sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2024, 12(2/3), 253-260

doi.org/10.36900/suburban.v12i2/3.1008

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Paradigma des Pluralen?

Rezension zu Ignacio Farías / Martina Löw / Thomas Schmidt-Lux / Silke Steets (2023): Kultursoziologische Stadtforschung. Grundlagen, Analysen, Perspektiven. Frankfurt am Main/New York: Campus.

Stefan Höhne

Abb. 1 Kultursoziologische Stadtforschung (Quelle: campus)
Abb. 1 Kultursoziologische Stadtforschung (Quelle: campus)

Der Start einer neuen Buchreihe kommt in der deutschsprachigen Stadtforschung nicht alle Tage vor. Mit der im Campus-Verlag aufgelegten Reihe Kultursoziologische Stadtforschung haben sich die Herausgeber:innen Ignacio Farías, Sybille Frank, Martina Löw, Lars Meier, Thomas Schmidt-Lux und Silke Steets nun dieser Herausforderung angenommen. Ihr selbstformulierter Anspruch ist es, mit der Reihe, „städtische Konflikte und soziale Ungleichheiten, symbolisch-materielle Prozesse der Herstellung und Aneignung urbaner Räume sowie die Formierung von Städten als Kulturfiguren“ zu untersuchen (Campus-Verlag o. J.). Hierfür sollen insbesondere die Sinn-, Praxis- und Affektrelationen daraufhin in den Blick genommen werden, wie sie sowohl das Städtische als auch die Stadt formieren. Dabei betonen die Herausgeber:innen, dass die titelgebende kultursoziologische Perspektive nicht primär disziplinär zu verstehen sei. Vielmehr soll neben der Soziologie auch ein breites Spektrum an Methoden und Konzepten aus Ethnologie, Anthropologie, Kulturwissenschaften und Geographie für die Analyse fruchtbar gemacht werden. Dass es tatsächlich gelungen ist, diesen ambitionierten Anspruch einzulösen, bezeugt die konzeptionelle und methodische Vielfalt der bislang in der Reihe erschienenen empirischen Studien. Sie widmen sich der Aufarbeitung des kolonialen Erbes in Hamburg (Krajewsky 2023), dem Einfluss des Kreuzfahrttourismus auf Dubrovnik (Baumann 2024) sowie der ethnographischen Erforschung städtischer Gesundheitspolitiken in Berlin (Bieler 2024). Im Folgenden soll der Fokus jedoch auf dem ersten Band liegen. Verfasst von vier der Reihen-Herausgeber:innen trägt er den Titel der Reihe und fungiert als Einführung in ihre grundlegenden Perspektiven, Themen und Konzepte. Das Buch gliedert sich in eine Einleitung und sieben Kapitel, die sich jeweils detailliert einem städtischen Phänomen oder einer Analysekategorie widmen – von Wohnungsmärkten über Klasse und queering, Postkolonalismus und Säkularitäten bis zu Digitalisierung und urbanen Ökologien. Angesichts dieser eklektischen Mischung von Analysekategorien und Forschungsfeldern könnte man kritisch anmerken, dass der Band für den Anspruch, die Grundlagen des Forschungsfeldes zu formulieren, erstaunlich selektiv vorgeht. So lässt er etwa zahlreiche zentrale Themen und Autor:innen der Stadtforschung außen vor. Beispielsweise bleiben die Theorien, Debatten und Initiativen um das Recht auf Stadt vollständig unerwähnt. Auch sprechen die Herausgeber:innen Dynamiken der Kulturalisierung urbaner Räume kaum an, obwohl dies gerade für eine sich als kultursoziologisch verstehende Stadtforschung naheliegend und ertragreich gewesen wäre. Ebenso mag überraschen, dass weder die Schriften David Harveys aus den vergangenen 35 Jahren noch die durchaus kultursoziologisch lesbaren Arbeiten von Dolores Hayden oder Mike Davis Erwähnung finden. Allerdings zielt der Band nicht darauf ab, als umfassendes Kompendium des interdisziplinären Forschungsfeldes zu fungieren. Dass sich die einzelnen Kapitel stattdessen auf die jeweiligen Forschungsfelder und -projekte des Autor:innenkollektivs konzentrieren, ist nachvollziehbar und führt zu wirklich kenntnisreichen und anregenden Texten.

1. Ein neues Paradigma kultursoziologischer Stadtforschung?

So obliegt es vor allem der Einleitung des Buches, den verbindenden Charakter der heterogenen Themenfelder herauszustellen und die gemeinsame Forschungsperspektive darzulegen. Dabei drängt sich gerade bei einem solchen reihenbegründenden Buch zuallererst die Frage auf, ob hier eigentlich ein neues Forschungsparadigma ausgerufen wird. Wird eine neue oder zumindest eine alternative Programmatik postuliert, die es mit ihrer dezidiert kultursoziologischen Fokussierung vermag, städtische Phänomene auf neue Weise in den Blick zunehmen? Sollte dies der Fall sein, gilt es zu fragen, gegen welche bestehenden Paradigmen sich ein solches Programm wendet, die es als unzulänglich oder reduktionistisch zurückweist und zu überwinden versucht.

Hier fällt die Antwort eher uneindeutig aus. Zwar gehen die Autor:innen immer wieder auf Distanz zu älteren Ansätzen der Stadtforschung, denen sie – größtenteils zu Recht – einen zu starken Fokus auf (De-)Industrialisierungsprozesse, eine bestenfalls zögerliche Rezeption postkolonialer Ansätze oder eine weitgehende Ignoranz soziotechnischer Materialitäten attestieren. Ihr Ansatz zielt dagegen auf die „systematische Berücksichtigung des Räumlich-Materiellen“ (Farías et al. 2023: 10). Ebenso plädieren sie in Abgrenzung zu ökonomistisch-strukturalistisch fokussierten Ansätzen dafür, städtische Phänomene wie beispielsweise Wohnungsmärkte weniger als wirtschaftliche Verhältnisse denn als kulturelle Praktiken in den Blick zu nehmen.

Allerdings finden sich solche Distanzierungsgesten im Buch eher vereinzelt. Sie zielen überwiegend auf die Identifikation und Bearbeitung blinder Flecken in der Stadtforschung. Insgesamt ist das Buch keine Streitschrift oder kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Paradigmen. Ebenso wenig geht es ihm darum, eine zwar einstmals produktive, aber mittlerweile arg abgestandene Debatte zwischen kritischer und vermeintlich nicht-kritischer Stadtforschung aufzuwärmen (Frank et al. 2013; Kemper/Vogelpohl 2011), auch wenn die Autor:innen gleich eingangs betonen, sie „kennen den Impuls mancher Leser*innen, in einer kultursoziologischen Perspektive sofort die Entpolitisierung und den Kritikverlust der Forschung zu wittern“ (Farías et al. 2023: 8).

Das Buch ist weniger von einem Wunsch nach Abgrenzung getragen als vom Bestreben nach einer Einbeziehung möglichst vielfältigster Perspektiven und Methoden. Dieses emphatisch formulierte „integrative Programm“ (ebd.: 8) bekundet sich unter anderem in der Inklusion einer ganzen Bandbreite von Ansätzen – von mehr-als-menschlichen Ökologien bis hin zu postkolonialen oder queeren Konzepten. Dass diese auch für die Stadtforschung ungemein bereichernd sind, demonstrieren auch die thematischen Kapitel immer wieder überzeugend. Wenn es also eine Programmatik gibt, liegt sie genau in dieser Integration multipler Perspektiven. Diese ist ebenso überzeugend wie das Plädoyer für eine neugierige und partizipative empirische Forschung, die auch unkonventionelle Wege geht.

Die hier vorgeschlagene Forschungsprogrammatik zielt darauf ab, Stadt als Produkt sozio-materieller Praktiken zu verstehen. Dies soll dies durch die Analyse pluraler „Raumanordnungen“ (ebd.: 12) des Städtischen erfolgen, die – so die grundlegende These – sich in sogenannten Kulturfiguren verdichten, in der die Städte Gestalt annehmen. Die Konzepte Multiplizität, Eigenlogik und Dichte sollen dabei die Grundlage für die Analysen dieser städtischen Figurationen bilden.

Was allerdings in den oft gekonnten Explikationen all dieser Konzepte und Begriffe unterbelichtet bleibt, ist ausgerechnet ein konzeptioneller Zugriff auf die Beziehungen zwischen Kultur und Raum beziehungsweise Stadt – obwohl dieser doch gerade bei einer sich als kultursoziologisch verstehenden Stadtforschung naheläge. Zwar betonen die Autor:innen, dass sie einen erweiterten Kulturbegriff zugrunde legen, der ausdrücklich auch Materialitäten, Infrastrukturen oder soziotechnische Assemblagen miteinbezieht. Wenn man aber einen solchen Kulturbegriff als erkenntnisleitend für die Forschung propagiert, drängen sich die Fragen auf, wie sich Kultur und Raum beziehungsweise Stadt denn zueinander verhalten, wie und von wem Kultur in welcher Weise verräumlicht wird und wie Raum auf Kultur zurückwirkt. Diesen Zusammenhang von städtischen Räumen und Kulturen stellen zwar unter anderem die Abschnitte zu Religion plastisch dar, er wird aber nicht weitergehend konzeptionell entwickelt oder analytisch produktiv gemacht. Das ist schade, denn es wäre interessant zu erfahren, wie sich Raum und Kultur theoretisch und methodisch produktiv verbinden lassen können, ohne auf so problematische Modelle wie Kulturkreise oder cultural boundaries zurückzugreifen. Dieses Desiderat einer relationalen Theoretisierung von Kultur und Raum lässt sich allerdings nicht nur für hier den vertretenen Ansatz konstatieren. Auch die postkoloniale, feministische oder kritisch-materialistische Stadtforschung ist bei diesen Fragen ebenso schmallippig.

2. Beschreiben statt erklären?

Außerdem hervorzuheben ist der selbst gewählte Anspruch der im Band vorgeschlagenen Forschungsprogrammatik. Dazu gehört das Bestreben, nicht mehr primär nach Ursachen oder Erklärungen für städtische Phänomene suchen zu wollen. Stattdessen gehe es um deren möglichst dichte und komplexe Beschreibung (ebd.: 26). Ausdrücklich betonen die Autor:innen den Wunsch, den gesamtgesellschaftlichen Anspruch der klassischen Stadttheorie zugunsten einer Analyse von Städten als Raumanordnungen und Kulturfiguren aufzugeben. Dabei verwehren sie sich auch gegen jegliche abstrahierende Verfahren, wie beispielsweise einer Typisierung von Städten.

In diesem Postulat einer Erneuerung der Stadtforschung durch die Aufgabe eines Erklärungsanspruchs zugunsten neuer deskriptiver Methoden lauern jedoch einige Fallstricke. So bleibt unreflektiert, welche erkenntnistheoretischen Folgen es hat, wenn man beispielsweise städtische Wohnungskämpfe nicht mehr in Referenz auf Erklärungsmodelle wie den rent gap beforschen möchte, sondern es allein darum geht, sie möglichst gekonnt zu beschreiben. Auch wird die Leser:in den Verdacht nicht los, dass die Autor:innen unter der Hand dann doch immer wieder erklärende Modelle bemühen, wenn sie beispielsweise auf Konzepte wie Kulturfigur, Eigenlogik oder Metabolismus zurückgreifen.

Dies berührt nicht zuletzt die Frage, was mit einem solchen kultursoziologischen Stadtforschungsprogramm eigentlich untersucht werden sollte. Was ist der epistemische Gegenstand des Erkenntnisinteresses und wie verhält er sich zum Gegenstand der empirischen Forschung? Dabei werden die Autor:innen nicht müde zu betonen, dass Städte alltäglich und ordinary seien, gleichzeitig aber auch einzigartig, vielfältig und komplex. Wenn Städte folglich als unverwechselbare, dynamische und multiple Assemblagen analysiert werden sollen, fungiert stets der Kollektivsingular der Stadt als Fluchtpunkt der Forschung. Dabei bildet die Stadt natürlich keine homogene Einheit, sondern ein multiples Gebilde, dessen eigenlogische Spezifik herausgearbeitet werden soll. Ausdrücklicher Anspruch ist die Verschiebung der Perspektive „von der Studie sozialer Formen und gesellschaftlicher Transformationen in der Stadt hin zur Studie der Stadt als Kulturfigur und Raumanordnung“ (ebd.: 18).

Das klingt interessant und vielversprechend, allerdings scheint mir das Verhältnis zwischen einer Beforschung städtischer Dynamiken und Konflikte und dem epistemischen Objekt der Stadt alles andere als geklärt zu sein. Geht es den Autor:innen darum, durch die Beforschung städtischer Phänomene zur Konturierung der epistemischen Kategorie der Stadt als Kollektivsingular zu gelangen? Oder ist es vielmehr umgekehrt so, dass sie in der Beschreibung urbaner Praktiken und Gefüge auf das spezifisch Städtische – zum Beispiel auf das spezifisch Dortmunderische – an ihnen verweisen möchten? Was bedeutet es aber, städtische Konflikte und soziale Ungleichheiten wie Wohnungsnot im Hinblick auf die spezifische Soziomaterialität, Eigenlogik und den Verdichtungsgrad einer Stadt wie Leipzig zu fokussieren, und zwar ausdrücklich nicht als Labor oder Arena weitreichenderer gesellschaftlicher Dynamiken wie etwa Finanzialisierung oder sozioökonomische Polarisierung?

Dabei wäre zu diskutieren, ob dieser Anspruch der kultursoziologischen Zentrierung auf die Stadt als Figuration in den einzelnen Kapiteln wirklich immer eingelöst wird beziehungsweise werden kann. So argumentiert beispielsweise das vierte Kapitel überzeugend für die „Relevanz postkolonialer Forschung in deutschen Städten“ (ebd.: 109; Hervorhebung d. A.) – aber eben nicht der Stadt. Und auch die sehr klugen Analysen zur Ökologisierung der Städte kommen gänzlich ohne Referenzen auf Modelle der Eigenlogik oder ähnliches aus. Das wirft die Frage auf, welchen erkenntnistheoretischen Ertrag der analytische Fluchtpunkt auf die Stadt als eigenlogische Raumanordnung oder Kulturfigur für eine kultursoziologische Beforschung urbaner Praktiken wirklich leistet. Braucht es wirklich immer die Referenz auf die Stadt, um eine dichte Beschreibung oder kritische Analyse des Wohnungsmarkts oder der kolonialen Raumordnungen beispielsweise in Berlin vornehmen zu können? Diese Frage wird besonders virulent angesichts des Anspruchs der Autor:innen, den erklärenden Anspruch dieses Konzepts zugunsten deskriptiver Verfahren hinter sich zu lassen.

Offen bleibt ebenso, wie sich eine Beforschung der Stadt als räumliches Arrangement beziehungsweise als Kulturfigur zu Ansätzen verhält, die kulturelle, soziale und ökonomische Urbanisierungsprozesse fokussieren. Urbanisierung, so kann man im siebten Kapitel lernen, wird in der aktuellen urban-politischen Ökologie als dynamischer Transformationsbegriff verstanden, der sowohl Natur als auch Bevölkerungen und Ressourcen erfasst. Urbanisierung wird zudem als Durchsetzung vor allem kapitalistischer Produktions- und Akkumulationsprozesse gefasst, die mit einem tiefgreifenden Wandel der Lebensverhältnisse und kulturellen Praktiken innerhalb und jenseits der Städte einhergeht.

Diese Perspektive, die in der internationalen Stadtforschung seit Längerem unter Labeln wie Planetary Urbanisation oder Extended Urbanisation verhandelt und produktiv kritisiert und erweitert wird (Brenner 2013; Ghosh/Meer 2021), betont weniger die figurative Dimension des Städtischen. Stattdessen adressiert sie Urbanisierung als dynamischen Verräumlichungsprozess, der auch jenseits der Städte wirksam wird und zum Teil bereits planetare Dimensionen erreicht hat. Leider verhält sich das Buch kaum zu diesen Provokationen und Debatten aus der internationalen Stadtforschung – und endet dennoch mit einer planetaren wie kritischen Perspektive. So argumentiert es auf den letzten Seiten überzeugend für ein Verständnis der „Stadt als kritische Zone des Anthropozäns“ und ruft zu einer „kritischen Beobachtung ihrer Transformationen und Krisen“ (ebd.: 206) auf.

Dass eine solche kultursoziologische Beobachtung lohnenswert ist und neue Perspektiven und methodische Zugänge wie auch kritische Debatten eröffnen kann, stellt das Buch eindrucksvoll unter Beweis. Auch für eine kritische Stadtforschung bietet es wichtige Impulse – sowohl für die Erweiterung ihres Analysefokus als auch für die Schärfung ihres Blickes. Das betrifft beispielsweise das Verhältnis zwischen lokalen kulturellen Praktiken und kapitalistischer Raumproduktion oder die Frage nach dem eigenen Forschungsanspruch zwischen systematischer Erklärung und dichter Beschreibung. Zudem finden interessierte Studierende ebenso wie erfahrene Forscher:innen in dem Band eine Fülle an Denkanstößen und inspirierenden Zugängen, wenn auch weniger eine abgeschlossene Heuristik. Mit dem paradigmatischen Anspruch der Einbindung möglichst pluraler Forschungszugänge und -methoden gelingt es den Autor:innen dennoch überzeugend, „ein vielgestaltiges Bild des zeitgenössischen Städtischen zu zeichnen“ (ebd.: 8). Auch das Anliegen des Bandes und der Reihe, „Lust auf Stadtforschung“ (ebd.) zu machen, wird zweifelsohne eingelöst.