolumbien Killer bei Massakern die Leichen ihrer Opfer systematisch zerschnitten und manipulierten. Durch die Ausstellung entmenschlichter Körper an öffentlichen Orten terrorisierten sie kleinbäuerliche Bevölkerungsgruppen und trieben Reterritorialisierungen von Besitz- und Eigentumsverhältnissen voran. Uribes Forschung weist auch Bezüge zu Arbeiten zu Polizeigewalt in brasilianischen Städten auf. So zeigen Jaime Amparo Alves (2014) und Christen Smith (2016b) die machtvollen Effekte auf, die sich entfalten, wenn polizeilich getötete schwarze Menschen an öffentlichen Plätzen liegen gelassen werden oder ihr unwürdiger Tod als makabres Spektakel medial inszeniert wird (vgl. Hutta 2022). Indem ein entwürdigender Umgang mit schwarzen Körpern vor Ort und repräsentational normalisiert wird, werden schwarze Communitys terrorisiert.
Diese Arbeiten zeigen also, wie nekropolitische Deathscapes durch die Verbreitung von Terror die Bedingungen subalterner und auf Vielfalt gründender Vergemeinschaftung angreifen. Während klassische Beschäftigungen mit Deathscapes eher der Frage nachgehen, welche Bedeutung Orte der Bestattung für die Konstituierung von Gemeinschaft haben, verweisen diese Deathscapes vielmehr auf Prozesse einer nekropolitischer Spaltung des Sozialen. Dabei arbeiten sie heraus, wie diese nekropolitischen Spaltungen der Etablierung von Hegemonie dienen. Beispielsweise argumentiert Alves (2018), dass Polizeiterror in brasilianischen Peripherien schwarzes städtisches Leben sabotiert und zugleich einer normativ weißen Polis den Weg bereitet.
Nekropolitische Deathscapes sind jedoch nicht nur Ausdruck und Mittel gesellschaftlicher Hegemonien, sie können auch zu bedeutsamen Feldern politischer Kämpfe werden. In diesen geht es um ein Recht auf Erinnerung und Gedenken, aber auch um grundlegendere Fragen rund um den Umgang mit Körpern, die Übernahme von Verantwortung und die Bedingungen gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Francisco Ferrándiz (2015) widmet sich beispielsweise den jüngeren Exhumierungen von Opfern des Spanischen Bürgerkriegs, die zivilgesellschaftliche Akteure seit Anfang dieses Jahrhunderts vorantreiben. Unter der Herrschaft Francos wurden nur Opfer aufseiten der nationalistischen Bewegung exhumiert und in Gedenkstätten heroisiert. In den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten hat sich jedoch der Einsatz für ein Gedenken an die republikanischen Verstorbenen vervielfältigt. Dieser Einsatz für ein anderes Gedenken entwickelte sich zu einem Ankerpunkt für die Aufarbeitung der Diktatur und die Kritik an deren Kontinuitäten in der gegenwärtigen spanischen Gesellschaft. Allerdings besteht, wie Ferrándiz zeigt, keine Einigkeit darüber, wie ein angemessenes Gedenken zu gestalten sei. Sollten sterbliche Überreste beispielsweise in neue Grabstätten überführt werden oder sollte die Erfahrung des Terrors vielmehr durch lokale Aktionen vor Ort präsent gehalten werden, zumindest solange es keine angemessene staatliche Aufarbeitung gibt?
Ähnliches gilt für die Massengräber von Opfern lateinamerikanischer Militärdiktaturen oder die im Koreakrieg von 1950 bis 1953 gestorbenen südkoreanischen Kommunist_innen. Antonius Robben (2015) zeigt im Vergleich zwischen Argentinien und Chile die Reibungen zwischen selektiven Prozessen staatlicher Aufarbeitung einerseits und aktivistischen Forderungen und Gedenkpraktiken andererseits (zu Korea siehe Kwon 2015). Aber auch dort, wo Menschen heute Verschwundengelassene suchen oder bereits gefunden haben, müssen sie oft hart um eine Strafverfolgung der Täter_innen und um ein würdiges Gedenken kämpfen. So lassen staatliche Institutionen die Angehörigen von Verschwundenen in den Peripherien lateinamerikanischer Städte regelmäßig im Ungewissen über Tatbestände und verweisen sie von einer Behörde an die nächste (Napolião/Castro 2022; Wright 2017).
In der Gegend des Cemitério dos Pretos Novos in Rio organisieren afrobrasilianische Communitys inzwischen kulturelle und spirituelle Treffen, um sich diesen Ort des Terrors im Herzen der ehemaligen Kolonialhauptstadt neu anzueignen. Doch auch dabei sehen sie sich immer wieder mit Widerständen konfrontiert, wie die Bemerkung eines Passanten deutlich macht. „Viele wollen, dass das hier wieder tief vergraben wird“, bemerkt der weiße Mann mittleren Alters, als er an einer am Valongo-Kai mit dem Gedenken beschäftigten Gruppe vorbeigeht (zitiert nach Lima 2020: 325; Übers. d. A.). Es ist, als fühlten sich Menschen wie er in Rio von den Geistern der Vergangenheit verfolgt, als wünschten sie, dass diese Geister in die Flasche zurückkehrten, anstatt die Stadtöffentlichkeit aufzumischen. Doch die Geister der anderen Nekropolen können nicht mehr eingefangen werden. Die Massengräber der Opfer der Kolonialzeit sind ebenso ruhelos wie des Spanischen Bürgerkriegs und des gewaltsamen Verschwindenlassens in städtischen Peripherien.
Die Kämpfe um Gerechtigkeit und einen würdigen Umgang mit den Verstorbenen dringen auf eine Neuausrichtung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Deathscapes. Wie Anne Huffschmid (2022) im mexikanischen Kontext herausarbeitet, treten inmitten des mühsamen Suchens und Identifizierens der Körpern und Knochen von Verschwundenen Praktiken des Erinnerns und Gedenkens in den Hintergrund. Angesichts permanenter Angriffe auf subalterne Beziehungsweisen geht es hier grundlegender um die Herstellung neuer Bezüge und Verbindungen zu den Toten und ihren Körpern (vgl. Canham 2023; Denyer Willis 2022). In räumlicher Hinsicht bedeutet dies nicht selten, auch Bezüge zu terror-scapesdes entwürdigenden Todes herzustellen (vgl. Hutta i. E.). Eine bedeutsame Rolle spielt dabei die Wiederaneignung und affektive Neubesetzung traumatischer Orte, die Rachel Pain (2021) als „repossession“ bezeichnet.
An diesem Punkt können Arbeiten zu städtischen Gewaltverhältnissen, Erinnerungsorten und sozialen Bewegungen ebenso anknüpfen wie Forschungen zu sogenannten „Urbiziden“ – der gezielten Zerstörung städtischer Gebäude und Infrastrukturen im Kontext bewaffneter Konflikte und Kriege. So sieht Martin Coward (2009) den Grund dafür, dass Kirchen, Museen oder öffentliche Gebäude immer wieder zur Zielscheibe von Bombardements werden, in dem Ziel, die Bedingungen öffentlichen Lebens, gelebter Vielfalt und politischer Vergemeinschaftung zu zerstören.[4] Was bedeutet es also, neue Verbindungen des Sozialen in Städten herzustellen, die durch Urbizid geprägt sind (vgl. Laketa 2016, 2018)?
Auch die Materialitäten der anderen Nekropole gilt es näher in den Blick zu nehmen. Nicht selten sind es Knochen und Gebeine, die nekropolitischen Deathscapes Sichtbarkeit verschaffen, wie das Beispiel der zufälligen Entdeckung des Cemitério dos Pretos Novos zeigt. Hier knüpfen Arbeiten der forensischen Anthropologie und Archäologie an (vgl. etwa Crossland 2009; Hagerty 2023). Für einen ländlichen Kontext liefert die Medienwissenschaftlerin Henriette Gunkel (2023) in ihrer Beschäftigung mit dem Genozid an den Ovaherero und Nama unter deutscher Kolonialherrschaft im heutigen Namibia ein eindrückliches Beispiel. Gehen Partikel verschütteter Gebeine einerseits nach und nach in den Sand ein, so lässt die Saltation – der sprungweise Windtransport von Sandkörnern – sie immer wieder unwillkürlich an die Erdoberfläche treten. Die Bewegung des Sandes wirkt hier gewissermaßen dem Pakt entgegen, den die Nekropolitik mit ökologischen Kräften des Verschwindens eingeht, wenn sie auf die Zersetzung von Körpern durch Wasser, Wind und Erde, Flora und Fauna setzt. So wird die Wüste sprichwörtlich zum Medium widerständiger Vibrationen (vgl. Casid 2018). Durch diese Vibrationen werden die Körper der Getöteten, Liegengelassenen und in Massengräbern verscharrten auf neue Weise wahrnehmbar und zum Ausgangspunkt vielfältiger künstlerischer und aktivistischer Beschäftigungen mit dem Genozid.
In städtischen Kontexten könnte daran anschließend etwa nach den Metabolismen von Sand und Zement[5] oder von Fluss- und Trinkwasser gefragt werden. Die Brisanz von Wassermetabolismen zeigt das Beispiel Rio de Janeiros. Hier wird die Wasserversorgung hauptsächlich über den Fluss Guandu im nördlichen Teil der Metropolregion sichergestellt. Dieser gilt aber zugleich als einer der größten „klandestinen Friedhöfe“ des Kontinents (Hutta i. E.).
Schließlich wäre dem im Kontext neoliberaler Stadtpolitik immer wieder in Erscheinung tretenden Spannungsfeld zwischen terrorscape und leisurescape (vgl. Naef 2014) nachzugehen. So wurde im Anschluss an die zufällige Entdeckung des Cemitério dos Pretos Novos die selektive Sichtbarmachung des alten Hafenareals kritisiert, die sich im Rahmen einer auf Tourismus und Investitionen orientierten Umstrukturierung des Viertels vollzog (vgl. Diniz 2013). Gerade in der kritischen Stadtforschung gilt es, derartige Gesten einer machtvollen Vereinnahmung der anderen Nekropole zu hinterfragen.
Gegenüber machtvollen Strategien der Auslöschung und Vereinnahmung sollten wir aber vor allem subalterne Verbindungs- und Beziehungsweisen zentrieren, die im Angesicht nekropolitischer Deathscapes immer wieder aufs Neue erschaffen werden. Ein Spruch der Zapatistas bringt dieses Wechselverhältnis zwischen Deathscape und neuen Verbindungen auf den Punkt: „Sie wollten uns beerdigen, aber sie wussten nicht, dass wir Samen sind!“[6] Es wird Zeit, dass auch die kritische Stadtforschung den Verbindungen der anderen Nekropolis Rechnung trägt. Schließlich geht es um die Bedingungen unseres kollektiven Zusammenlebens.