Liebe Leser_innen,
gerne wird betont, dass in Städten der Großteil der Menschheit lebt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass dort auch vorrangig gestorben wird. Als symbolisch aufgeladener und zugleich selbstverständlicher Teil von Gesellschaft schreibt sich das Sterben unweigerlich in das städtische Gefüge ein. Während der Tod in den meisten Kosmologien einen unumgänglichen Endpunkt des Lebens markiert, unterliegt das Sterben als Übergangsprozess vom Leben in den Tod vielfältigen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Sie lassen aus dem zunächst biologisch-natürlich anmutenden Phänomen durchaus auch ein soziales und gesellschaftlich strukturiertes Phänomen werden. Denn über das Alter hinaus ist das Sterben durch eine Reihe sozialer, ökonomischer und politischer Faktoren bedingt, die in Städten auf besondere Weise zum Ausdruck kommen. So ist Sterblichkeit mit vielfältigen Umweltbedingungen verbunden und in Städten stellt sich immer auch die Frage, wo in einem hochgradig kapitalisierten Boden- und Immobilienmarkt Orte errichtet und aufrechterhalten werden können, die den (noch) nicht umfassend kommodifizierten Praktiken des Sterbens, der Seelsorge, des Gedenkens und Erinnerns Raum geben.
Bezeichnet nekrópolis ursprünglich die im altertümlichen Mittelmeerraum oft abseits von Wohngegenden liegende Stätte des Todes, so gibt es heute eine Vielzahl an städtischen deathscapes, die die Stadt (pólis) zu einem Ort der Toten (nekrós) werden lassen. Betrachten wir die Stadt aus Sicht von Tod und Sterblichkeit, geraten Aspekte des Städtischen in den Blick, die ansonsten nicht explizit thematisiert werden oder gar vollends verborgen bleiben – von Haushaltsauflösungen bis zu Tierkrematorien. Ein Grund hierfür ist sicher in der (säkularen) Verdrängung und Tabuisierung des Todes als gesellschaftliche Tatsache zu finden. Der Sicherheitsabstand zu den Toten hat nicht mehr nur hygienische und existenzielle Gründe, sondern dient auch der Angstbewältigung. So alltäglich das Sterben in Städten auch sein mag – nicht nur im Kontext von Kriegen, Naturkatastrophen oder Pandemien: Die wissenschaftliche Auseinandersetzung der Stadtforschung mit Tod und Sterben ist bislang eine Randerscheinung geblieben. Untersucht wird vorrangig städtisches Leben ohne seine Relation zum städtischen Sterben – auch wenn strukturelle Gewalt, Ungleichheit und soziale Konflikte als Kernthemen der Stadtforschung weitreichende Anknüpfungspunkte dafür bieten. Praktiken des Sterbens und der Auseinandersetzung mit dem Tod sind überwiegend absent. Der „Vitalismus“ der Stadt ist also in der Regel eine implizite Grundannahme. Als „tot“ gelten Städte nur, wenn die sozialen und ökonomischen Praktiken entfallen, die ihre „urbane“ Vitalität begründeten.
Um die vielfältigen, mit städtischem Leben verbundenen Aspekte des Sterbens, der Sterblichkeit und des Todes aufzuschlüsseln, versammelt unser Themenschwerpunkt „Nekropolis“ Aufsätze, Debatten- und Magazinbeiträge sowie Rezensionen. Mit der Fertigstellung des Heftes, das eine echte Herausforderung darstellte, können wir die weitläufigen Desiderata der diesbezüglichen Forschung bestätigen. Wir erhielten spannende Beiträge, die das Potenzial des Themas bekräftigen. Gleichzeitig bleiben jedoch einige zentrale Aspekte des Sterbens unbeleuchtet. Wir würden uns wünschen, wenn diese und weitere damit verbundene Forschungsthemen in zukünftigen sub\urban-Ausgaben weiterhin adressiert werden. Vor diesem Hintergrund verstehen wir diesen Themenschwerpunkt nicht als Synthese der bisherigen Forschung zu Tod und Sterben innerhalb der kritischen Stadtforschung, sondern als eine Einladung, die Diskussion fortzusetzen und zu vertiefen.
Während in einigen unserer Debatten-, Magazin- und Rezensionsbeiträge das klassische Phänomen der Friedhöfe als Referenz herhält, zeigen die Themen der beiden Aufsätze des Themenschwerpunktes, dass die Nekropolis eben nicht nur an einzelnen Orten zu finden ist, sondern über strukturelle Nekropolitiken hergestellt wird. Mina Godarzani-Bakhtiari untersucht anhand des rechtsterroristischen Anschlags in Hanau 2020, wie die Rechercheagentur „Forensic Architecture“ (FA) eine gegenöffentliche Perspektive auf die polizeiliche Handhabung des Anschlags entwickelt, indem sie zwischen politischer Positionierung und positivistischer Beweisführung vermittelt. Dabei konstruiert FA eine neue Form von Objektivität durch Raum, die Godarzani-Bakhtiari als „spatial objectivity“ bezeichnet und übt damit politische Kritik an urbaner, rassistischer Nekropolitik. Larissa Fleischmann, Elisa Kornherr und Lukas Adolphi widmen sich in ihrem Aufsatz der Frage nach dem (Über-)Leben und Sterben in der mehr-als-menschlichen Stadt. Dabei konzeptualisieren sie Städte einerseits als Räume, in denen politische Aushandlungen über das Töten oder Lebenlassen nichtmenschlicher Lebewesen stattfinden sowie andererseits als potenziell tödliche Gefüge für nichtmenschliche Entitäten. Anhand empirischer Erhebungen zum Umgang mit Nilgänsen in Frankfurt am Main und Nutrias in Halle an der Saale zeigen sie auf, dass Entscheidungen rund um das Töten umkämpft sind und eigensinnige nichtmenschliche Praktiken sowie Kämpfe ums Überleben hervorrufen.
Grundlegendere Ideen für eine Erforschung der Nekropolis oder „Thanatostadtforschung“, also einer Stadtforschung, die den Tod ins Zentrum ihrer Betrachtungen rückt, finden sich in der gleichnamigen Debatte. Den Aufschlag hierzu haben Johanna Hoerning und Lucas Pohl verfasst. Sie laden darin zu einem Dialog mit Forschenden aus unterschiedlichen Disziplinen über die Potenziale einer Stadtforschung des Todes ein. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive antwortet Nina Kreibig darauf mit einem historisch begründeten Plädoyer, in dem sie für eine Auseinandersetzung mit Raumtypen des Todes in Städten (etwa Friedhöfen oder Hospizen) plädiert – ausgehend von der Annahme einer grundlegenden Relationalität von Leben und Tod. Aus geographischer Perspektive befasst sich Jan Hutta mit Massengräbern, Orten des Verschwindenlassens und anonymen Begräbnisstätten, die er als „andere Nekropolen“ betrachtet. Im Rahmen seiner Forschungen in Rio de Janeiro betont er das „Recht, gut zu sterben“, wobei er nicht nur die städtischen Implikationen, sondern auch die ethischen und politischen Herausforderungen beleuchtet, die mit der Erforschung entwürdigender Formen des Sterbens verbunden sind. Der Anthropologe Akin Iwilade diskutiert, inwiefern das Sterben nicht nur eine sehr reelle Alltagserfahrung jugendlicher Gangmitglieder in Lagos ist, sondern einerseits über staatliches Agieren und andererseits durch die Zurschaustellung der Toten im städtischen Raum zu einer alltäglichen Komponente städtischen Lebens wird, anhand derer Macht- und Herrschaftsverhältnisse auf verschiedenen Ebenen verhandelt werden. Da die Debatte bislang nur drei Beiträge umfasst, freuen wir uns auch zukünftig über Beiträge, die aus interdisziplinärer Perspektive die Potenziale einer Stadtforschung zu Tod und Sterben ausleuchten, was Johanna Hoerning und Lucas Pohl in ihrer Replik nochmals betonen.
Im Magazin wirft Annabelle Müller den Blick auf die „hinterbliebenen Dinge“ von Verstorbenen. Am Beispiel von Haushaltsauflösungen weist sie auf die Bedeutung materieller Hinterlassenschaften und der damit zusammenhängenden Sorgebeziehungen hin. Jasmin Jossin, Tanja Godlewsky, Richard Beecroft und Annette Voigt stellen in ihrem Magazinbeitrag den „Todomaten“ vor – ein analoges und digitales Tool, mit dem Menschen geradezu dazu aufgefordert werden, sich schon zu Lebenszeiten mit der Frage auseinanderzusetzen, was ihre „hinterbliebenen Dinge“ einmal sein sollen. Die Autor*innen greifen die Verdrängung und Tabuisierung des Todes in künstlerisch-interventionistischer Form auf – was offenbart, in welcher Vielzahl an Dimensionen der (eigene) Tod und das (eigene) Sterben im Alltag verdrängt werden. Im Unterschied zu den ersten beiden Magazinbeiträgen, die insbesondere Materialitäten des Gestorbenseins in den Blick nehmen, lenkt Dilan Karatas den Fokus auf die ungleich sterbenden Körper und stellt die Frage, ob wir feministisch sterben können. Anhand von Dichotomien in der Palliativpflege diskutiert Karatas die geschlechtliche Dimension des Versterbens, wobei die feministische Betrachtungsweise die notwendigen sozialen und räumlichen Faktoren zur bedürfnisorientierten und autonomen Gestaltung der finalen Lebensphase abwägt. Dabei zeigt der Beitrag – der im Rahmen eines laufenden Forschungsprojektes entstand – Lücken in der ländlichen Palliativversorgung sowie geschlechtsspezifische Ungleichheiten in der Sorgearbeit auf.
Zum Themenschwerpunkt rezensiert Dilan Karatas das Buch urban deathscapes (2023) von Danielle House, Mariske Westendorp und Avril Maddrell, während sich Andreas Jüttemann mit Nina Kreibigs 2022 erschienenen Buch Institutionalisierter Tod: Die Kultur- und Sozialgeschichte der Berliner Leichenhäuser im 19. Jahrhundert auseinandersetzt.
Außerhalb des Themenschwerpunktes findet sich wie gewohnt eine Bandbreite spannender Einblicke in aktuelle Stadtforschungsthemen: In ihrem Aufsatz zum Fallbeispiel der sogenannten ada_Kantine auf dem früheren Universitätscampus Bockenheim in Frankfurt am Main entwickelt Susanne Hübl mit ethnografischen Methoden das Konzept einer „Radikal Sorgende Stadt(-teilkantine)“. Radical care beschreibt Sorgekontexte jenseits hegemonialer, also staatlicher, institutionalisierter oder kleinfamiliärer Strukturen und lädt dazu ein, sowohl die strukturellen Bedingungen von Sorge zu betrachten als auch alternative und transgressive Praktiken. Antonia Appel und Verena Schreiber konstatieren in ihrem Aufsatz „Angesprochen und doch ungefragt“, dass verstärkt Kinder adressiert werden, Verantwortung für eine lebenswerte städtische Zukunft zu übernehmen. Anhand einer Feldstudie im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick diskutieren sie, welche Rolle Kindern in Prozessen der nachhaltigen Stadtentwicklung zugeschrieben wird und welche realen Möglichkeiten diese haben, sich kritisch, kreativ und kollektiv an ihnen zu beteiligen. Im Aufsatz „100 Jahre Kolonialinstitut? Das Gespenst des deutschen Kolonialismus an der Universität Hamburg“ beschäftigen sich Alexa Vaagt und Tania Mancheno mit dem Übergang vom Hamburgischen Kolonialinstitut zur Universität Hamburg. Sie schauen auf die Kontinuitäten kolonialer Gewalt in der offiziellen Erinnerungskultur der Institution und diskutieren die Verflechtungen zwischen Wissenschaft, Kolonialismus, Antisemitismus und den heutigen Rassismuserfahrungen an der Hochschule.
Abgerundet wird der offene Teil des Heftes mit weiteren Rezensionen: Stefan Höhne bespricht den 2023 erschienenen Einführungsband der Reihe Kultursoziologische Stadtforschung von Ignacio Farías, Martina Löw, Thomas Schmidt-Lux und Silke Steets. Mina Godarzani-Bakhtiari stellt Bernd Belinas ebenfalls 2023 publizierten Band Gefährliche Abstraktionen. Regieren mittels Kriminalisierung und Raum vor. Christian Wicke rezensiert den 2022 von Jana Breßler, Harald Engler, Constanze Kummer, Detlef Kurth, Jannik Noeske, Wiebke Reinert und Max Welch Guerra herausgegebenen Sammelband Stadtwende. Bürgerengagement und Altstadterneuerung in der DDR und Ostdeutschland. Den Abschluss bildet Sabine Dörrys Rezension zu Brett Christophers 2023 veröffentlichtem Buch Our lives in their portfolios.
Wir wünschen wie immer eine freudige und inspirierende Lektüre!
Eure Redaktion von sub\urban
Kristine Beurskens, Laura Calbet i Elias, Nihad El-Kayed, Nina Gribat, Stefan Höhne, Johanna Hoerning, Jan Hutta, Michael Keizers, Yuca Meubrink, Boris Michel, Gala Nettelbladt, Lucas Pohl, Nikolai Roskamm, Nina Schuster und Lisa Vollmer