sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung 2025, 13(1), 201-214

doi.org/10.36900/suburban.v13i1.1012

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Polylog: Sorgende Stadt zwischen Utopie und Strategie

Jojo Fabricius, Angelika Gabauer, Susanne Hübl, Inga Lamprecht, Hannah Müller, Rivka Saltiel

Dass eine Neuorganisation von Sorgearbeit notwendig ist, drängt sich angesichts der augenscheinlichen Symptome urbaner Sorgekrisen – zuletzt katalysiert durch die Corona- und Energiekrise – zunehmend auf. Auch in der feministischen Geographie wird die Notwendigkeit care-zentrierter Perspektiven auf Stadt zunehmend lauter. Daran schließt die Forderung nach einer grundlegenden, an den Bedürfnissen der Stadtbewohner*innen orientierten Neuordnung des Städtischen an. Wie und wo eine „sorgende Urbanisierung“ unter den gegebenen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ausgestaltet werden kann und welche Infrastrukturen dabei genutzt, angeeignet, etabliert und demokratisiert werden können, bleibt jedoch oftmals noch vage (siehe ausführlicher Hübl 2024). Vor diesem Hintergrund geht der folgende Text der Frage nach, wie sich Städte sorgend gestalten lassen, und diskutiert verschiedene konzeptionelle Ansätze und konkrete Beispiele.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte und überarbeitete Version der Podiumsdiskussion „Sorgende Städte als Wegbereiter urbaner Sorge­transformationen!?“, die während der Tagung Neue Kulturgeographie in Münster 2024 stattfand. In verdichteter Form zeichnet der Text das mehrstimmige Gespräch – Polylog – zwischen sechs Personen aus der feministischen (Stadt-)Geographie sowie aus stadtpolitischen Initiativen nach.

Moderation und Konzeption: Susanne Hübl (Universität Münster)

Diskutant*innen: Jojo Fabricius (queer-feministisches gazometer-Kollektiv Münster); Angelika Gabauer (Universität Jena und Technische Universität Wien); Inga Lamprecht (Initiative „Sorge ins Parkcenter Berlin“); Hannah Müller (Kollektiv Raumstation Berlin mit dem Projekt „Sorgender Kiez Leopoldplatz“); Rivka Saltiel (Universität Graz)

Susanne: Die Krisenhaftigkeit sozialer Reproduktion etabliert sich zunehmend vom Ausnahme- zum Normalzustand. Seien es so augenscheinliche Missstände wie der Pflegenotstand in Krankenhäusern und zu wenige Kitaplätze, aber auch fehlende Beratungsangebote für queere Menschen, prekäre Arbeitsverhältnisse von Essenslieferant*innen und anderen Plattformarbeiter*innen oder die oftmals stigmatisierende Versorgung von wohnungslosen oder drogenkonsumierenden Menschen in der Stadt. Sowohl die feministische als auch die kritische Stadtgeographie und Stadtsoziologie sowie angrenzende Disziplinen, die einen care-zentrierten Fokus haben, widmen sich der Frage, wie diese immer perfider werdenden Facetten der Sorgekrise zum Ausdruck kommen (Power/Williams 2020; Gabauer et al. 2022a). Was diese Arbeiten immer auch betonen, ist, dass es Antworten auf die Krisenhaftigkeit braucht, die Symptome nicht nur bekämpfen, sondern Ideen entwickeln, wie eine umfassende Transformation urbaner Sorgeverhältnisse (Saltiel/Strüver 2022) auf den Weg gebracht werden kann. Diverse städtische Initiativen arbeiten unter dem Begriff der Sorgenden Stadt aktuell an genau solchen Ideen. Bevor wir nun zu konkreten Projekten kommen, zunächst die Frage an dich, Angelika: Was ist mit Sorge als Begriff eigentlich gemeint?

Angelika: Die Idee der Sorgenden Stadt beziehungsweise caring city hat einen stark aktivistischen Ursprung. Gleichzeitig sehen wir auch immer mehr Forschungen, die sich mit dem Konzept der Sorgenden Stadt auseinandersetzen. Der Sorgebegriff, vielfach wird auch der englische Ausdruck care verwendet, hat eine sehr lange feministische Tradition. Dabei können wir zwischen verschiedenen Strängen unterscheiden, die dem Care-Begriff spezifische, wenn auch stark miteinander verbundene Bedeutungen einschreiben (Aulenbacher 2020): Erstens verweist Care auf eine ethische Praxis. Die Fürsorgeethik, die sich innerhalb der Moralphilosophie vor allem im angloamerikanischen Raum entwickelt hat, ist eine feministische Kritik an der Moderne und der Vorstellung des modernen Subjekts. Anstelle der Auffassung, dass wir als Individuen unabhängig voneinander leben, rational, autonom und selbstverantwortlich handeln, begreift eine fürsorgeethische Perspektive Menschen vielmehr als Beziehungswesen. Das bedeutet, dass Gesellschaft nicht als Zusammenschluss von unabhängigen Individuen verstanden wird, sondern als komplexe Beziehungsgeflechte. Individuen sind aufeinander angewiesen, sie sind vulnerabel und abhängig. Gleichzeitig werden sie auch als sorgende Menschen vorgestellt, das bedeutet, dass Sorge nicht als einseitige Praxis verstanden wird, sondern sich durch das Prinzip der Gegenseitigkeit auszeichnet.

Zweitens bezieht sich Care neben der ethischen Praxis auch auf eine Form von Arbeit. Sorge verweist also auf den Begriff der sozialen Reproduktion, das heißt ganz allgemein auf Arbeit, die für den Erhalt von menschlichem Leben notwendig und die Voraussetzung für das Funktionieren des kapitalistischen Systems ist. Auch hier gibt es eine lange feministische Tradition, die die Unsichtbarmachung, Un(ter)bezahlung und gesellschaftliche Entwertung von Sorgearbeit kritisiert. Und drittens verweist der Care-Begriff noch auf einen weiteren Aspekt: Sorge impliziert immer auch eine Beziehungsform, weshalb mit Care ebenso die unterschiedlichen Qualitäten von Sorgebeziehungen beleuchtet werden. Sara Ruddick (1998) hat in einem Aufsatz Ende der 1990er-Jahre die Verschiedenartigkeit von Sorgebeziehungen anhand eines Beispiels verdeutlicht: So zeigt sie auf, dass die Beziehung eines sorgenden Vaters zu seinem Kind anders ist als jene zwischen einer Pädagogin und dem Kind. Damit wird deutlich, dass Sorge nicht grundsätzlich und ausschließlich mit der damit verbundenen Arbeit gleichgesetzt werden kann (Held 2006). Diese Beziehungsdimension ist insbesondere auch in Hinblick auf die Sorgende Stadt relevant, da sie immer auch eine Maßstabsebene miteinschließt. Das heißt, es geht dann nicht nur um Sorgearbeit in dem Sinne, dass es Arbeit ist, sondern Sorge definiert sich auch über die jeweilige Beziehung zwischen den Versorgten und Sorgenden.

Ich denke, wenn wir über eine Sorgende Stadt nachdenken, so ist eine begriffliche Schärfe notwendig, auch wenn natürlich die unterschiedlichen Ideen und Forschungsperspektiven, die unter dem Sorgebegriff versammelt werden, zusammenhängen.

Susanne: Nach dieser analytischen Differenzierung des Care-Begriffs stellt sich die Frage, wie sich die Sorgearbeit nun in der Stadt verorten lässt und welcher Schritte es bedarf, um einer Sorgenden Stadt näher zu kommen. Hannah, ihr habt mit dem Kollektiv Raumstation ein Sorgemapping im Leopoldkiez in Berlin gemacht. Was kann ich mir darunter vorstellen und warum verfolgt ihr diese Strategie?

Abb. 1 Protestspaziergang, „Sorgender Kiez Leopoldplatz“, Kollektiv Raumstation Berlin 2022 (Quelle: Klara Müller)
Abb. 1 Protestspaziergang, „Sorgender Kiez Leopoldplatz“, Kollektiv Raumstation Berlin 2022 (Quelle: Klara Müller)

Hannah: Als Kollektiv Raumstation Berlin beschäftigen wir uns aus einer räumlichen und aktivistischen Perspektive mit Sorgearbeit in der Stadt. Unsere Auseinandersetzung mit der Sorgenden Stadt ist geleitet von der Frage, wie Stadt, Planung und Politik stärker auf Sorgearbeit ausgerichtet werden können. Historisch wurde Sorgearbeit unsichtbar gemacht und entwertet. Das zeigt sich auch in der Planung und Gestaltung von Städten, die nicht an den Bedarfen von Sorgetragenden (überwiegend Frauen und migrantisierte Personen), sondern beispielsweise an der Produktion oder dem Verkehr ausgerichtet sind. Daher gibt es eine lange Tradition feministischer Kritik an Stadt(-planung) (Hayden 2017; Morrow/Parker 2020). Die Konsequenz der geringen Wertschätzung und Unsichtbarkeit von Sorgearbeitenden ist das Fehlen von ganz grundlegendem Wissen sowie statistischen Daten zur Lebensrealität von Sorgetragenden. Für eine Sorgende Stadt braucht es daher als Erstes eine partizipative Bestandsaufnahme von Sorgearbeit.

Als Kollektiv Raumstation Berlin haben wir uns seit 2021 angesehen, wo und unter welchen Bedingungen Sorgearbeit geleistet wird, auch wenn sie nicht immer als solche erkannt oder benannt wird (Cassada/Hollweg/Müller 2024). Dazu haben wir uns im Berliner Stadtteil Wedding rund um den Leopoldplatz zunächst jene Sorgearbeit angesehen, die in einem öffentlichen und teilweise institutionellen Kontext stattfindet. Mit der Frage „Wer kümmert sich eigentlich um die Sorgenden?“ sind wir losgezogen und haben mit verschiedenen Menschen in Sorgeinstitutionen gesprochen. Dabei haben wir erfahren, unter welchen Bedingungen Sorgearbeit stattfindet und was es aus ihrer Sicht für eine sorgende Nachbarschaft braucht. Entstanden ist ein Mapping mit Porträts der Sorgeinstitutionen und abgeleiteten Forderungen, die wir im Zusammenhang mit einem Protestspaziergang in die Nachbarschaft getragen haben (vgl. Abb. 1). Die so ins Bild gebrachte institutionell organisierte Sorgearbeit ist jedoch nur ein kleiner Teil der täglich geleisteten Care-Arbeit, die ansonsten ganz überwiegend im Privatraum stattfindet und noch unsichtbarer sowie vergeschlechtlicht ist. Dieses partizipative Mapping von unten ist eine feministische Praktik, die die Alltagsrealität von Sorgetragenden anerkennt und zum Ausgangspunkt von Veränderung macht. Wichtig ist dabei, nicht von oben oder außen zu kommen und zu sagen, „so muss jetzt die Sorgende Stadt oder die Sorgende Nachbarschaft aussehen“, sondern die lokal spezifischen Bedarfe gemeinsam zu erheben, räumlich zu verorten und kollektiv zu verhandeln.

Susanne: Inga, du bist Teil einer Initiative, die in einer leer stehenden Shoppingmall in Berlin-Treptow ein Sorgezentrum einrichten will. Was hat es damit auf sich?

Inga: Bei der Initiative „Sorge ins Parkcenter“ betrachten wir die Sorgende Stadt als Kompass, der die notwendige Transformation im Bereich der Sorgearbeit in gangbare Schritte übersetzt. Die Sorgende Stadt macht uns zum einen darauf aufmerksam, wo ein potenzieller Handlungsraum ist, nämlich in der Stadt, und verweist zum anderen auf Akteure, nämlich Menschen, die viel Sorgearbeit leisten. Durch Handlungsraum und Akteure wird die Utopie zur Strategie (Fried/Wischnewski 2024a). Wir betrachten das Sorgezentrum also als einen Ansatzpunkt, der nächste Schritte für eine umfassendere Transformation ermöglichen könnte. Viele Menschen sind heute mit der täglichen Sorge für sich selbst und andere extrem überlastet. Eine Umorganisierung von Sorgearbeit innerhalb eines Kiezes von wenigen auf viele Schultern, könnte dazu beitragen, dass mehr Menschen überhaupt über die Zeit und Kapazität für andere politische Kämpfe verfügen. Das Sorgezentrum würde Sorgearbeit lokal verankern und dadurch als gesellschaftliche Arena sichtbar machen. Es würde sowohl entlohnten als auch unentlohnten Sorgearbeitenden die Möglichkeit bieten, miteinander in Kontakt zu treten. Wir sind überzeugt, dass veränderte Beziehungsweisen die Grundvoraussetzung für jede gesellschaftliche Emanzipation sind.

Susanne: Jojo, kannst du uns erzählen, was das gazometer ist und wo ihr als Kollektiv ansetzt?

Jojo: Das gazometer ist ein selbstorganisiertes soziales Zentrum für Kunst, Kultur und Politik auf dem Gelände der ehemaligen Gasspeicheranlage in Münster. Betrieben wird es vom queer-feministischen gazometer-Kollektiv, das versucht hat, auf dem alten Gasometerareal – samt Kessel mit Industriecharme – einen selbstorganisierten Freiraum zu schaffen und zu erhalten (vgl. Abb. 2). Als „Recht auf Stadt“-Kollektiv sehen wir auch in Münster die Notwendigkeit für selbstorganisierte Freiräume, die fernab von kapitalistischer Verwertungslogik und profitorientiertem Leistungs- und Konkurrenzdruck funktionieren und an denen alternative Beziehungsweisen geschaffen werden können. Unser Ansatz war es, einen offenen, unfertigen und partizipativen Ort zu schaffen, der möglichst losgelöst von vergeschlechtlichter Arbeitsteilung getragen wird (ganz nach dem Motto „Alle nach ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen“), über den kollektiv verfügt werden und der flexibel auf die kulturellen, künstlerischen und politischen Bedarfe der Münsteraner Stadtgesellschaft reagieren kann. Damit würde ich das gazometer auf jeden Fall auch als einen „Ort der (Für-)Sorge“ bezeichnen, selbst wenn diese Beschreibung sich vielleicht nicht sofort aufdrängen mag. Denn letztendlich ging es uns neben dem Anbieten und dem Schaffen alternativer, nicht kommerzieller Kunst und Kultur auch immer darum, durch einander und miteinander neue Wege zu finden, wie wir uns aufeinander und auf die Orte, die wir verwalten, gestalten und nutzen, beziehen.

Abb. 2 Gazometer-Eröffnungsfeier, Juni 2021 (Quelle: gazometer-Kollektiv)
Abb. 2 Gazometer-Eröffnungsfeier, Juni 2021 (Quelle: gazometer-Kollektiv)

Ausgehend von unzähligen Repressionserfahrungen der lokalen Haus­besetzungsbewegung 2015 bis 2017, die genau solche Freiräume schaffen wollte, haben wir uns die Frage gestellt: Wenn es nicht ohne die Stadt geht, geht es vielleicht mit der Stadt? Also sind wir in den Austausch mit Stadtverwaltung und Parteien gegangen und haben versucht, ihnen die Notwendigkeit für diesen Freiraum zu vermitteln. Unsere Hartnäckigkeit hat sich ausgezahlt: Wir konnten eine Zwischennutzung von fast vier Jahren erreichen. Leider müssen wir unsere Arbeit jedoch zum Ende des Jahres einstellen, denn das Gelände wurde in einem Vergabewettbewerb seitens der Stadtwerke Münster an den privaten Investor UTB aus Berlin verkauft und somit privatisiert. Unser Nutzungsvertrag lief Ende Oktober 2024 aus. Der Verkauf wirft für uns viele grundsätzliche Fragen auf: Sind wir gescheitert, weil das Gelände privatisiert wurde? Wollen wir unsere Arbeit auch unter veränderten Eigentumsverhältnissen fortführen? Ist eine langfristige Bereitstellung solcher Freiräume unter kapitalistischen Verhältnissen überhaupt widerspruchsfrei möglich?

Angelika: Ich glaube, du sprichst damit etwas ganz Zentrales an: Es braucht immer Formen der Kooperation und Zusammenschlüsse auf unterschiedlichen Ebenen. Gleichzeitig sehen wir aber auch Tendenzen einer Vereinnahmung des Sorgediskurses. So sind Städte und Kommunen mit ihrem Versuch der Entwicklung von caring communities, also Sorgenden Gemeinschaften, zunehmend der Kritik ausgesetzt, Sorge zu privatisieren, zu re-familialisieren und durch die systematische Indienstnahme ehrenamtlicher Tätigkeiten zu verzivilgesellschaftlichen (van Dyk/Haubner/Boemke 2021).

Susanne: Rivka, in deiner Dissertation hast du dich mit zivilgesellschaftlich organisierten Care-Arrangements in der Stadt auseinandergesetzt und dich mit der Frage beschäftigt, inwiefern diese aber mit einer gewissen Ambivalenz einhergehen. Kannst du uns mehr dazu erzählen?

Rivka: Ich habe mich mit selbstorganisierten informellen Sorge­arrangements für und mit prekären Migrant*innen in Brüssel beschäftigt – unter anderem am Beispiel von Hébergement, einer informellen Privatunterbringung für undokumentierte Migrant*innen in belgischen Haushalten. Die Initiative entstand 2017 angesichts unzureichender Versorgung von Geflüchteten in der Stadt. Eine Vielzahl von selbstorganisierten, informellen Arrangements, die auf die Konditionen von „uncare“ (Gabauer et al. 2022b) reagieren, stellen sogenannte Schatteninfrastrukturen der Sorge dar, wie Emma Power und Kolleg*innen (2022) das bezeichnen. Sowohl die Sorgearbeit als auch die („unerwünschten“) Personen im öffentlichen Raum werden unsichtbar. Versorgung und Verantwortung werden ins Private geschoben. Diese Sorgearrangements sind ambivalent. Denn einerseits stellen sie eine sehr bedeutende Alternative zum Leben auf der Straße dar: Die Unterbringung zu Hause bietet Schutz und vor allem die Möglichkeit des Beziehungsaufbaus. Hébergement reagiert also sowohl auf die materiellen, existenziellen Bedürfnisse des Überlebens als auch auf bedeutende soziale und emotionale Bedürfnisse. Zudem habe ich beobachtet, wie aus der breiten Unterstützung von Geflüchteten seit dem sogenannten „Sommer der Migration“ 2015 soziale Infrastrukturen in der Stadt gewachsen sind, die teilweise formalisiert wurden. Nichtsdestotrotz sind es nach wie vor unbezahlte Freiwillige, die ein Gros der Arbeit übernehmen, und auch hier zeigen sich die Ambivalenzen: Mit der Formalisierung verstetigen sich diese sozialen Infrastrukturen. Es wird Zugang geschaffen für Personen, die keinen formalen Zugang zur Grundversorgung haben. Gleichzeitig „löst“ die Stadt damit auch ein großes „Problem“ und kann sich aus der Affäre ziehen. Die Organisation wird öffentlich finanziert, aber die Versorgung wird nach wie vor überwiegend im Unsichtbaren von Freiwilligen übernommen.

Die Beziehungen, die aus diesen Formen der Fürsorge und Versorgung hervorgehen, sind vielfältig und gestalten sich sowohl solidarisch als auch paternalistisch. Häufig reproduzieren sie normative Klassifikationen von Migration und Sorge: Die „großzügigen Bürger*innen“ auf der einen Seite, die Wohnraum frei machen für die „bedürftigen Geflüchteten“ auf der anderen Seite. Mich hat besonders interessiert, wie und wodurch diese Zuschreibungen brüchig werden. Das war vor allem in Momenten und Praktiken des Miteinander-Sorgens, wo soziale Interdependenzen, also die wechselseitigen Abhängigkeiten, erkannt wurden. In diesen Momenten wird deutlich, dass wir alle Sorge brauchen – wenn auch in unterschiedlichen Formen und vielleicht zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Eine sorge­ethische Perspektive, wie Angelika sie anfangs skizziert hat, lenkt den Blick auf die Beziehungen und dieses Miteinander-Sorgen, beruhend auf den wechselseitigen Praktiken im Haushalt, aber auch darüber hinaus.

Ausgehend von diesen Ambivalenzen habe ich mir gemeinsam mit Anke Strüver die Frage gestellt, welche Bedingungen es braucht, um zu ermöglichen, für sich und andere gut zu sorgen (Saltiel/Strüver 2024). Wir haben uns Gedanken über einen sorgenden Urbanismus gemacht, der im Gegensatz zum neoliberalen Urbanismus Sorge ins Zentrum gesellschaftlicher Organisation – und damit auch des städtischen Lebens – rückt. Wir verstehen sorgenden Urbanismus weder als stadtpolitisches Konzept noch als planerische Handlungsanweisung, sondern als normativ-ethische Orientierung. Aufbauend auf sorgeethischen Normen und der Anerkennung unserer wechselseitigen Abhängigkeiten, unterstützt sorgender Urbanismus, dass alle in der Stadt Teil von Sorgebeziehungen sind und Sorgearbeiten leisten. Er ermöglicht den Zugang zu Versorgung und Teilhabe, indem formelle und informelle Sorgebeziehungen ineinandergreifen und ein Miteinander-Sorgen entsteht (Tronto 2000).

Hannah: Für mich schließt da die Frage an: Wie wollen wir Sorgearbeit in Zukunft organisieren? Und das finde ich das Spannende am Ansatz Sorgender Städte: dass es nicht um die Durchsetzung einer vordefinierten Lösung geht, sondern um den gesellschaftlichen Aus­handlungsprozess darüber, wie wir Sorgearbeit organisieren wollen (Fried/Wischnewski 2024a). Unsere forschende und aktivistische Praxis im Kollektiv Raum­station zeigt, dass es sich lohnt, im Alltag und in der Nachbarschaft anzusetzen, um diese Aushandlungs- und Transformationsprozesse anzustoßen. Für grundlegende, strukturelle Veränderungen kann es aber auch zielführend sein, als munizipalistische Bewegung (Vollmer 2017) in die Stadtpolitik zu gehen. Beispiele aus Barcelona und Madrid zeigen, wie in enger Anbindung an soziale Bewegungen Pilotprojekte einer Sorgenden-Stadt-Politik umgesetzt und die Strukturen der Stadtverwaltung und -politik von innen heraus transformiert werden können.

Susanne: Die Ausführung zu sorgendem Urbanismus und munizipalistischen Ansätzen einer Sorgenden-Stadt-Politik ist ein guter Übergang zu konkreten Strategien, von denen ausgehend eine Sorgende Stadt möglich werden kann. Es sind schon Begriffe wie Vergesellschaftung gefallen, aber auch stadtplanerische Ansätze wurden angerissen. Inga, kannst du eure Strategien verdeutlichen?

Abb. 3 „Kiosk of Care“-Aktionstage der Initiative „Sorge ins Parkcenter“, Juli 2024 (Quelle: Hannah Müller)
Abb. 3 „Kiosk of Care“-Aktionstage der Initiative „Sorge ins Parkcenter“, Juli 2024 (Quelle: Hannah Müller)

Inga: Bei Sorge ins Parkcenter setzen wir uns dafür ein, dass aus einer Shoppingmall im Berliner Stadtteil Treptow-Köpenick, in der aktuell ca. 70 Prozent der Ladenflächen leer stehen, ein Sorgezentrum wird (vgl. Abb. 3). Für die konkrete Ausgestaltung des Sorgezentrums lassen wir uns von Projekten im spanischsprachigen Raum inspirieren, die Hannah bereits erwähnt hat. In Bogotá gibt es beispielsweise in über 20 Quartieren kommunale Sorgezentren, in denen sorgeleistende Frauen Angebote zu ihrer Entlastung und Entfaltung als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge erhalten. Natürlich braucht nicht nur Berlin-Treptow so ein Sorgezentrum, sondern jede Stadt – aber irgendwo muss man anfangen. Dieses „Anfangen“ verbinden wir in unserer Arbeit mit dem Mall-Sterben, also der Entwicklung, dass immer mehr Shoppingzentren zunehmend leer stehen. Noch fehlen langfristige Nutzungskonzepte für diese Flächen, aber mittlerweile entwerfen auch Investoren Pläne dafür, was mit ihnen passieren soll. Zunächst fordern wir, die Gebäude nicht abzureißen, weil das eine klimapolitische Katastrophe wäre. Stattdessen wollen wir sie umnutzen: von konsumorientierten Malls zu Sorgezentren, in denen die Bedürfnisse der Anwohnenden im Zentrum stehen. Damit Sorgearbeit dort für alle Beteiligten gerecht verrichtet werden kann, ist für uns klar, dass Sorgezentren frei jeder Profitlogik agieren können müssen.

Susanne: Jojo, du kennst die mühseligen Prozesse der Selbstverwaltung und Umnutzung von Gebäuden. Was für Erfahrungen in Bezug auf Sorgearbeit habt ihr gemacht?

Jojo: Als Kollektiv haben wir die alte Gasspeicheranlage als damalige Energieversorgung Münsters und Umgebung zu einem sozialen Zentrum der kulturellen, künstlerischen und politischen Daseinsvorsorge umgestaltet. Dabei hat die Arbeit in einem selbstorganisierten Kollektiv sowohl mir als auch anderen im Kollektiv persönlich superviele Möglichkeitsfenster geöffnet. Wir haben (und mussten das aus gegebener Notwendigkeit auch) uns neue Fähigkeiten angeeignet und Aufgaben übernommen, die wir uns vorher nicht zugetraut haben. So konnten wir uns nicht nur als Kollektiv behaupten, sondern auch bei vielen Einzelpersonen lässt sich im Nachhinein eine Chronologie der Selbstbehauptung feststellen. Da ich mit individualistischen Perspektiven jedoch nicht zufrieden bin, will ich hier nochmal die Stärke selbstorganisierter Strukturen hervorheben. Nur weil wir ein Kollektiv sind, konnten wir uns behaupten, und nur durch gegenseitige Impulse und im Miteinander konnten wir andere Praxen der (Für-)Sorge erproben.

Menschen brauchen Räume, um sich zu organisieren und um solche Erfahrungen zu machen, und das Projekt gazometer hat in den letzten vier Jahren solch einen Raum ermöglicht. Einen Zwischenraum, wenn man so will, in dem gesellschaftliche Zwänge zumindest oberflächlich aufgehoben waren. In dem Menschen die Möglichkeit bekommen haben, Dinge neu und anders zu kreieren, auszuhandeln und auszuprobieren. Obwohl wir es nicht geschafft haben, die kommerzielle Nutzung einer der letzten weitläufigen, städtischen Flächen in Münster zu verhindern, haben wir unser Ziel erreicht: einen Raum zu schaffen, um dem zermürbenden – weil individualisierenden – Alltag vorübergehend zu entfliehen und um Alternativen für diesen Moment greif- und erlebbar zu machen. Wir konnten den Gasometer der Münsteraner Stadtgesellschaft für einige Zeit lang zugänglich machen und darüber hinaus die Notwendigkeit selbstorganisierter Freiräume auf die politische Agenda zivilgesellschaftlicher Akteur*innen setzen. Bei aller Trauer und Wut um den Verlust des Projekts sind wir bereits mit vollem Einsatz dabei, einen neuen Ort für unsere Arbeit zu finden, um auch in Zukunft Räume schaffen und dann hoffentlich erhalten zu können, in denen wir alternative Sorgepraktiken erproben und entwickeln können.

Inga: Es ist ermutigend zu hören, wie du eure Erfahrungen in Münster schilderst, denn wir erhoffen uns vom Sorgezentrum genau das: dass der gemeinsame Weg dahin bereits ein emanzipatorisches Moment hat. Sorgearbeit ist derart individualisiert und privatisiert, dass es uns vollkommen selbstverständlich erscheint, dass jede*r damit alleine zurechtzukommen hat. Aber die aktuellen Verhältnisse sind nicht in Stein gemeißelt, und auch ist Sorge etwas, das wir gesellschaftlich und politisch miteinander verhandeln können und über das wir in den Austausch treten können (Fried/Wischnewski 2024b). Dafür überhaupt erst ein Bewusstsein zu entwickeln, ist die Grundvoraussetzung für die Transformation der Sorgearbeit.