Perspektiven urbaner Dekolonisierung: Die europäische Stadt als ‚Contact Zone‘

Noa Ha

Einleitung

Ich bin eine Frau of Color[2], in Deutschland geboren, mit postkolonialem Migrationshintergrund in der zweiten Generation. Die Erfahrung des Kolonisiertwerdens durch die europäischen Kolonisatoren ist nicht nur eine Episode in der Vergangenheit meiner Familiengeschichte, sondern ein Kontinuum. Es gehört zu einem verworfenen Erbe, das seinen Ausdruck in den verschiedenen Biographien meiner über die ganze Welt zerstreuten Familie sowohl in den Städten des Globalen Südens als auch denen des Globalen Nordens findet. Es besteht fort in den vielen unausgesprochenen Geschichten, den heimlichen Entscheidungen sowie den Namensgebungen in den Familien.

Ich wurde als gemischtesKind in ein farbenblindes Vakuum hineingeboren, in dem die Geschichte und die Geschichten vom Kolonialismus nicht erzählt wurden. Dort gab es nichts und niemanden, der/die mir sagte, woher ich kam, keine angemessene Sprache und auch keinen Ort, den ich bewohnen konnte – aber dort wurde seit meiner Kindheit die Frage an mich gerichtet: Wo kommst Du wirklich her? Als junger Mensch konnte ich die koloniale Logik dieser Frage noch nicht begreifen. Eine Frage, die mich immer wieder auf eine entfremdete Position verwies.[3] Ich nahm an, dass mein Fremd(geworden)sein eine selbstverständliche Differenz war, dass ich nicht hier_her gehörte. Daher begab ich mich auf eine Reise, um zu sehen, woher ich ‚wirklich‘ kam. Als junge Frau reiste ich nach Jakarta, um meine Familie zu besuchen.

Jakarta ist eine Stadt, die im ,Westen‘ als Megacity bezeichnet wird. Und ich erinnere mich lebhaft daran, wie ich in einem klimatisierten Auto von einem Shoppingcenter zum nächsten gebracht wurde. Ich wurde wie ein Gast aus dem ,Westen‘ behandelt, von dem man annahm, dass ein Stadtbesuch mit einer Einkaufstour in einer großen und modernen Mall gleichzusetzen ist. Da ich von den artifiziellen Konsumhallen nicht wirklich begeistert war, fragte ich nach der ,echten‘ Stadt. Also brachte mich meine Familie auf meine wiederholte Bitte hin zum ,Stadtzentrum‘. Und dort stand ich nun, mitten auf dem Stadtplatz von Batavia. Ein städtisches Ensemble, erbaut von den damaligen Kolonisatoren von ,Niederländisch-Indien‘, bestehend aus Rathaus, Museum, Kirche und Postamt, alles um einen Stadtplatz herum versammelt. Das Museum war voller kolonialer Erinnerungen und präsentierte Weltkarten, auf denen die Hierarchien der Rassen[4] abgebildet waren. Den Kolonisatoren wurde, wenn auch unter einer leichten Staubschicht, scheinbar unreflektiert erinnert. Meine Familie hatte mich zum kolonialen Stadtkern von Batavia gebracht. Und ich musste lernen, dass meine Vorstellung von der ,echten‘ Stadt auf denen der europäischen Stadt beruhte. Eine Vorstellung, die mit den kolonisierenden Nationen über den Globus exportiert und als erzieherisches, repräsentatives und kontrollierendes Stadtmodell errichtet wurde.

Obwohl postkoloniale Theorieansätze mit den Prozessen der formellen Entkolonisierung entstanden und seit den 1970er Jahren im anglophonen Sprachraum vielfältig diskutiert und adaptiert worden sind, haftet der deutschsprachigen postkolonialen Auseinandersetzung auch in der Stadtforschung eine gewisse Schwerfälligkeit an. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird in Deutschland – und anderen europäischen Staaten – entlang der Frage von ,Migration‘ und ,Integration‘ ein gesellschaftliches Verhältnis festgeschrieben, das auf der hierarchisierten Differenz zwischen Menschen entlang rassifizierender und ethnisierender Kategorien basiert und das diese Differenz zwischen ‚normal‘ und ‚anders‘ essentialisiert.

Da Rassismus und Kolonialismus in der historischen Genese eng miteinander verbunden sind, benötigt eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Festschreibungen sowohl einen rassismuskritischen als auch einen dekolonialen Ansatz. Daher plädiere ich in diesem Beitrag für eine kritische Auseinandersetzung mit den kolonialen Hinterlassenschaften in der deutschsprachigen Stadtforschung. Für diese Auseinandersetzung wähle ich den Begriff der ,urbanen Dekolonisierung‘, was ich im Folgenden noch weiter begründen und ausführen werde. Zunächst wird der konzeptuelle Rahmen der europäischen Stadt untersucht, um die potenziellen Implikationen einer eurozentristischen Geschichtsschreibung und die Kontinuität orientalisierender Differenzierungen offenzulegen. Des Weiteren ziehe ich das Konzept der ,Contact Zone‘ (Kontaktzone) von Marie Louise Pratt heran, um die vorab ausgeführten Implikationen der europäischen Stadt in ihrer Relevanz für die Herstellung kolonialer Verhältnisse im städtischen Kontext zu untersuchen. Als empirisches Beispiel dienen mir hier die schon seit Jahren anhaltenden Kämpfe von geflüchteten Menschen in der Bundesrepublik um ein Bleiberecht und speziell die öffentlichen Auseinandersetzungen darum in der Hauptstadt Berlin. Darüber hinaus zeige ich am Beispiel des Humboldt-Forums und dem anvisierten Umzug der Sammlung des Ethnologischen Museums aus der Berliner Peripherie ins Zentrum (Berlin-Mitte), wie schwierig sich immer noch im 21. Jahrhundert eine Debatte über Kolonialismus und nationale Repräsentation in Deutschland gestaltet.

Rassismus als Kolonialität der Macht

Ein Blick in die Kolonialgeschichte der europäischen Nationen verweist auf die Plünderungen der Welt, auf denen die Errichtung der europäischen Metropolen basiert (Osterhammel 1995). Die Massivität der Stein gewordenen Profite nicht nur in Paris, London und Madrid bringen Geschichten zum Sprechen, die aus den europäischen Geschichtsschreibungen in die Marginalien gedrängt wurden und immer noch werden (Stuart 2012). Sie verweisen aber auch auf die Möglichkeit, das Unmögliche zum Sprechen zu bringen, Geschichten zu wenden und Perspektiven auf die eurozentristische Geschichte zu ,dezentrieren‘, infrage zu stellen und eine neue Geschichtsschreibung einzufordern.

Mit Beginn des 21. Jahrhunderts scheint die formelle Entkolonialisierung weltweit fast abgeschlossen zu sein. Dennoch zeugen die fortbestehenden Abhängigkeiten des Globalen Südens vom Globalen Norden, die zähe Dauerhaftigkeit von Rassismus in westlichen Gesellschaften und das anhaltende Schweigen der ehemaligen Kolonisatoren zu ihren Verbrechen vom unabgeschlossenen Prozess der Dekolonisation. Rass^ismus kann daher nicht als individuelles Problem (als Vorurteil oder als Angst), sondern muss als eine koloniale Erfindung, die Menschen markiert, differenziert und hierarchisiert, begriffen werden. Das im folgenden vorgestellte Konzept der ‚Kolonialität der Macht‘ führt hier eine Denkschule aus Lateinamerika ein. Inspiriert von den Indian Subaltern Studiesgründeten sich die Latin American Subaltern Studies, um die Bedeutung von Subalterität, Unterdrückung und Kolonisierung für den lateinamerikanischen Kontext zu diskutieren.Darüber hinaus bildeten sich weitere Forschungszusammenhänge wie das ,Latin American Modernity/Coloniality Research Program‘,in denen der Zusammenhang von Kolonialismus, Macht und Rassismus aus der Perspektive der akademisch Marginalisierten reflektiert und konzeptualisiert wurde. Einer der führenden Theoretiker dieser Denkschule, Aníbal Quijano, sieht die anhaltende Kontinuität von Rassismus in der ,Kolonialität der Macht‘ begründet, weil eine fundamentale Achse des kolonialen/modernen Kapitalismus entlang der Idee von Rasse als soziale Klassifikation verläuft, um die globale Bevölkerung zu strukturieren: „The racial axis has a colonial origin and character, but it has proven to be more durable and stable than the colonialism in whose matrix it was established“ (Quijano 2000: 533). In seinem Essay „Coloniality of Power and Eurocentrism in Latin America“ arbeitet der peruanische Soziologe Quijano die konstitutive Verknüpfung zwischen Kolonialismus, Eurozentrismus und Kapitalismus heraus, aus der in einem Jahrhunderte langen Prozess die globale ,Kolonialität der Macht‘ entstanden ist. Diese schreibt sich als eurozentristische Perspektive in die verschiedenen Dimensionen von Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft ein. Die folgende Tabelle führt diese Dimensionen auf und stellt dar, wie sich das koloniale Projekt Europa in ein eurozentristisches und universalistisches Verhältnis über ‚Andere‘ gesetzt hat.

Tab 1: Tabellarische Darstellung zur ‚Kolonialität der Macht‘ von Anibal Quijano (Quelle: eigene Darstellung)

Europa

Dimension

Die ‚Anderen‘

Zentrum (central)

Geographie/Raum

Peripherie (peripheral)

modern (anterior)

Geschichte/Zeit

zurückgeblieben
primitiv

überlegen (superior)

weiße[5] (europäische) Körper

soziale Klassifikation

Marker: Hautfarbe, religiöse und kulturelle Symbole (Kleidung)

unterlegen (inferior)

Schwarze, braune (afrikanische, asiatische, indigene, jüdische) Körper

Kapitalismus

Ökonomie

Basarökonomie

informelle Ökonomie

ethnische Ökonomie

Quijano sieht in dieser Herausbildung der Kolonialität der Macht die Voraussetzung für die Entstehung eines globalen Kapitalismus (world capitalism), mit der es möglich wird, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse umfassend zu kontrollieren: „Europe‘s hegemony over the new model of global power concentrated all forms of the control of subjectivity, culture, and especially knowledge and the production of knowledge under its hegemony“ (ebd.: 540). Mit diesem Verständnis von Macht zieht Quijano eine direkte Verbindung zwischen der kapitalistischen Entwicklung und dem Kolonialismus. Daher ist es für eine kritische Perspektive folglich notwendig, nicht nur die politökonomische Dimension gesellschaftlicher Verhältnisse zu analysieren, sondern diese im Kontext zu Prozessen der Rassifizierung zu erkennen und die epistemischen Voraussetzung der Kolonialität kritisch zu untersuchen.

Ramón Grosfoguel wiederum benennt die Menschen aus den vormals kolonisierten Ländern in den Metropolen als „koloniale Subjekte“ (Grosfoguel 2003). Andere schreiben von „postkolonialen Migrant_innen“ (Ha 2003), wieder andere markieren die gesellschaftlichen Positionalitäten als „People of Color“ und als weißeMenschen (Eggers et al. 2005). Diese Begrifflichkeiten verweisen auf die Gleichzeitigkeit der Anwesenheit unterschiedlicher Körper, deren Positionen in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander stehen und die ein Derivat kolonial-rassistischer Geschichte und Beziehungen im (neuen) Gewand des globalen Kapitalismus sind. Die Gleichzeitigkeit hat ihren Ort nicht zuletzt in den europäischen Metropolen, die immer häufiger zum Terrain von Auseinandersetzung werden, in dem diese Asymmetrie und die Voraussetzungen von postkolonialer Repräsentation, Regierungsform und Gerechtigkeit herausgefordert werden. Gerade in einer Zeit, in der die europäischen Nationen an Bedeutung zu verlieren scheinen, weil ihre Souveränität sowohl durch die Globalisierung als auch den Bedeutungszuwachs transnationaler politischer Beziehungen und Institutionen (z.B. die Europäische Union) unterlaufen werden, gewinnt der europäische Stadtraum in doppelter Hinsicht an Bedeutung: zum einen als ökonomischer Raum, der durch Prozesse der Gentrifizierung und Touristifizierung kommodifiziert wird, und zum anderen als Bühne für die politischen Eliten, wo nationale Identität(en) zur Schau gestellt werden können, deren Hauptausgangspunkt die koloniale Geschichtserzählung von Europa bildet und die sich häufig positiv auf die ,Errungenschaften‘ des Kolonialismus beziehen (Cross/Keith 1993). Mit dieser affirmativen Haltung gegenüber der europäischen Kolonialgeschichte werden jedoch die Plünderungen von Territorien und die Versklavung von Menschen ganz wesentlich ausgeblendet und ignoriert. Diese Geschichtsschreibung, die auch im städtischen Raum reproduziert wird, behindert zudem eine kritische Auseinandersetzung mit den Folgen des Kolonialismus.

„Kolonialismus ist in Deutschland – sobald er als kritische Analysekategorie und nicht wie gewohnt als ideologischer Gewaltapparat gebraucht wird – ein unnahbarer, geradezu un-heimlicher Begriff. Seine Untiefen erscheinen in ihrer unbehaglichen Abgründigkeit so un-wirklich, dass dieses Unwort sorgsam ver- und gemieden wird.“ (Ha 2005: 105)

Postkoloniale Stadtforschung

Koloniale Episteme wirken auch im Feld der Stadtforschung fort. So wird zu Recht kritisiert, dass hier vor allem an westlichen Städten orientierte und eurozentristische Konzepte zur Anwendung kommen (King 1990; Robinson 2002). Mit dieser Dominanz geht eine Vernachlässigung der Analyse des Kolonialismus einher, genauer: seiner Bedeutung für die Entstehung von modernen Städten und moderner Stadtplanung. Dekoloniale Theoretiker_innen wie Walter Mignolo (2007), Anibal Quijano (2007) und Maria Lugones (2007) verweisen auf die konstitutive Verbindung von Modernität und Kolonialität. Vorstellungen der modernen Stadt sind demnach eng mit der Entstehung kolonialer Städte im Zuge des Kolonialismus verknüpft, worauf auch andere Autor_innen hingewiesen haben (z. B. Prakash 2010, Prakash/Kruse 2008, Bonnett 2002, King 1990). Diese dekoloniale Perspektive ist ein wichtiger Ausgangspunkt für eine postkoloniale Stadtforschung, die die kritische Reflexion der epistemischen Voraussetzungen für die Konzeption von Stadt (Keith 2005, Işın 2003) sowie die historische, politökonomische und kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit kolonialen Verhältnissen in der Stadt umfasst. Aufgrund der verschiedenen Historizitäten des Kolonialismus und der regionalen Unterschiede sind die Untersuchungen voneinander zu unterscheiden. Studien in Australien, Neuseeland, USA und Kanada stellen die Urbanität des Siedlerkolonialismus in den Vordergrund und fragen nach der Kontinuität kolonialer Beziehungen, die sich im städtischen Raum manifestieren und reproduzieren (McKittrick 2007, Shaw 2007, Razack 2002, Jacobs 1996). Andere Arbeiten haben ihren Ausgangspunkt im Globalen Süden, in den ehemaligen kolonisierten Ländern und ihren Städten, und reflektieren den Einfluss und die Relevanz europäischer kolonialer Planung und eurozentristischer Konzepte für diese Städte in Zeiten der Globalisierung (Roy/Ong 2011, Simone 2011, Glover 2008, Clarke 2006). Darüber hinaus gibt es Studien, die sich mit dem Transfer zwischen den Kolonial- und Metropolstädten befassen und mit den Auswirkungen, die dieser auf die koloniale Stadtplanung hatte. Sie zeigen, inwiefern die Städte in den Kolonien als stadtplanerische Laboratorien dienten und wie die dort gemachten Erfahrungen in die Metropolen reimportiert wurden (Avermaete et al. 2010, Cohen/Eleb 2002). Andere untersuchen die Geschichte der ‚Peripherien‘ innerhalb der Metropolen und setzen sich mit der dortigen Kolonialgeschichte auseinander, beispielsweise in London, Berlin und Paris (Heyden 2002, Diallo/Zeller 2013, McLeod 2013, Boittin 2010).

Eine Stadtforschung, die sich nicht nur mit den kolonialen Hinterlassenschaften befassen, sondern auch die (Re-)Produktion kolonialer Verhältnisse im städtischen Kontext aufspüren will, verlangt nach einem Forschungsansatz, der die Differenzen erkennt und sie in ihrer Komplexität begreift, anstatt diese zu reduzieren (Yeoh 2001, Robinson 2006). Folglich verwirft eine postkoloniale Stadtforschung die Suche nach einer gültigen Definition der postkolonialen Stadt und fordert vielmehr einen Blick auf die ungleichen Entwicklungen im städtischen Raum ein.

Die europäische Stadt ,provinzialisieren’

In der deutschsprachigen Stadtsoziologie wurde das Konzept der europäischen Stadt maßgeblich von Walter Siebel und Hartmut Häußermann diskutiert und vertreten (Siebel 2006, Häußermann et al. 2008). Es ist eingebettet in kulturalisierende und essentialisierende Diskurse über das Städtische, die im Folgenden kritisch hinterfragt werden sollen. Welches Europa und welche europäische Stadt sind gemeint und von welchen anderen Städten bzw. städtischen Modellen werden diese abgegrenzt?

Die idealtypische europäische Stadt wird mit Werten und Begriffen wie Demokratie, Gerechtigkeit, Gleichheit sowie Solidarität in Verbindung gebracht. Die Herausbildung einer städtischen ,Bürgerschaft‘ verkörpert den Wandel weg von der feudalistischen hin zur demokratischen Gesellschaft, wobei davon ausgegangen wird, dass sich die Urbanisierungsformen in Europa von denen in anderen Regionen unterscheiden lassen. Zur Benennung von spezifischen Stadttypen dient die Unterscheidung zwischen Okzident und Orient. Die europäische Stadt wird im Gegensatz zur ,orientalischen Stadt‘ konzipiert. In Anknüpfung an die Überlegungen des postkolonialen Theoretikers Edward Saids in Orientalism (1979) arbeitet Engin Fahri Işın in seinem Essay „Historical Sociology of the City“ diese Differenzierung heraus (2003). Er untersucht anhand der Arbeiten von urbanen Historikern und Soziologen wie Fustel de Coulanges, Max Weber und Lewis Mumford die Bezugnahme auf die und die Abgrenzung von der ,orientalischen Stadt‘. Demnach begriff Fustel die europäische Stadt als einen Ort der Religion, Weber verstand sie als einen Ort der Bürgerrechte und Mumford als einen Ort der Technologie. Dennoch laufen für Işın diese grundlegenden Arbeiten zum Verständnis der europäischen Stadt auf eine gemeinsamen Punkt zu. Allen ist gemein, dass sie zwischen civitas (die Stadt als Gemeinschaft) und urbs (die Stadt als Ort) unterscheiden und diese Differenz als fundamentalen Unterschied zur ,orientalischen Stadt‘ begreifen (Işın 2003: 313).

Mit dieser Unterscheidung erscheint die ,orientalische Stadt‘ als Bedrohung oder als unterentwickelt. Sie wird in der Regel als essentiell anders und minderwertig der europäischen Stadt gegenübergestellt. Die mit dieser kulturalisierenden Differenz einhergehende Aufwertung der europäischen Stadt begründet nach Ansicht der urbanen Historiker und Soziologen die Einzigartigkeit des Westens als Geburtsort des Kapitalismus. Hierdurch wird eine Differenz fixiert und scheinbar plausibel gemacht, die Işın als ‚soziologischen Orientalismus‘ identifiziert und die sich in die stadtsoziologischen Wissensbestände eingeschrieben hat. Darüber hinaus sei es für die Differenzierung zwischen einer europäischen und einer ,orientalischen Stadt‘ notwendig geworden, griechische, römische und mittelalterliche Städte als Prototypen zu reklamieren: „My focus in what follows, therefore, will be on the sociological orientalism that mobilized many of their interpretations of the essence of the occidental city, taking Greek, Roman and medieval cities as prototypes“ (ebd.: 315).

Die hier genannten Prototypen in ihren Bezügen zur Antike sind wiederum in eine Geschichtsschreibung eingebunden, die die Darstellung der Antike den politischen und ideologischen Prämissen seit Anfang des 20. Jahrhunderts anpasste. Der Geschichtswissenschaftler Martin Bernal (1987, 1996 u. 2006) untersuchte die Entstehung der klassischen Zivilisation, für die in der historischen Forschung zwei Modelle diskutiert wurden: das aryan model und das ancient model. Bis in die 1820er Jahre hinein galt das ancient modelin den historischen Wissenschaften als unbestritten. Mitte des 19. Jahrhunderts wird jedoch das aryan model bevorzugt und dominiert seither die Interpretation der Antike in den Geschichtswissenschaften, weil laut Bernal damit bestimmte Konzepte von Fortschritt, Romantik oder Rassismus verbunden sind (Bernal 2001: 4). Er plädiert zum Ende des 20. Jahrhunderts in seiner Arbeit jedoch für eine Interpretation der Befunde zugunsten eines revised ancient model, womit er seiner Ansicht nach einen wissenschaftlichen Streit ausgelöst hat, in dem seine Kontrahenten nicht mehr den Dialog suchen, sondern nur darauf aus sind, seine Forschungsergebnisse zu diskreditieren. Als Reaktion auf diese Auseinandersetzung führt er in seinem Buch Black Athena Writes Back (2001) aus, wie politische und ideologische Prämissen die Interpretation historischer Forschung beeinflusst haben, und skizziert die Entwicklung historischer Interpretationsmodelle entlang ideologisch-motivierter Erzählungen von der Welt. Denn seiner Ansicht nach lagen für die Ablösung des aryan model durch das ancient model weniger neue wissenschaftliche Evidenzen vor, sondern vielmehr führten ideologische Motive zu dieser neuen Interpretation der antiken Geschichte in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Dieser kurze Exkurs in die Antikenforschung verweist beispielhaft auf die prominente Rolle der griechischen Antike in der Meistererzählung des aufgeklärten, demokratischen (weißen) Europa, zu der Bernal anmerkt:

„There is no doubt, however, that the Ancient model was discarded not because of any inherent defects but because it did not fit the nineteenth-century worldview. The Aryan model had the advantage that it made Greek history conform to what its proponents saw as the universal historical principle of perpetually unequal races.” (Bernal 2001: 10)

Neben den historiographischen Bezügen zur Antike im Selbstverständnis von Europa befasst sich Boaventura de Sousa Santos mit einem anderen wichtigen und zentralen Element europäischer Gesellschaften, nämliche der sozialen Theorie von der öffentlichen Sphäre. Er führt in seinem Essay „Public Sphere and Epistemologies of the South“ (2012) aus, dass es sich hierbei um eine der wichtigsten sozialen Theorien handelt und unterzieht diese einer dekolonialen Lektüre. Angesichts des zugrunde gelegten Universalismus von Öffentlichkeit fragt de Sousa Santos nach der Relevanz und Übertragbarkeit dieses Konzepts auf nichteuropäische Kontexte. Er kommt zu dem Schluss, dass hierfür eigene Perspektiven entwickelt werden müssen, weil die soziale Theorie von Öffentlichkeit einer Idee der europäischen Bourgeoisie zu Beginn des 18. Jahrhunderts entspringt (de Sousa Santos 2012: 62).

Gleichzeitig stellt er fest, dass es einen Widerspruch zwischen dem universellen Anspruch von Öffentlichkeit und der für koloniale Gesellschaften als unmöglich angenommenen Öffentlichkeit gibt. Die Grundlage für diesen Widerspruch bezeichnet er als abyssal divide, eine tiefe Trennung, die die Ambitionen der Kolonisierenden über die der Kolonisierten stellt und sie gleichzeitig als von diesen getrennt sieht. Die historische Grundlage dafür bilden Kolonialismus und Kapitalismus, weil sie die europäischen Bestrebungen in einen Anspruch universeller Gültigkeit verwandelten. Sein Hinweis auf die doppelte Funktion von Öffentlichkeit als globales und universelles Bestreben und zugleich exklusives Projekt der kolonisierenden Länder verweist auf die dem bürgerlichen Öffentlichkeitskonzept inhärente koloniale Logik:

„Both capitalism and colonialism converted such a localism into a global aspiration and a universal theoretical concept, at the same time that an abyssal divide between metropolitan and colonial societies made public sphere unthinkable in colonial societies and transformed such denial of universality into the vindication of the universal idea.“ (ebd.)

Die Hinterfragung der historiographischen Bezüge des Konzepts von europäischer Stadt ist notwendig, um nicht nur die eurozentristische Geschichtsschreibung zu ,provinzialisieren‘ (Chakrabarty 2000), sondern auch die Kontinuität orientalisierender Implikationen und die essentialisierende und kulturalisierende Spezifizität von Urbanität herauszuarbeiten. Wie sich diese epistemischen Voraussetzungen in den Problembeschreibungen städtischer Verhältnisse fortsetzen, soll im Folgenden ausgeführt werden.

Zur Aktualität von ,städtischem Orientalismus’

Hinweise, die für einen orientalisierenden Blick auf die postkolonialen ‚Anderen‘ in stadtsoziologischen Beschreibungen und Definitionen von gesellschaftlichen Problemen sprechen, liefert Stephan Lanz in seinem Aufsatz „Mythos europäische Stadt – Fallstricke aktueller Rettungsversuche“ (Lanz 2002). Er zeigt, dass in die Beschreibung von ‚problematischen Nachbarschaften‘ normative Vorstellungen von bürgerlicher und an den Werten der Mittelschicht orientierter Stadt einfließen und die Studien hierzu „methodisch hoch problematisch sind“ (ebd.: 67). Unter Verweis auf Loïc Wacquant und Edward Said bezeichnet Lanz diese Problembeschreibungen als „städtischen Orientalismus“, weil auf eine Kultur der ‚Anderen‘ verwiesen wird, hierbei Bilder von einer hohen Konzentration von Problemgruppen aufgerufen werden, die vor allem in ihren Abweichungen von dominanten Vorstellungen von Stadt(-gesellschaft) betrachtet werden.

Obwohl die Kennzeichnung der proletarischen Bevölkerung als ,deviant‘ oder als ,gefährliche Klasse‘ ein altbekanntes Muster in der Stadtpolitik ist, hat die Beschreibung der Devianz, ausgehend von orientalisierenden Motiven, eine neue Qualität, die mit der Ethnisierung und Kulturalisierung sozialer Verhältnisse in der Stadt einhergeht. Mit dieser Problembeschreibung wird einer territorialisierten Stadt- und Sozialpolitik Vorschub geleistet, die bestimmte Gebiete stigmatisiert und im öffentlichen Diskurs problematisiert, ohne die diskriminierenden Effekte der Arbeits-, Wohnungs- und Bildungsmärkte in den Blick zu nehmen und zu reflektieren. So greift auch Vassilis Tsianos (2013: 22) in seinem Artikel „Urbane Paniken. Zur Entstehung des antimuslimischen Urbanismus“ Fragen von städtischer Orientalisierung auf. Er sieht in der Verschränkung der „Figur der Integration in Deutschland“ und dem „sozialwissenschaftlichen Ghetto-Diskurs“ die Voraussetzung von städtischen Bedrohungsszenarien, die er wiederum als „antimuslimischen Urbanismus“ bezeichnet. Anhand eines Beispiels aus Hamburg St. Georg beschreibt er die Verknüpfung von schwul-lesbischen Politiken mit Fragen von Sicherheits- und Stadtpolitik, die sich gegen die vermeintlich homophoben ‚Anderen‘ wenden und eine politische Allianz mit den städtischen Eliten zulasten der muslimischen Bevölkerung eingehen. In ähnlicher Richtung argumentiert auch Jin Haritaworn (2010). Er betrachtet aus einer queeren Perspektive vermeintlich progressive Stadtpolitiken in Berlin zugunsten von schwul-lesbischen Gruppen, die gleichzeitig mit einem rassistischen Backlash gegenüber den ‚Anderen‘ verknüpft sein können (vgl. zu diesem Themenkomplex auch Yilmaz-Günay 2011). Haritaworn und Tsianos beziehen sich auf die Vorarbeit von Jasbir Puar (2007) und deren Theoretisierung von Homonormativität. Homonormativität bezeichnet demnach die Integration schwul-lesbischer Sexual- und Gleichstellungspolitiken in nationale (und städtische) Regime nach dem 11. September 2001, die mit der rassifizierenden Abgrenzung von kulturell ‚Anderen‘ einhergeht.

Haritaworn verweist darauf, dass dem stadtplanerischen Paradigma der ,sozialen Mischung‘ eine koloniale Logik zugrunde liegt, da es insbesondere in migrantisch geprägten Quartieren zur Anwendung kommt und die Verdrängung von Bewohner_innen aus langjährig gewachsenen Nachbarschaften forciert, indem diese als degeneriert, kriminell und verarmt beschrieben werden (Haritaworn 2012: 121). An anderer Stelle haben Andreas Schneider und ich aus einer rassismuskritischen Perspektive untersucht, wie im Rahmen von stadtsoziologischer Forschung in Hamburg städtische Gebiete beschrieben werden. Zur Identifizierung von sozialen Problemlagen in der Stadt wurde auch der Anteil von ,Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund‘ kartiert, wobei diese Kategorie die Verschiedenartigkeit von Migrant_innen übergeht und grob verallgemeinert. Hier wird deutlich, wie mit einer als universell geltenden weißen Position ethnisierte gesellschaftliche Verhältnisse stabilisiert und planerisch festgeschrieben werden (Ha/Schneider 2014).

Diese stadtsoziologischen Be- und Zuschreibungen legitimieren eine Stadtentwicklungspolitik zugunsten einer ‚sozialen Mischung‘, die nur für spezifische Gebiete in der Stadt – nämlich die migrantisch geprägten Quartiere – gefordert wird. Diese Legitimation führt soweit, dass das deutsche Antidiskriminierungsgesetz (Allgemeines Gleichstellungsgesetz/AGG) eine Ausnahme für den Schutz vor Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt unter dem sehr vagen Verweis auf „sozial stabile“ und „ausgeglichene […] Verhältnisse“ vorsieht.[6] Die Aufhebung des Diskriminierungsschutzes steht jedoch im drastischen Widerspruch zu den Diskriminierungserfahrungen von Menschen mit Migrationshintergrund auf dem Wohnungsmarkt (Kowalski et al. 2006, Kilic 2008). Die wenigen hierzu durchgeführten Studien zeigen, dass gerade ein Diskriminierungsschutz auf dem Wohnungsmarkt dringend nötig wäre, um sowohl die Gleichbehandlung als auch die Selbstbestimmung von verschiedenen Menschen in der Stadt zu gewährleisten. Daher kritisiert der Berichterstatter des UN Human Rights Councils (Muigai 2010) diesen Paragraphen des AGG, weil gerade dort eine Ausnahme vom Diskriminierungsschutz gemacht wird, wo auf dem Wohnungsmarkt problematische Formen der Diskriminierung vorliegen.

Die obigen Darstellungen zur Kontinuität von städtischem Orientalismus im Kontext der europäischen Stadt verweisen auf wissenschaftliche Analysen von städtischen Problemen, die zur Kulturalisierung und Ethnisierung sozialer Problemlagen führen. Darüber hinaus sind diese Arbeiten in gewisser Weise auch für diskriminierende Effekte auf dem Wohnungsmarkt verantwortlich, wenn Menschen ihre langjährigen Nachbarschaften unfreiwillig verlassen müssen, aber zugleich keinen Schutz durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz genießen. Insofern basieren die orientalisierenden Implikationen der europäischen Stadt, wie sie sich in aktuellen Problematisierungen von städtischen Quartieren äußern, nicht nur auf einer Zuschreibung derjenigen, die von ,außen‘ kommen – sondern diese Implikationen sind konzeptionell in das soziologische Verständnis der europäischen Stadt eingeschrieben. Die epistemischen Voraussetzungen zum Verständnis der europäischen Stadt spezifizieren eine eurozentristische Geschichtsschreibung, die ich im Folgenden in ihrer Kolonialität weiter untersuchen werde.

Die europäische Stadt als ,Contact Zone’

Um die ambivalente Gleichzeitigkeit asymmetrischer Machtverhältnisse in der europäischen Metropole theoretisch fassen zu können, werde ich mich in einem weiteren Schritt auf ein Konzept von Marie Louise Pratt beziehen. Sie theoretisiert in ihren Arbeiten Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation (1992) und Apocalypse in the Andes: Contact Zones and the Struggle for Interpretive Power (1996) die ,Contact Zone‘ als eine räumliche Formation, in der die kolonialen Machtverhältnisse eingeschrieben sind und weiter fortwirken. Die ,Contact Zone‘ beschreibt Orte und Gebiete, wo Menschen zueinander in Kontakt kommen, obwohl sie aufgrund von historischen, kulturellen und geographischen Kontexten vorher voneinander getrennt waren. Den Begriff der ,Contact Zone‘ entwickelte Marie Louise Pratt, um die räumlichen Formationen, in denen Begegnungen zwischen Kolonisierten und Kolonisierenden stattfinden, zu beschreiben. Mit ihrem Konzept stellt sie zwar die Interaktion, das Gespräch und die Kommunikation in den Vordergrund, hebt aber dennoch die grundlegende Einbindung in kolonial-asymmetrische Machtverhältnisse hervor, die für diese Kontakte konstitutiv sind: ,Contact Zones‘ „refer[s] to the space of colonial encounters, the space in which peoples geographically and historically separated come into contact with each other and establish ongoing relations, usually involving conditions of coercion, radical inequality, and intractable conflict” (Pratt 1996: 6).

Zwischen den kolonialen und kolonisierten Gesellschaften liegen also nicht nur territoriale, sondern auch kulturelle, ökonomische, politische und historische Distanzierungen. Diese kolonialen Distanzierungen werden nicht nur über die Entfernung zwischen den Metropolen und den Kolonien oder zwischen dem Zentrum und den Peripherien aufrechterhalten, sondern auch innerhalb der Metropolen. Daher beschreibt der Begriff der ,Contact Zone‘ die Gleichzeitigkeit von Entfernung und Nähe, von Distanz und Kontakt, von Geschichte und Entwicklung in den Metropolen Europas, die eng mit der ,Kolonialität der Macht‘ verbunden sind. Vor diesem Hintergrund konzeptualisiert Pratt eine Form des Kontaktes, der ständig verunmöglicht, falsch interpretiert und fast unüberwindbar erscheint – und dennoch findet eine gegenseitige Bezugnahme statt. Diese gegenseitige Bezugnahme nimmt Pratt in den Fokus und benennt sie als ,Contact‘, der aber auf einem asymmetrischen und kolonialen Verhältnis beruht, ausgedrückt in dem Begriff der ,Zone‘.

Das Konzept der ,Contact Zone‘ bietet somit einen Rahmen, um die Kolonialität von Begegnungen und deren Voraussetzungen als räumliche Konstellationen zu analysieren. Mit dieser analytischen Perspektive werden nicht nur die Begegnungen und die Kontakte betrachtet, sondern auch ihre historischen und kolonialen Voraussetzungen. Was de Sousa Santos als abyssal divide beschreibt, nennt Pratt einen enormous gulf, der zwischen den kolonialen und den kolonisierten Gesellschaften läge und immer wieder neu gefüllt bzw. vertieft werde, solange die Historizität von Kolonialismus nicht dekolonisiert wird und die rassifizierten, ethnisierten, vergeschlechtlichten und sexualisierten Metaphern und Lebensverhältnisse auch in den Städten Europas fortgeschrieben werden.

Das Humboldt-Forum im postkolonialen Europa

Ein Beispiel für die aktuelle Relevanz der ,Contact Zone‘ in Berlin ist die Auseinandersetzung mit Kolonialismus und nationaler Repräsentation als Teil der Debatte um das Humboldt-Forum und dem anvisierten Umzug der Sammlung des Ethnologischen Museums aus der Berliner Peripherie von Dahlem nach Berlin-Mitte. Das Konzept des Humboldt-Forums sieht vor, dass dort ein Raum zum „Dialog der Kulturen der Welt“ zwischen der außereuropäischen Kunst, der europäischen Kunst als Hochkultur (Museumsinsel) und den Wissenschaften (Humboldt-Universität) geschaffen wird. Man beruft sich mit diesem Beziehungsdreieck auf das Konzept des „Universalmuseums“. Hierbei handelt es sich um eine Museumstradition des 19. Jahrhunderts, die tief in der westlichen Tradition verwurzelt ist, die Welt entdecken, beforschen, kartieren und archivieren zu wollen (Bose 2013).

Der Standort des Humboldt-Forums befindet sich nur wenige hundert Meter Luftlinie von dem Ort entfernt, an dem im Jahr 1884/85 die Afrika-Konferenz stattfand. Hier teilten die europäischen Nationen die afrikanischen Staaten untereinander wie einen Kuchen auf, um sich die dort vorhandenen Ressourcen zu sichern. Die damals verhandelten Grenzverläufe zwischen den Staaten sind bis heute wirksam und ‚erfanden‘ eine Reihe afrikanischer Nationen. Der Film von Hito Steyerl „Die leere Mitte“ (1998) schildert eindrücklich die Verwobenheit der Berliner Stadtgeschichte mit diesem kolonialen Erbe, welches sich nicht nur räumlich, sondern auch in aktuellen Auseinandersetzungen um Fragen von Migration und Erinnerungs- bzw. Entinnerungspolitik in Bezug auf den Kolonialismus widerspiegelt. In diesem Dokumentarfilm kombiniert Steyerl historisches Material mit aktuellen Beobachtungen zu einer dichten Beschreibung, nicht nur eines Ortes (der Berliner Mitte), sondern auch der deutschen Gesellschaft kurz nach der Wiedervereinigung in den 1990er Jahren.

Es ist daher wichtig, die Errichtung des Humboldt-Forums im Kontext der Identitätssuche einer Nation zu sehen, die nach der Wiedervereinigung sich in der europäischen Stadt repräsentiert sehen wollte. Die Transformation von Berlin zur Hauptstadt ist in diesen Prozess der Wiedervereinigung eingebettet und knüpft nicht nur an Formen der neoliberalen Governance in Zeiten der Globalisierung, sondern auch an national-repräsentationspolitische Debatten an (Binder 2009). In der neuen Darstellung Berlins als wiedervereinigte Stadt, die das Ende des Kalten Krieges symbolisierte, wurde Berlin als europäische Stadt entworfen. Dieses städtebauliche Leitbild wurde vor allem von Architekt_innen, Stadtplaner_innen und der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung benutzt und von Stadtsoziolog_innen theoretisch unterfüttert. Der Umbau von Berlin zu einem national-repräsentativen Stadtraum konzentrierte sich auf die historische Mitte Berlins, die vom Berliner Dom bis zum Brandenburger Tor reicht und in etwa dem alten Bezirk Mitte entspricht. Die städtebauliche Entwicklungsplanung wurde von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung erstmals im Planwerk Innenstadt (1999) festgeschrieben, überarbeitet und aktualisiert:

„Das Planwerk erfindet die Stadt nicht neu, sondern entdeckt verschüttete Lebensadern der Berliner Innenstadt wieder. Der in der europäischen Städtebautradition stehende, notwendige Stadtumbau, der sich an der Gliederung der Stadt in Straße, öffentlicher Park und Platz sowie Blockbebauung orientiert, respektiert dabei den Bestand und kommt ohne Abriss aus.“ (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz Berlin 1999)

Virag Molnar schreibt in ihrem Artikel „The Cultural Production of Locality: Reclaiming the ‚European City‘ in Post-Wall Berlin“ über die Produktion der europäischen Stadt und stellt fest, dass sich deren Definition als „eine konstante Mischung aus empirischer Realität, konzeptuellen Konstruktionen und normativen Repräsentationen“ darstellt (Molnar 2010: 285; Übers. d. A.). Das Bild der europäischen Stadt bezieht sich auf bürgerliche, wilhelminische und klassizistische Architekturstile mit starken historischen Bezügen zur Gründerzeit. Das Bild der Zukunft speist sich aus einem Rückgriff auf eine entferntere Vergangenheit, die vor jener beunruhigenden Zeit des Nationalsozialismus und der darauffolgenden Teilung Deutschlands in zwei Staaten lag. Dabei wird eine historische Kontinuität konstruiert, die die Brüche der Vergangenheit verschleiert. Mit diesem Rückgriff wird darüber hinaus eine historische Kontinuität erzeugt, die die Zentrierung und Repräsentation einer bürgerlichen Identität herleitet und mit einer spezifischen städtischen urbanen Form, nämlich dem Architekturstil und dem Städtebau der Gründerzeit, verknüpft.

In diesen historischen Bezügen von Architektur und Städtebau, die eine kritische und verantwortungsvolle Auseinandersetzung mit dem Erbe der deutschen Geschichte von Diktatur und Kolonialismus im städtischen Raum ausschließt, wird das Humboldt-Forum als ein Ort konzipiert, an dem die außereuropäischen ‚Anderen‘ mit dem hochkulturellen Europa „in einen Dialog“ kommen sollen – wie auf den Webseiten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu lesen ist. Diese konzeptuelle Voraussetzung blendet jedoch grundsätzliche Fragen aus, wie die Frage nach der Herkunft der Objekte in den Sammlungen des Ethnologischen Museums oder die gesellschaftspolitische Erkenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und die außereuropäischen ‚Anderen‘ schon lange innerhalb der kolonialen Metropolen leben und aufgrund von kolonialen Beziehungen Teil dieser Gesellschaften sind.

Insgesamt hat seit einigen Jahren die Artikulation postkolonialer Themen und Fragestellungen in der deutschen Öffentlichkeit und in verschiedenen Städten zugenommen. Davon zeugen auch die verschiedenen Vereine wie freiburg-postkolonial.de, der Arbeitskreis Hamburg Postkolonial, [muc] München postkolonial und Postkolonial Berlin. Sie setzen sich dafür ein, die Verbindungen von Straßennamen, Plätzen und Denkmälern zur deutschen Kolonialgeschichte herauszuarbeiten, und plädieren für eine verantwortungsvolle Namenspolitik in der Stadt, die auch die Perspektiven der Opfer von kolonialer Gewalt mit einschließt. Ein Ergebnis dieses Perspektivenwechsels ist die Umbenennung des Gröbenufers in Berlin-Kreuzberg in May-Ayim-Ufer. Die Umbenennung war das Ergebnis einer politischen und historischen Auseinandersetzung, die eine kritische Erinnerung an die deutsche Kolonialgeschichte einforderte (Aikins 2012). Mit dem neuen Namen wird der afrodeutschen Dichterin May Ayim, die im Jahr 1996 mit 36 Jahren verstarb, gedacht. Damit wird auch die lange Geschichte und historische Präsenz von Schwarzen Menschen in Deutschland gewürdigt.

Die repräsentationspolitischen Auseinandersetzungen sowohl um die Herkunft der ethnologischen Sammlung im zukünftigen Humboldt-Forum als auch um die Namen von Straßen und Plätzen, die auf einer kolonialen Geschichtserzählung basieren, verweisen auf Fragen der Identität und historischer Verantwortung als Fragen des Zusammenlebens in der Stadt. Während unterschiedliche Gruppen einen umsichtigen Umgang mit der deutschen Kolonialgeschichte einfordern,[7] sind diese Debatten zugleich in einen (Macht-)Raum eingeschrieben, der koloniale Logiken (re-)produziert und nur peu à peu infrage gestellt wird (Ha 2005). Die kolonialen Logiken verweisen auf die kaum überbrückbare Kluft, die immer noch zwischen den Positionalitäten von Schwarzen Menschen, postkolonialen Migrant_innen und Menschen of Color auf der einen und weißenEuropäer_innen auf der anderen Seite besteht. Die Umbenennung des Berliner Gröbenufers in May-Ayim-Straße zeigt aber auch politische Handlungsmöglichkeiten und Perspektiven der Dekolonisierung im städtischen Kontext auf.

Postkoloniale Kritik und dekoloniale Ansätze haben in den vergangenen Jahren auch Eingang in die Museumsstudien gefunden und werfen wichtige aktuelle gesellschaftspolitische Fragen von Repräsentation, Identität und Selbstverständnis auf (Kazeem et al. 2009, Torres 2011). Einzelne Museen greifen diese auf und setzen sich kritisch mit ihrer eigenen Verantwortung auseinander, indem sie die Konzeption von Ausstellungen und Blickregimen hinterfragen. Nicht nur können die ethnologischen Sammlungen bzw. deren Ausstellungsorte zu ,Contact Zones‘ werden, in denen enteignetes Wissen über ,Andere‘ katalogisiert und dargestellt wird, sondern, wie das Beispiel des Humboldt-Forums zeigt, sind diese Sammlungen ferner in stadtpolitische Debatten eingebunden, die die europäische Stadt als ,Contact Zone‘ reproduzieren. Diese Funktion als ,Contact Zone‘ wird auch mit einem Umzug der Ethnologischen Sammlung von der Berliner Peripherie nach Berlin-Mitte aufrechterhalten werden, weil die grundsätzliche Gegenüberstellung von Europa als einem Ort der Hochkultur und dem Rest der Welt nicht aufgehoben, sondern nur von einer unglaubwürdigen Rhetorik („Dialog der Welten“) abgelöst wird, die die unüberwindbare Kluft der ,Contact Zone‘ kaum überbrücken kann – während wichtige Fragen nach Provenienz und Restitution in den westlichen Gesellschaften kaum gestellt, geschweige denn beantwortet werden. Das koloniale Verhältnis als Voraussetzung der ‚Contact Zone‘ lässt sich in den Metropolen nicht nur am Standort der ethnologischen Museen und an deren Inhalten identifizieren, sondern auch an der Prekarität der Kämpfe von geflüchteten Menschen im öffentlichen Raum europäischer Städte. Die Voraussetzungen für die Flucht, für die Überwindung der europäischen Grenzen und für den Aufenthaltsstatus sind gekennzeichnet vom historischen Erbe des Kolonialismus und von der anhaltenden Kolonialität der Macht, auf die ich im Folgenden eingehen werde.

Proteste von geflüchteten Menschen im öffentlichen Raum

Seit vielen Jahren protestieren geflüchteten Menschen in Europa gegen ihre Kriminalisierung aufgrund eines fehlenden offiziellen Aufenthaltsstatus und fordern ihr Recht auf Bewegungsfreiheit ein. Im Jahr 2012 erlangte der Protest der geflüchteten Menschen in Deutschland eine breitere Aufmerksamkeit, weil sie aus den verschiedenen Orten der Bundesrepublik zu einem Marsch nach Berlin aufriefen und monatelang unterwegs waren. Mit diesem Protest überschritten sie territoriale Begrenzungen, denen sie in Deutschland aufgrund der sogenannten Residenzpflicht unterworfen sind. Diese Form der Mobilitätseinschränkung ist in Europa einmalig und weist diejenigen, die hier Asyl suchen, bestimmten Gebieten zu, die sie nur mit einer amtlichen Genehmigung verlassen dürfen.[8] Mit ihrem Marsch skandalisierten die Flüchtlinge nicht nur ihre räumliche Beschränkungen, sondern protestierten auch gegen ihre mangelhafte Unterbringung und die Fortifizierung der Grenzen Europas, die viele nicht überleben.

Bei den Protestierenden handelte es sich um Menschen, die sonst keine Möglichkeit zur politischen Partizipation und Teilhabe haben, weil sie weder über ein Aufenthaltsrecht noch über Arbeitsrechte noch über die Möglichkeit verfügen, sich an Wahlen zu beteiligen. Sie zerrissen ihre Ausweise, die sie als Menschen zweiter Klasse klassifizieren; sie überschritten die ihnen auferlegten Grenzen der Residenzpflicht; sie nähten sich die Münder zu, sie demonstrierten vor dem Brandenburger Tor und begannen einen Hungerstreik.[9] Dort auf dem Pariser Platz in der historischen Mitte von Berlin protestierten sie über mehrere Tage lang gewaltfrei für ihr Recht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

Am Ende jedoch sahen auch sie sich recht schnell mit der kolonialen Logik des öffentlichen Raums und dem staatlichen Gewaltmonopol konfrontiert. Die Polizei und die für den Pariser Platz zuständigen bezirklichen Behörden argumentierten mal mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz (protestierende Flüchtlinge würden nicht anders behandelt als sonstige Demonstrierende) und mal mit dem Argument der Null-Toleranz. Obwohl von dem Protest im Winter 2012 keine Gewalt ausging, wurde die Nutzung von Zelten, Schlafsäcken und Isomatten verboten wie auch das Sitzen und Hinlegen. Dieses willkürliche Verbot wurde rigoros von der Polizei durchgesetzt.[10] Es galt der Grundsatz: Demonstriert werden darf nur im Stehen, egal zu welcher Tages- und Nachtzeit. Es durfte kein Camp auf dem Pariser Platz errichtet werden, weil man darin eine Form der ,Inbesitznahme‘ von öffentlichem Raum sah, was deren ,Eigentümer‘, das Bezirksamt Mitte, nicht dulden wollte. Diese Erlaubnispflicht ergibt sich aus der juristischen Architektur des öffentlichen Raumes. Dieser befindet sich laut Straßenrecht im privaten Eigentum der öffentlichen Institutionen. Der öffentlich verbriefte Zugang als Gemeingebrauch ist nur auf die verkehrliche Nutzung beschränkt,[11] alle anderen Nutzungen sind sogenannte Sondernutzungen und müssen daher genehmigt werden. Das Grundrecht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit wurde in diesem Fall von den Behörden sehr eng ausgelegt, was diejenigen, die aufgrund ihres rechtlichen Status äußerst begrenzte Möglichkeiten und Mittel haben, ihre Rechte einzufordern, umso empfindlicher traf.

Der hier beschriebene Protest legt nicht nur die städtischen Besitz- und Gewaltverhältnisse in von neoliberalen Grundsätzen geprägten Städten offen (Harvey 2012), sondern verweist auch auf die postkolonialen Grenzregime innerhalb Europas, wozu die Militarisierung der europäischen Außengrenzen zur Abschreckung von Menschen aus dem Globalen Süden zählt, aber auch die gezielte Isolierung von geflüchteten Menschen über die Unterbringung in Lagern sowie ihre Kriminalisierung, wenn sie gegen die staatlichen Auflagen und Maßnahmen zur Mobilitäts- und Aufenthaltskontrolle verstoßen. Dieses Grenzregime wird durch eine Entsolidarisierung innerhalb der Europäischen Union bestärkt (siehe die Dublin-III-Verordnung), weil der Zugang zum Recht auf Asyl in den sogenannten Ankunftsstaaten reguliert werden soll, dieses Recht aber nicht in allen Ländern gewährleistet ist. Aufgrund dieser Bestimmung sind die südlichen Länder Europas in der Situation, wesentlich mehr Flüchtlinge als die nördlichen Staaten aufnehmen und versorgen zu müssen. Mit dieser Verantwortung werden sie mehr oder minder allein gelassen,[12] obwohl sie für die Überwachung der europäischen Außengrenzen Unterstützung erfahren. Die Frage nach den postkolonialen Verhältnissen ist hier insofern relevant, als europäische Städte sich in ethnisierenden und rassifizierenden Diskursen über ,ihre Migranten‘ gegenseitig unterrichten und verschiedene Sozial- und Sicherheitspolitiken[13] umsetzen, um ungewollte Zuwanderer_innen zu kontrollieren und zu bewachen. Auf diese Weise entwickeln sie eigene Grenzregime.

Der Pariser Platz in Berlin wurde im Moment des Hungerstreiks zu einer Art ,Contact Zone‘ in der europäischen Stadt, wo sich die unüberwindbare Kluft zwischen denjenigen, die ihr Recht auf Selbstbestimmung und Bewegungsfreiheit einfordern, und denjenigen, die Gesetz und Ordnung im öffentlichem Raum zur Geltung bringen wollen, offenbart – ein Verhältnis, das durch die Kolonialität der Macht strukturiert ist. Der Kontakt zwischen beiden Seiten basiert auf einem asymmetrischen globalen Machtverhältnis, das sich entlang territorialer Grenzen (Europa), sozialer Grenzen (Armut) und ethnischer Grenzen (Migration) artikuliert und hierdurch stabilisiert wird.

Diskussion

Wie ich eingangs ausgeführt habe, beinhaltet meiner Ansicht nach ,urbane Dekolonisierung‘ sowohl eine rassismuskritische Analyse städtischer Verhältnisse als auch die Hinterfragung der Voraussetzungen und der impliziten Historiographie kolonialer Epistemologien, um die Reproduktion von Rassismus als koloniales Erbe in der Stadt identifizieren zu können. Daher habe ich aus einer dekolonialen und rassismuskritischen Perspektive am Beispiel von Berlin die ,Kolonialität der Macht‘ nachzuzeichnen versucht. Aus einer dekolonialen Perspektive stehen die universalisierenden Theoreme der europäischen Aufklärung von Fortschritt, Moderne und Demokratie in einem engen Verhältnis zum Kolonialismus und Kapitalismus, die wiederum grundlegend für die Produktion von Rassismus sind.

Für eine postkoloniale Stadtforschung bilden die historiographischen Bezüge einer traditionellen Konzeptualisierung von europäischer Stadt einen Anlass, sich selbstkritisch mit ihren verschiedenen Implikationen auseinanderzusetzen. Diese Implikationen habe ich in ihrer Relevanz für gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen aufgezeigt, um die stadtsoziologische Beforschung von Migration und Stadt zu ,dekolonisieren‘. Darüber hinaus habe ich das Konzept der ,Contact Zone‘ herangezogen, um ein tiefer gehendes Verständnis der europäischen Stadt zu entwickeln. In den europäischen Städten werden koloniale Logiken mobilisiert, wenn die Körper von geflüchteten Menschen aus dem Globalen Süden mittels Residenzpflicht und racial profilingkontrolliert und ihre Proteste kriminalisiert werden. Gleichzeitig wird in unmittelbarer Nähe zu diesen Protesten ein Ort des „Dialogs der Kulturen der Welt“ geplant, der die postkolonialen Implikationen geradezu unterschlägt und kein Interesse an einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Geschichte erkennen lässt.

Die europäische Stadt ist ein Ort, an dem sich Menschen begegnen und Kontakt zueinander aufnehmen können – aber zwischen ihnen liegt weiterhin eine Kluft, die sie aufgrund ökonomischer, sozialer und historischer Gründe auf verschiedenste Positionalitäten und Hierarchiestufen verweist. Koloniale Begegnungen haben nicht nur in der vergangenen Zeit des Kolonialismus und den damals kolonisierten Peripherien stattgefunden, sondern man findet sie auch heute noch, nicht zuletzt mitten in den europäischen Metropolen. Obwohl ich ein Hier und Jetzt beschreibe, droht sich das koloniale Beziehungsverhältnis als eine ‚endlose Kluft‘ immerzu fortzuschreiben. Die (ehemaligen) kolonialen Metropolen verfügen über die Macht der Definition und Interpretation durch die Universalisierung epistemischer Prämissen, die es zu ,dekolonisieren‘ gilt.

„There seems to be an enormous gulf between how indigenous societies are described by western researchers and how indigenous peoples experience themselves and their worlds. The gulf gets filled by the metropolis through endless mechanisms for appropriating indigenous experience, history and culture.“ (Pratt 1996: 2)

Vor diesem Hintergrund sehe ich sowohl die weiter oben beschriebenen Proteste als auch die postkoloniale Kritik am Humboldt-Forum als eine zeitgenössische Auseinandersetzung in der ,Contact Zone‘, in der sich die ,Kolonialität der Macht‘ in den europäischen Metropolen manifestiert und reproduziert. Darüber hinaus werden mit dem Konzept der ,Kolonialität der Macht‘ nicht nur Aspekte der nationalen Repräsentation und der lokalen Politik erfasst. Hier geht es auch um neoliberale Konzepte von Stadt und der Produktion von urbanen Räumen, die das Ziel verfolgen, diese mehr und mehr in Waren zu verwandeln und möglichst vorteilhaft im globalen Wettbewerb zu platzieren. Gerade durch die Berücksichtigung der kolonialen Kontinuitäten in politökonomischen Analyse städtischer Verwertungsprozesse wird die Verwicklung und Verdichtung unterschiedlicher Regime der Unterdrückung für spezifische Körper in denselben Räumen einer Stadt deutlich.

Endnoten

Autor_innen

Noa Ha ist eine interdisziplinäre und kritische Stadtforscherin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind öffentlicher Raum, Informalität, Straßenhandel, rassismuskritische Ansätze/Critical Race Theory, dekoloniale Theorie und Postkoloniale Theorie.

Noa.Ha@metropolitanstudies.de

Literatur

Agency for Fundamental Rights (2010): Polizeikontrollen und Minderheiten. Luxemburg: Amt für Amtliche Veröffentlichung der Europäischen Gemeinschaften.

Aikins, Joshua Kwesi (2012): Berlin Remix – Straßenumbenennungen als Chance zur postkolonialen Perspektivumkehr. In: Kien Nghi Ha (Hg.), Asiatische Deutsche – Vietnamesische Diaspora and beyond. Berlin/Hamburg: Assoziation A, 288-304.

Avermaete, Tom / Karakayali, Serhat / Osten, Marion von (Hg.) (2010): Colonial Modern: Aesthetics of the Past-Rebellions for the Future. London: black dog publishing.

Bender, Dominik / Bethke, Maria (Dezember 2012): Zehn Jahre Dublin, kein Grund zum Feiern. Zur Umsetzung der Dublin-II-Verordnung in Deutschland. Hessischer Flüchtlingsrat, unter: http://www.dublin-project.eu/dublin/content/download/6218/75674/version/3/file/National_Report_Germany_final_dt%5B1%5D.pdf. (letzter Zugriff am 27.2.2014)

Bernal, Martin (1987): Black Athena 1. The Afroasiatic Roots of Classical Civilization. New Brunswick: Rutgers University Press.

Bernal, Martin (1996): Black Athena 2. The Archaeological and Documentary Evidence. New Brunswick: Rutgers University Press.

Bernal, Martin (2006): Black Athena 3. The Afroasiatic Roots of Classical Civilization. The Linguistic Evidence. New Brunswick: Rutgers University Press.

Bernal, Martin (2001): Black Athena Writes Back: Martin Bernal Responds to his Critics. Durham: Duke University Press.

Binder, Beate (2009): Streitfall Stadtmitte: Der Berliner Schlossplatz. Köln: Böhlau Verlag.

Boittin, Jennifer (2010): Colonial Metropolis: the Urban Grounds of Anti-imperialism and Feminism in Interwar Paris. Lincoln: University of Nebraska Press.

Bonnett, Alastair (2002): The metropolis and white modernity. In: Ethnicities 2, 349-366.

Bose, Friedrich (2013): The Making of Berlin‘s Humboldt-Forum: Negotiating History and the Cultural Politics of Place. In: darkmatter Journal, unter: http://www.darkmatter101.org/site/2013/11/18/the-making-of-berlin%E2%80%99s-humboldt-forum-negotiating-history-and-the-cultural-politics-of-place/.

Chakrabarty, Dipesh (2000): Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton: Princeton University Press.

Clarke, Colin (2006): Decolonizing the Colonial City: Urbanization and Stratification in Kingston, Jamaica. Oxford u. a.: Oxford University Press.

Cohen, Jean-Louis / Eleb, Monique (2002): Casablanca: Colonial Myths and Architectural Ventures. New York: Monacelli Press.

Cross, Malcolm / Keith, Michael (Hg.) (1993): Racism, the City and the State. New York/London: Routledge.

Diallo, Oumar / Zeller, Joachim (Hg.) (2013): Black Berlin: Die deutsche Metropole und ihre afrikanische Diaspora in Geschichte und Gegenwart. Berlin: Metropol Verlag.

Eggers, Maisha Maureen / Kilomba, Grada / Piesche, Peggy / Arndt, Susan (Hg.) (2005): Mythen, Masken und Subjekte – Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast Verlag.

Glover, William J. (2008): Making Lahore Modern: Constructing and Imagining a Colonial City. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Grosfoguel, Ramón (2003): Colonial Subjects: Puerto Ricans in a Global Perspective. Berkeley: University of California Press.

Gutiérrez Rodríguez,  Encarnación /Boatcă, Manuela / Costa, Sérgio (Hg.) 2012: Decolonizing European Sociology: Transdisciplinary Approaches. Farnham: Ashgate Publishing.

Ha, Kien Nghi (2003): Die kolonialen Muster deutscher Arbeitsmigrationspolitik. In: Hito Steyerl / Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hg.), Spricht die Subalterne deutsch? Münster: Unrast Verlag, 56-108.

Ha, Kien Nghi (2005): Macht (t) raum (a) Berlin – Deutschland als Kolonialgesellschaft. In: Susan Arndt / Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche (Hg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast Verlag, 105-117.

Ha, Noa / Schneider, Andreas (i. E.): Kritisches Weißsein. In: Bernd Belina / Matthias Naumann / Anke Strüver (Hg.), Handbuch Kritische Stadtgeographie. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Haritaworn, Jin (2010): Queer Injuries: The Racial Politics of „Homophobic Hate Crime“ in Germany. In: Social Justice: A Journal of Crime, Conflict & World Order 37, 69.

Haritaworn, Jinthana (2012): The Biopolitics of Mixing: Thai Multiracialities and Haunted Ascendancies. Farnham: Ashgate Publishing.

Harvey, David (2012): Rebel Cities: From the Right to the City to the Urban Revolution. London/New York: Verso.

Häußermann, Hartmut / Läpple, Dieter / Siebel, Walter (2008): Stadtpolitik. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Heyden, Ulrich (2002): Kolonialmetropole Berlin: eine Spurensuche. Berlin: Berlin Edition.

Işın, Engin Fahri (2003): Historical sociology of the city. In: Gerard Delanty / Engin Fahri Işın (Hg.), Handbook of Historical Sociology. London: Sage, 312-325.

Jacobs, Jane M. (1996): Edge of Empire: Postcolonialism and the City. London/New York: Routledge.

Kazeem, Belinda / Martinz-Turek, Charlotte / Sternfeld, Nora (Hg.) (2009): Das Unbehagen im Museum: postkoloniale Museologien. Wien: Turia + Kant Verlag.

Keith, Michael (2005): Racialization and the public spaces of the multicultural city. In: Karim Murji / John Solomos (Hg.), Racialization. Studies in Theory and Practice. Oxford u. a.: Oxford University Press, 249-270.

Kilic, Emsal (2008): Diskriminierung von Migranten bei der Wohnungssuche: Eine Untersuchung in Berlin. Diplomarbeit.

King, Anthony D. (1990): Urbanism, Colonialism, and the World Economy: Cultural and Spatial Foundations of the World Urban System. London/New York: Routledge.

Knapp, Matthias (2003): Gemeingebrauch und Staatseigentum: Private und öffentliche Sachenrechte an öffentlichen Straßen. München: peniope.

Kowalski, Christoph / Krefft, Oksana / Velte, Solveig (2006): Die Wohnungssuche als Alltagsproblem von Menschen nicht-deutscher Herkunft. In: Eine empirische Untersuchung am Beispiel Köln, unter: http://heimatkunde.boell.de/sites/default /files/downloads/diversity/Bericht_Wohnungsvergabe.pdf.

Lanz, Stephan (2002): Mythos europäische Stadt – Fallstricke aktueller Rettungsversuche. In: Wolf-Dietrich Bukow / Erol Yildiz (Hg.), Der Umgang mit der Stadtgesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 63-77.

Lugones, Maria (2007): Heterosexualism and the colonial/modern gender system. In: Hypatia 22, 186-219.

Maetzky, Franziska / AG gegen Rassismus in den Lebenswissenschaften (2009): Gemachte Differenz: Kontinuitäten biologischer „Rasse“-Konzepte. Münster: Unrast Verlag.

McKittrick, Katherine / Woods, Clyde (Hg.) (2007): Black Geographies and the Politics of Place. Toronto: South End Press.

McLeod, John (2013): Postcolonial London: Rewriting the Metropolis. London/New York: Routledge.

Mignolo, Walter D. (2007): DELINKING: The rhetoric of modernity, the logic of coloniality and the grammar of de-coloniality. In: Cultural Studies 21/2-3, 449-514.

Molnar, Virag (2010): The Cultural Production of Locality: Reclaiming the ‚European City‘ in Post-Wall Berlin. In: International Journal of Urban and Regional Research 34, 281-309.

Muigai, Githu (2010): Report of the Special Rapporteur on contemporary forms of racism, racial discrimination, xenophobia and related intolerance, Githu Muigai, UNHCR, unter: http://www.ohchr.org/EN/Issues/Racism/SRRacism/Pages/ CountryVisits.aspx.

Osterhammel, Jürgen (1995): Kolonialismus: Geschichte, Formen, Folgen. München: C. H. Beck Verlag.

Prakash, Gyan (2010): Noir Urbanisms: Dystopic Images of the Modern City. Princeton: Princeton University Press.

Prakash, Gyan / Kruse, Kevin Michael (2008): The Spaces of the Modern City. Princeton: Princeton University Press.

Pratt, Mary Louise (1992): Imperial Eyes: Travel Writing and Transculturation. London/New York: Routledge.

Pratt, Mary Louise (1996): Apocalypse in the Andes: Contact Zones and the Struggle for Interpretive Power. Lecture. In: Encuentros 15, unter: http://idbdocs.iadb.org/wsdocs/getdocument.aspx?docnum=1774431.

Puar, Jasbir K. (2007): Terrorist Assemblages: Homonationalism in Queer Times. Durham: Duke University Press.

Quijano, Aníbal (2000): Coloniality of power and Eurocentrism in Latin America. In: International Sociology 15, 215-232.

Quijano, Aníbal (2007): Coloniality and modernity/rationality. In: Cultural Studies 21, 168-178.

Razack, Sherene (2002): Race, Space, and the Law: Unmapping a White Settler Society. Toronto: Between the Lines.

Robinson, Jennifer (2002): Global and world cities: a view from off the map. In: International Journal of Urban and Regional Research 26, 531-554.

Robinson, Jennifer (2006): Ordinary Cities: Between Modernity and Development. New York/London: Routledge.

Roy, Ananya / Ong, Aihwa (Hg.) (2011): Worlding Cities: Asian Experiments and the Art of Being Global. Malden u. a.: Wiley-Blackwell.

Said, Edward (1979): Orientalism. New York: Vintage Books.

Shaw, Wendy (2007): Cities of Whiteness. Malden u. a.: Blackwell Publishing.

Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie Berlin (1999): Planwerk Innenstadt [Berlin]. Städtebauliches Leitbild, unter: http://www.stadtentwicklung.berlin.de/planen/planwerke/de/planwerk_innenstadt/index.shtml.

Siebel, Walter (2006): Die europäische Stadt. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Simone, AbdouMaliq (2011): The ineligible majority: Urbanizing the postcolony in Africa and Southeast Asia. In: Geoforum 42, 266-270.

Sousa Santos, Boaventura de (2012): Public Sphere and Epistemologies of the South. In: Africa Development 37/1, 43-67.

Stuart, Andrea (2012): Sugar in the Blood: A Family‘s Story of Slavery and Empire. London: Portobello Books.

Torres, Andrea Meza (2011): The Museumization of Migration in Paris and Berlin and Debates on Representation. In: Human Architecture: Journal of the Sociology of Self-Knowledge 9/4, Article 3.

Tsianos, Vassilis (2013): Urbane Paniken: Zur Entstehung des antimuslimischen Urbanismus. In: Duygu Gürsel / Zülfukar Çetin / Allmende e.V. (Hg.), Wer MACHT Demokratie? Kritische Beiträge zu Migration und Machtverhältnissen. Münster: edition assemblage, 22-43.

Yeoh, Brenda S. A. (2001): Postcolonial cities. In: Progress in Human Geography 25, 456-468.

Yilmaz-Günay, Koray (Hg.) (2011): Karriere eines konstruierten Gegensatzes: Zehn Jahre „Muslime versus Schwule“ – Sexualpolitiken seit dem 11. September. Berlin: Eigenverlag.