GraffiCity – kreativer Protest, belonging und citizenship im Madrider Stadtteil Lavapiés

Eva Youkhana, Christian Sebaly

Einführung

Die Stadt Madrid durchläuft seit Mitte der 1990er Jahre einen äußerst dynamischen urbanen Transformationsprozess. Die Entwicklung hin zu einem internationalen Wirtschaftszentrum, dessen ökonomische Prosperität maßgeblich auf dem Wachstum und Ausbau des FIRE-Sektors[1] basiert, wurde erst durch die im Jahr 2008 einsetzende Krise erheblich gestört. Eine neoliberale Regierungspolitik auf lokaler Ebene, progressive Tertiarisierung sowie öffentlich geförderte Aufwertungsprozesse forcieren die Umgestaltung des Stadtkerns zu einem Schauplatz des Konsums, Tourismus und urbanen Spektakels (Díaz Orueta 2007, Pérez Quintana 2010, Feinberg 2011). Gleichzeitig unterliegt das gesamte sozialräumliche städtische Gefüge einem erheblichen Wandel im Zuge eines zunehmenden Bevölkerungsdrucks und diversen Segregations- und Gentrifizierungsprozessen (Cañedo Rodriguez 2007).

Das Arbeiter- und Migrantenviertel Lavapiés steht exemplarisch für die strategische Umgestaltung und Sanierung des historischen Stadtzentrums von Madrid. Die Restaurierung der historischen, symbolträchtigen Bausubstanz, gezielte Ansiedlungen öffentlicher Kultureinrichtungen, die Neugestaltung und lokalstaatliche Kontrolle des öffentlichen Raums sowie millionenschwere öffentliche Subventionen für den privaten Immobilienmarkt stellen die Kernpunkte der aggressiven Aufwertungsstrategie dar (Blume 2002). Eine Beteiligung der lokalen Bevölkerung ist in diesem Sanierungsprozess nicht vorgesehen, obwohl er massive Veränderungen der Wohn-, Miet- und Besitzverhältnisse zur Folge hat, die den strukturellen Ausschluss sozial und ökonomisch Schwacher von der Produktion von Stadt noch zu verschärfen drohen (ebd., Díaz Orueta 2007).

Als Reaktion auf diese sozialräumlichen Wandlungsprozesse haben sich jedoch opponierende Praktiken in Form eines kreativen Aktivismus herausgebildet, durch die Lavapiés zu einem sichtbar umkämpften Raum geworden ist. Mittels Straßenkunst und performativer Methoden des Protests werden öffentliche Räume symbolisch wieder angeeignet und wird das ‚Recht auf Stadt‘ seitens derjenigen artikuliert und eingefordert, die am meisten von den negativen Konsequenzen der Aufwertung betroffen und von grundlegenden Bürgerrechten wie Wahlbeteiligung, Arbeitsrechte oder Bildungschancen ausgeschlossen sind. Durch die verschiedenen Formen von urban art und Graffiti wird, wie es ein Sprayer aus der Szene in Madrid formuliert,[2] die Zugehörigkeit zu einem Ort artikuliert, nicht aber, wie oftmals vermutet, die Inbesitznahme des Ortes (wie dem Gang-Graffiti gern unterstellt wird). Bereits Erfahrungen aus den 1970er und 1980er Jahren mit Graffiti-Kunst in nordamerikanischen Großstädten haben gezeigt, dass kreative Praktiken im urbanen Raum zur Gesellschaftsveränderung beitragen können (Baudrillard 1978). Graffiti und urban art als eine Art Subgenre des Graffiti (Waldner/Dobratz 2013: 378) gelten seitdem nicht nur als eine Praxis von verschiedenen marginalisierten Bevölkerungsgruppen, um der eigenen Sprachlosigkeit sowie der sozialen, kulturellen und ökonomischen Ausgrenzung zu entkommen.[3] Dadurch dass die Künster_innen explizit (und in ihren Werken häufig auch implizit) politische Veränderungen einfordern, wird diese Artikulationsform im öffentlichen Raum zu einem „act of citizenship“ (Isin 2009: 367 ff.), einer politischen Handlung, die auf einen Bruch und Neubeginn durch Selbstermächtigung (empowerment) ausgerichtet ist und somit die Individuen erst zu Bürger_innen macht.[4]

Die folgenden Ausführungen basieren auf empirischen Untersuchungen, die zwischen Februar 2011 und April 2012 im Rahmen einer Regionalstudie im Stadtteil Lavapiés durchgeführt wurden.[5] Während und nach den Protesten der Movimiento 15-M (Bewegung des 15. Mai 2011) wurden Bewohner_innen, darunter auch Migrant_innen mit und ohne Papiere, Expert_innen (darunter Stadtplaner und Architekten), Sozialarbeiter_innen und (Kunst-)Aktivist_innen nach ihrer Meinung zum Wandel des Stadtteils Lavapiés und zur Rolle urbaner Kunst und selbstorganisierter kultureller Initiativen im Viertel befragt. Eine Stadtteilkartierung mit Informationen zur Verteilung wirtschaftlicher Betriebe und kultureller Angebote half dabei, die Bedingungen und den Verlauf des lokalen Gentrifizierungsprozesses besser zu verstehen. Zudem wurden Umfragen zur Nutzung des Stadtteils und zur Zentralität bestimmter Aktivitäten wie zum Beispiel denen im Centro Social Autogestionado La Tabacalera (CSA Tabacalera), einer ehemaligen Tabakfabrik im Stadtteil, durchgeführt. Interviews mit Aktions- und Graffitikünstler_innen gaben Hinweise auf die Dynamiken in der Szene und ihrer (internationalen) Vernetzung mit Protestbewegungen. Durch Reanalysen von Film- und Fotodokumenten von Protest Aktionskunst- und anderen Kulturveranstaltungen im Stadtteil konnten die Bedeutungen der Bildinhalte mit einzelnen Bewohner_innen diskutiert werden.

Anhand dieses Datenmaterials wird im Folgenden aufgezeigt, wie sich entgegen der städtischen Kommerzialisierung, Kontrolle und Vertreibung eine politische Kultur herausgebildet hat, die neue Formen der Zugehörigkeit produziert, die dynamisch, situativ und fließend sind. In dem englischen Pendant des Begriffs, belonging, kommt stärker als im Deutschen das Fluide und Transformatorische zum Ausdruck. Das Konzept des belonging, so wird argumentiert (vgl. Youkhana 2013), rekurriert nicht nur auf die von der Gesellschaft vorgegebenen (primordialen) Zugehörigkeiten (beispielsweise zu einer ethnischen Gruppe oder Nation), sondern umfasst auch individuelle Positionierungen innerhalb des sozialen Gefüges (Anthias 2006 u. 2008), wodurch sich die Perspektive auf die Bedeutung des Individuums – weg von der passiven hin zu einer aktiven, gestalterischen Rolle des Sozialen – verändert. Zudem wird unter Hinzuziehung einer raumsensiblen und materialistischen Perspektive, der Theorie der Produktion des Raumes nach Lefebvre und der Akteur-Netzwerk-Theorie nach Latour (siehe unten), belonging als soziale Ressource gedeutet, die durch räumliche Aneignungen (placemaking) aus dem Zusammenspiel der physisch-materiellen, diskursiven und imaginativen Dimensionen des sozialen Lebens entsteht (triadische Dialektik nach Lefebvre 1974). Es wird aufgezeigt, wie kollektiv begründetem sozialen Ausschluss (etwa von staatlicher oder kommunaler Seite) durch kreativ-poetische Handlungen begegnet werden kann, die aus den mannigfaltigen Alltagssituationen und -praktiken einer Kultur des Widerstands entstehen können. Diese kreativen Artikulationen werden somit weniger im Hinblick auf ihre Ästhetik gedeutet, sondern kontextualisiert: Ihre Bildinhalte werden hinsichtlich ihrer sozioökonomischen und soziokulturellen Rahmung reflektiert.

Die Kreativität von Vergemeinschaftung und die Produktion von belonging in der Stadt

Lefebvre (2006: 330 ff.) und der Theorie der Produktion des Raumes als erster analytischer Referenz ist es gelungen, Stadt als eine raumzeitliche Anordnung zu fassen, wobei der Fokus der Analyse von Urbanisierungsprozessen auf die alltagsweltlichen Produktionen der städtischen Bewohner_innen gelegt wurde (Schmid 2005: 11 u. 32, vgl. Purcell 2002) und nicht auf die daraus resultierenden urbanen Strukturen. Lefebvre erklärt die Beschaffenheit urbaner Konfigurationen als Konsequenz historischer Abfolgen von Ereignissen und politischen Auseinandersetzungen und den daraus resultierenden Machtbeziehungen. Unter Bezugnahme auf die französische Phänomenologie (Merleau-Ponty) und die deutsche Dialektik (Hegel, Marx und Nietzsche) sowie durch die Integration einer „Meta-Philosophie des Alltäglichen“ gelang es Lefebvre, kulturwissenschaftliche Perspektiven in sozialwissenschaftliche Analysen zu integrieren. Raum wird darin weder als absolute noch abstrakte Größe verstanden, sondern als eine differenzielle Einheit, die die relevanten Elemente sozialer Praxis und Produktion miteinander vereint (Schmid 2005: 271 f.). Diese Produktionen werden gleichzeitig gelebt (in Repräsentationsräumen), wahrgenommen (durch räumliche Praktiken) und erdacht (in verschiedenen Raumrepräsentationen) und basieren auf drei gleichzeitig bedeutenden und im Wettstreit miteinander stehenden Momenten des Lebens, dem gedachten, dem praktizierten und dem poetisch-kreativen Handeln (ebd.: 335 f. u. 192).

Im Vergleich zum westlich geprägten binären Denken, das auf der Hegel’schen Dialektik und der Wechselwirkung des sozialen Gedankens und der sozialen Handlung basiert, betont Lefebvre das dritte Moment, das vor allem im Rahmen umstrittener Stadtpolitiken von größtem Interesse ist, da es die Strategien derjenigen beschreibt, die außerhalb dominierender bürokratischer und normierter Festsetzungen das Urbane gestalten (Purcell 2002). Seine triadische Dialektik verschiebt die Aufmerksamkeit hin zu den alltagsweltlichen Aspekten der sozialen Produktion (von Raum). Die in den sozialwissenschaftlichen Untersuchungen häufig unterbewertete poetisch-kreative Handlung transzendiert, so Lefebvre, die dialektische Unterscheidung zwischen dem Gelebten und Gedachten und erhält in der sozialwissenschaftlichen Analyse einen gleichwertigen Rang. Laut Lefebvre (vgl. Schmid 2005: 108 f.) erkenne man in den unterschiedlichen Strategien und kreativen Handlungen der Residuen, der Zurückgebliebenen, die Erhabenheit einer Gesellschaft und ihr Potenzial, der Stagnation administrativer Vorgaben und damit dem sozialen Tod zu entrinnen.

„Im Mittelpunkt von Lefebvres materialistischer Theorie stehen Menschen in ihrer körperlichen Beschaffenheit und Sinnlichkeit, mit ihrer Sensibilität und ihrer Vorstellungskraft, mit ihrem Denken und ihren Ideologien; Menschen, die durch ihre Handlungen und Tätigkeiten miteinander in Verbindung treten.“ (Schmid 2008: 29; Übers. d. A.).

Durch die Analyse sozialräumlicher Produktionsprozesse, der Einbindung von materiellen Konditionen, Wissen, Bedeutungen und ihre Verwicklung in alltägliche Praktiken eröffnet Lefebvre neue Perspektiven auch für die Untersuchung von Zugehörigkeit und Vergemeinschaftung. Ausgehend davon, dass Gemeinschaft nicht a priori besteht, sondern erst produziert und angeeignet werden muss, wird der wissenschaftliche Blick auch auf die soziomateriellen Beziehungen gelegt. Das englischsprachige Konzept des belonging, bereits auf verschiedenen analytischen Skalen und für soziale Untersuchungen genutzt (Savage et al. 2005, Yuval-Davis 2006, Anthias 2006 u.2009, SIRC 2007, Christensen 2009, Pfaff-Czarnecka 2011, Albiez et al. 2011), wurde im Gegensatz zum Konzept der Identität noch nicht hinreichend theoretisiert. Meist basiert es auf einer binären Vorstellung des Dazugehörens und Nichtdazugehörens, wobei primordiale Vorstellungen dominieren (Butler/Spivak 2007, Yuval-Davis 2006). Materielle und räumliche Aspekte, die soziale Beziehungen und damit auch Zugehörigkeit regulieren und prägen (Leitner et al. 2008: 158), werden nur selten systematisch reflektiert. Die hier vertretene Auffassung von belonging stützt sich analytisch nicht nur auf praktische Rationalitäten und ideelle Selbstverständlichkeiten, zwei Pole, auf denen dominierende Konzepte von Zugehörigkeit und Gruppenidentität beruhen. Ausgehend von Lefebvres erkenntnistheoretischen Betrachtungen gehen wir davon aus, dass die Analyse von kollektiven Handlungen auch um das dritte Moment, das der sozialen Produktion, erweitert werden muss. Die kreativ-poetischen Handlungen fordern alltäglich heraus, was als gegeben und als real angenommen wird. Gleichzeitig zeigen sie, wie belonging erst in konkreten Situationen entsteht und in soziale Realität überführt wird (Schmid 2008: 31).

Nach dem hier kurz skizzierten Verständnis ist belonging somit dynamisch und nicht festgelegt, es basiert auf Wahlmöglichkeiten und persönlichen Erfahrungen und weniger auf auferlegten Identitäten; es bezieht sich auf die Gleichzeitigkeit von fortlaufenden Handlungen sowie Interaktionen und weniger auf in sich abgeschlossene Entscheidungen. Interessanterweise impliziert der Begriff belonging sowohl die Bindungen zwischen Menschen als auch deren Bindungen zu Dingen. Das Oxford Dictionary (1989) definiert belonging als „circumstance connected with a person or thing“; to belong is „to be appropriated or connected with“. In dieser Interpretation fordert das Konzept nicht nur Vorstellungen der sozialen, politischen oder kulturellen Kohärenz und der Naturhaftigkeit von Zugehörigkeit heraus, sondern betont auch die Bedeutung von Dingen für die Produktion von belonging. Damit lädt das Konzept förmlich dazu ein, die Analyse von Gruppenzugehörigkeit und Identität, oft primordial begründet, neu zu überdenken.

Mit der Akteur-Netzwerk-Theorie, unserem zweiten theoretischen Bezug, legt Latour (2005: 10) das Augenmerk auf die Rolle nicht-menschlicher Akteure, das heißt Objekte, Technologien, urbane Infrastrukturen etc., die nicht nur als „hilflose Träger symbolischer Projektierung“ gesehen werden dürften. Das Studium von Akteursnetzwerken sowie Beziehungen und Interaktionen zwischen heterogenen Akteuren gibt ein Instrument an die Hand, mit dem man den Spuren der Akteure selbst nachgehen kann. Durch die Berücksichtigung von Objekten als Teil von Akteursnetzwerken kann, so Latour, aufgezeigt werden, wie Menschen in einem Kollektiv zusammengehalten werden (ebd.: 13). Für die wissenschaftliche Debatte ließe sich durch diese ‚Neuversammlung des Sozialen‘ die ontologische Trennung zwischen Philosophie, Sozialwissenschaft und Semiotik überwinden (ebd.: 12), was notwendig sei, um die materielle Dimension mit Untersuchungen zu Diskursen und Sinnbezügen zu verbinden.[6] Das Soziale ist damit nicht gegeben, sondern wird zum Explanandum, einem matter of concern, und ist kein matter of fact.

Latour geht dabei von der Analyse von Gesellschaft zur Analyse von Kollektiven über, in denen auch Dinge Teil des Kollektivs sein und Handlungsträgerschaft besitzen können (ebd.: 87 ff.). Diese Perspektive ermöglicht sozialwissenschaftliche Untersuchungen, die Handlung als Folge von raumzeitlichen Verflechtungen, denen wir täglich konkret wahrnehmbar begegnen und denen wir uns situationsbedingt und reflexiv stellen müssen, deuten (Joas 1994: 160). Die Kreativität von Handlungen im Rahmen situationsbedingter Kontexte wird zum sozialwissenschaftlichen Anliegen, wobei sozialen Akteuren nicht nur eine Intentionalität unterstellt wird, sondern die Fähigkeit, selbstreflexiv zu handeln – oder wie Joas es beschreibt:

„Menschliche Handlungen sind somit nicht einfach durch die Wechselwirkung von Werten und Impulsen gekennzeichnet, sondern durch die kreative Verwirklichung von Werten als auch durch die schöpferische Befriedigung der Impulse. Somit ist die Körperlichkeit, nicht nur in der Wahrnehmung, sondern auch in den Handlungen an sich eine grundlegende Voraussetzung für Kreativität.“ (ebd.: 163; Übers. d. A.)

Der analytische Blick konzentriert sich nicht länger nur auf die menschliche Intentionalität und rational gewählte Handlungen, sondern es wird der Absichtlichkeit und damit auch Berechenbarkeit das Moment des sinnlich Wahrgenommenen und körperlich Erfahrenen gegenübergestellt. Diese nicht teleologische Interpretation des Sozialen beabsichtigt einen Perspektivenwechsel und befördert die Analyse kollektiver Handlungen jenseits sozialer Demarkationslinien und Containervorstellungen. Jenseits von Verwertungslogiken und biopolitischer Kontrolle – beides Faktoren, die das Zusammenleben in den heutigen Metropolen dominieren – liegt der analytische Fokus auf dem Potenzial von Alltagspraktiken.

Städtische Aufwertung und sozialer Ausschluss in Madrid und Lavapiés

In ihrem revidierten Stadtentwicklungsplan von 1997 (Plan General de Ordenación Urbana de Madrid 1997/PGOUM 97) hat die Lokalregierung festgelegt, Madrid in „eine wettbewerbsorientierte Stadt mit globalem Charakter“ umzuwandeln, und das Ziel formuliert, „Madrid an die Spitze der derzeitigen urbanen Gesellschaften zu setzen und es zur drittgrößten europäischen Metropole“ zu machen (Dirección General de Revisión del Plan General 2012: 4; Übers. d. A.). Dieses Vorhaben zeigt die Anpassung der madrilenischen Stadtpolitik an die Anforderungen des seit den 1970er Jahren implementierten neoliberalen Regimes auf globaler Ebene, das neue Ansprüche an Städte als Orte der Produktion und Konsumtion stellt: günstige Standort- und Investitionsbedingungen für führende Wirtschaftsunternehmen und -sektoren und eine Abkehr von sozialstaatlichen Eingriffen (vgl. Compitello 2003).

Ein elementarer Bestandteil der madrilenischen Stadtpolitik stellt die Sanierung der historischen Altstadt dar, die aufgrund ihres genuinen Kerns und architektonischen Erbes sowie ihrer Symbolik als repräsentativster Ort der Stadt gilt. Zudem ist sie ein Standort für ökonomische Verwertungsinteressen und Ausgangspunkt für symbolische und künstlerische Aneignungen (vgl. Pérez/González 2010: 34 f.). Cañedo Rodríguez (2007: 1) bezeichnet Lavapiés als ein Wahrzeichen des „alten Madrid“, in dessen physischen und imaginären Raum die besonderen Traditionen und die Geschichte der Stadt eingeschrieben sind (Übers. d. A.). Der städtische Restrukturierungsprozess Madrids stellt in diesem Kontext eine Anpassung des urbanen Gefüges an ökonomische Anforderungen dar, die zu einer räumlichen und sozialen Reorganisation der Stadt führen (vgl. Orueta 2007: 184) und von verschiedenen Autoren wie Peck et al. (2009) als neoliberaler Urbanismus bezeichnet werden.

War das alte Zentrum bis in die 1990er Jahre noch ein eher vergessener Ort, so wurde es durch die Neuausrichtung der Stadtentwicklung der postfordistischen und globalen Wettbewerbslogik unterworfen (Pérez/Gonzaléz 2010: 39). Lavapiés als Teil des historischen Zentrums Madrids befindet sich seit Verabschiedung des PGOUM 97 in einem Prozess intensiver städtebaulicher und sozialer Transformation.[7] Die lokalstaatlichen Interventionen konzentrieren sich auf zwei Handlungsfelder und firmieren unter dem Begriff der ‚ganzheitlichen Sanierung‘. Zum einen werden durch öffentliche Gelder Infrastrukturprojekte wie neue Straßen, Grünflächen und öffentliche Plätze realisiert und Immobilienbesitzer über staatliche Förderprogramme, die Investitionsanreize zur Modernisierung der Gebäude enthalten, in den Aufwertungsprozess eingebunden. Zum anderen wird die Ansiedlung kultureller Institutionen unterstützt, um den Anschluss von Lavapiés an das moderne Madrid zu fördern, und zum Zweck der „middle class consumption and as part of the development of the city’s tourism industry“ (vgl. Orueta 2007: 188).[8] Der Soziologe Díaz Orueta bezeichnet die Sanierung von Lavapiés als wichtigstes Vorhaben in der historischen Altstadt Madrids (vgl. ebd.: 184), der ehemalige Bürgermeister Madrids, Alberto Ruiz-Gallardón, nannte 2003 das Viertel ein „Vorzeigeprojekt mit größter Symbolik für unsere zukünftigen Anstrengungen“ (El País 2003; Übers. d. A.). Lavapiés ist somit ein Prestigevorhaben und steht repräsentativ für das neoliberale Anliegen, Madrid in bestmöglicher Weise in der europäischen Städtekonkurrenz zu platzieren (vgl. Orueta 2007: 184).

Sozialer Ausschluss in Lavapiés

Das Viertel Lavapiés ist Teil des barrios Embajadores und stellt offiziell keine eigenständige Verwaltungseinheit dar. Der Name Lavapiés bezieht sich, genau genommen, auf einen Platz, eine Metrostation und auf die umliegenden Straßen (vgl. Gómez 2006: 1). Der Status als Viertel, auch wenn es dem Verwaltungsbezirk Embajadores zugeordnet ist, lässt sich auf seine einzigartige Geschichte und heterogene Bevölkerungsstruktur zurückführen (vgl. Avila/Malo 2007: 522). Die Anstrengungen der städtischen Politik, Lavapiés aus seiner Marginalität herauszuholen und zu einem integralen Bestandteil des Zentrums zu machen, haben von Beginn an zu Kontroversen und Protesten geführt, unter anderem gegen Gebäudesanierungen und Immobilienspekulationen, die allein in den ersten Jahren des sogenannten Revitalisierungsprogramms eine Steigerung der Grundstücks- und Wohnungspreise um zum Teil das Dreifache zur Folge hatten (vgl. Blume 2002). Weitere Elemente der revanchistisch geprägten Stadtentwicklung (Smith 1996) sind Zwangsräumungen, eine verstärkte Polizeipräsenz und die Installation von Überwachungskameras im öffentlichen Raum. Die Forderungen der lokalen Bevölkerung nach einem neuen Gesundheitszentrum oder nach mehr Investitionen in öffentliche Schulen des Viertels sind seitens der Stadtverwaltung Madrids bislang ignoriert worden (vgl. Orueta 2007: 188), während genug Geld für Projekte vorhanden ist, die für die Förderung des Tourismus und die kulturelle Selbstdarstellung Madrids als wichtig erachtet werden.

Als Reaktion auf fehlende Partizipationsmöglichkeiten im Rahmen des Sanierungsprogramms haben sich in Lavapiés verschiedene Bürgerinitiativen gebildet, die gegenüber den politisch Verantwortlichen ihr ‚Recht auf Stadt‘ einfordern. Im Spannungsfeld von städtisch forcierter Aufwertung und Interessen der lokalen Bevölkerung sind selbstverwaltete Kulturzentren wie das Centro Social Okupado Casa Blanca[9] oder das Centro Social Autogestionado la Tabacalera de Lavapiés entstanden, darüber hinaus diverse Bürgernetzwerke, zum Beispiel das Red de Colectivos de Lavapiés und La Corrala, sowie der kollektiv genutzte Garten ‚Esta es una Plaza‘. Sie alle versuchen, Einfluss auf die Entwicklung des Viertels zu nehmen. Alle diese Initiativen haben zu einer starken Politisierung des Stadtteils und seiner Bewohner_innen geführt und eine Widerstandskultur geschaffen, die sich in kreativen Protesten Bahn bricht.

Lavapiés weist in seiner soziodemographischen Entwicklung der letzten zwei Dekaden Merkmale auf, die dem Aufwertungsprozess sowohl Vorschub leisten als ihn auch konterkarieren. Führte die Suburbanisierung der 1980er Jahre zu einer Verschärfung der schon bestehenden Segregation (zurück in der Altstadt blieben vor allem sozial schwache und alte Menschen) sowie zu einer zunehmenden Schwächung der lokalen Ökonomie (Merkmale, die bis heute im Viertel ausgeprägt sind), setzte Mitte der 1990er Jahre mit dem Zuzug junger Bevölkerungsgruppen und Migrant_innen eine Trendwende ein. Niedrige Mieten, leerstehende Häuser und Wohnungen sowie das Image eines barrio castizo[10] stärkten die Attraktivität des Viertels für Künstler_innen, junge Menschen sowie Migrant_innen und führten zur Ausprägung eines alternativen und multikulturellen Milieus. Mit über 16.000 nichtspanischen Bewohner_innen verfügt Lavapiés über die höchste Ausländerquote (33 Prozent) im historischen Stadtzentrum (vgl. Ayuntamiento de Madrid 2011). Nicht länger gilt Lavapiés als ein klassisches Arbeiterviertel. Heute wird es von der Stadtregierung und anderen städtischen Akteuren vor allem als besonderer Ort der internationalen Begegnung, in dem 88 verschiedene Nationalitäten zusammenleben, und als weltoffene Heimat einer vielfältigen kreativen Szene vermarktet (vgl. Schmidt 2012: 3).[11]

Diesem forcierten Transformationsprozess steht die soziale Marginalität der Alten, Arbeitslosen und illegalen Migrant_innen im Viertel gegenüber, die zumeist von prekären Wohnverhältnissen und überteuerten Mieten betroffen sind (vgl. Blume 2002, El País 2011). So bezeichnet der Architekt Eduardo de Santiago Rodriguez (2007: 27) Lavapiés treffend als einen Raum, in dem sich polarisierende Dynamiken entfalten, die gleichzeitig zu Aufwertung sowie zu baulichem Verfall und Prekarisierung führen. Das Erscheinungsbild wird geprägt von neuen Bewohner_innen in renovierten Eigentumswohnungen, die sich in unmittelbarer Nähe zu sanierungsbedürftigen Wohnobjekten befinden, in denen oft Migrant_innen in kleinen, überfüllten Wohnungen ihr Dasein fristen (vgl. El País 2011). Gleichzeitig zieht Lavapiés zahlreiche Tourist_innen an, die das multikulturelle Umfeld genießen und die vielen kulturellen Angebote in dem verkehrsberuhigten Viertel in Anspruch nehmen. Zugleich ist es Zufluchtsort für Aktivist_innen, die teilweise in besetzten Häusern wohnen, sowie für eine Vielzahl an Obdachlosen. Daraus ergeben sich unterschiedlich gelagerte Ansprüche an den städtischen Raum, die sich zum Teil in offenen Konflikten im Untersuchungsgebiet artikulieren.

Kreative Artikulationen von Zugehörigkeit und citizenship in Lavapiés

Im Stadtzentrum von Madrid haben Bewohner_innen und Aktivist_innen zunehmend verschiedene Instrumente und kreative Methoden entwickelt, um sozialem Ausschluss zu begegnen sowie städtische Räume wiederanzueignen und diese dem Privatisierungsdruck zu entziehen. Hier müssen vor allem das Red de Colectivos de Lavapiés, aber auch die Asambleas del Barrio, die im Zuge der 15M-Bewegung nach 2011 entstanden sind und in der Tradition der nachbarschaftlichen Organisierung ‚von unten‘ (Roces 2008, Castells 2008) stehen, genannt werden. Sie sind eine emanzipatorische Strategie von und für diejenigen, die zu den Verlier_innen der Stadterneuerungs- und Aufwertungsprozesse zählen und auch sonst von sozialer, politischer, kultureller und ökonomischer Partizipation weitgehend ausgeschlossen sind. Isin (2009) prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der „activist citizen“, die sich mit ihrem Kampf um Teilhabe und Umverteilung der vorherrschenden gesellschaftlichen Ordnung entgegenstellen und eine neue Auffassung von Bürgerrechten (citizenship) implizieren.

Im Folgenden werden zwei Beispiele selbstorganisierter urbaner Kunst- und Kulturinitiativen in Lavapiés vorgestellt, um zu zeigen, wie diese multiple und situative Formen von Zugehörigkeit und ein emanzipatorisches Konzept von citizenship stärken können.

Graffiti und urban artin Lavapiés

Durch Graffiti und urban art wird einerseits der soziokulturelle Charakter des Viertels Lavapiés repräsentiert, andererseits sind sie Instrumente, um sozialen Ausschluss und Ungerechtigkeiten zu thematisieren. Neben Graffitis, die auch Ausdruck eines jugendkulturellen Protests sind (Remmert 2010) und aus dem intuitiven und individuellen Bedürfnis entstehen, der eigenen Existenz ein konkretes Antlitz zu geben (Abarca 2010), sensibilisieren die eher politisch motivierten urban-art-Techniken, Wandgemälde, stencils (Schablonenmalereien) und cut outs (Ausschnitte) für die sozialen Probleme, die aus den gegenwärtigen städtischen Transformationsprozessen resultieren. Die inhaltlichen Botschaften sind dabei häufig eher subtil, wobei die bestehende Architektur in die eigenen Werke miteingebunden wird. Der räumlichen Disziplinierung und Kontrolle wird, so Schmidt (2009: 195), mit Graffiti und urban art etwas entgegengesetzt. Es werde dem Betrachter der subtile Funktionalismus der Stadt bewusst gemacht, wodurch diese kreativen Artikulationen zu einer Form der Kommunikationsguerilla würden. Die Grenzen zwischen Subversion und Affirmation sind aber fließend. So nutzen inzwischen auch Marketingstrategen von Unternehmen zunehmend urban art, um den alternativen und ‚multikulturellen‘ Charakter eines Stadtteils für ein entsprechendes Klientel touristisch und ökonomisch auszuschlachten. Nicht selten sind inzwischen auch Karrieren vormals unabhängiger urban artists, die zu gut bezahlten Werbemalern geworden sind (vgl. Reinicke 2006).

Der Großteil der kreativen Kultur im krisengebeutelten Madrid geht jedoch noch nicht auf staatliche oder kommerzielle Aufträge zurück, weshalb die Künstler_innen häufig die Grenzen der Legalität überschreiten und somit dem Risiko der Kriminalisierung ausgesetzt sind.[12] Die von den Graffitikünstler_innen hinterlassenen Spuren bewegen sich im Widerstreit mit den anonymisierten Strukturen der durch Privatisierungsdruck und Verdrängung geprägten Metropole. Mit der Manifestierung und Verdinglichung dieser persönlichen Botschaften binden die kreativen Akteure sich selbst an den Standort des künstlerischen Treibens (Hetzer 2011: 4) und demonstrieren dadurch ihre Zugehörigkeit zu diesem Ort.[13] Je ausgefallener und sichtbarer das Objekt (beispielsweise Züge oder hohe Hauswände), desto größer ist die Herausforderung, sich selbst dort zu verewigen.

Der/ die bei einer oberflächlichen Betrachtung häufig anonym bleibende Urheber_in eines Werks ist dennoch, schenkt man ihm/ihr mehr Beachtung, durch einen bestimmten Stil, Inhalt und Form von anderen Künstler_innen zu unterscheiden. In der Konzipierung und Ausführung des Werks verschmilzt der/ die Künstler_in mit der Stadtarchitektur und -infrastruktur. Die Akteure benutzen die urbane Infrastruktur wie Straßen und Gebäude, um sich ihrer selbst als dazugehörig zu vergewissern und um mit anderen Bürger_innen zu kommunizieren. Der Prozess der Selbstvergewisserung geschieht durch die ständige (Wieder-)Aneignung von urbanen Objekten, aber nicht, wie Miller (2005) es ausdrückt, durch die Inbesitznahme derselben: „Es ist nicht nur lediglich der Besitz von Objekten, der das Wohlbefinden einer Gesellschaft oder eines Individuums bestimmt, sondern die Fähigkeit der Selbstentfaltung durch die Aneignung von Objekten“ (ebd.: 20; Übers. d. A.).

Beim Graffiti und in der nicht beauftragten urbanen Kunst dient die Formenvielfalt als Medium, und die kreativen Akte selbst werden zum Instrument, um die einzelnen Künstler_innen als Teil der Gesellschaft zu kennzeichnen und mit anderen Bürger_innen zu vergemeinschaften. Die Mauern, Pfosten und Dächer werden im kollektiven Akt der Kommunikation selbst zu relevanten Akteuren. Im Zuge dieser kreativen Artikulationen, die mehr oder weniger beabsichtigt, spontan oder geplant sind, werden Objekte zu Trägern politischer Botschaften, nicht zuletzt, weil sie individuelle Narrative auch in einer zeitlich verschobenen Dimension transportieren (Müller/Uhlig 2011). Die Straßen werden zu einem Laboratorium kreativ-poetischer Ausdrucksformen, wodurch sie Assoziationen heterogener Akteure, Künstler_innen, Gebäude und Bürger_innen, die in einem Kollektiv zusammenfinden, ermöglichen (Abarca 2010: 100).

Am Beispiel Lavapiés zeigt sich, dass die kreativen Artikulationen, die die Kodierung sozialer Ordnungen infrage stellen, Teil der politischen Kultur des Stadtteils sind und für die sozialen Ausschlüsse der spanischen Gesellschaft sensibilisieren. Die folgenden Beispiele stehen für die unzähligen künstlerischen Darstellungen und Schablonenmalereien, die in den Jahren 2011 und 2012 von den Autor_innen fotografisch dokumentiert worden sind. Die Bilder zeigen urbane Kunst, die Protest gegenüber sozialen und politischen Missständen ausdrückt. Es handelt sich dabei vor allem um Werke, die in ,Nacht- und Nebelaktionen‘ entstanden sind, mit zum Teil offenen, zum Teil aber auch impliziten an die Öffentlichkeit gerichteten gesellschaftskritischen Botschaften. Es wurden weder vollkommen ,unpolitische‘ Graffitis noch größere Wandmalereien, die durch Auftragsarbeiten entstanden sind, berücksichtigt.[14] Für die von uns untersuchten künstlerischen Interventionen eignen sich vor allem Schablonen (stencils) und Ausschnitte (cut outs), die in Ruhe vorbereitet, aber kurzfristig angebracht werden können. Sie werden an Orten eingesetzt, an denen die unzähligen Überwachungskameras des Viertels nicht greifen, aber wo die vorbeigehenden Passant_innen durch zunächst unauffällige Bilder irritiert werden.

Abb. 1 Schatten eines Straßenpfostens (Calle Doctor Foquet in Lavapiés; Quelle: Christian Sebaly) Abb. 2 Afrikanische Frau mit Kind (Embajadores; Quelle: Eva Youkhana) Abb. 3 Guardia Civil mit Star-Wars-Maske (Calle Sombrerete, Lavapiés; Quelle: Eva Youkhana)
Abb. 1 Schatten eines Straßenpfostens (Calle Doctor Foquet in Lavapiés; Quelle: Christian Sebaly)
Abb. 2 Afrikanische Frau mit Kind (Embajadores; Quelle: Eva Youkhana)
Abb. 3 Guardia Civil mit Star-Wars-Maske (Calle Sombrerete, Lavapiés; Quelle: Eva Youkhana)

Abbildung 1 zeigt einen bewaffneten Polizisten als Schatten eines Straßenpfostens, durch den die zunehmende Präsenz von Polizeibeamten in dem Viertel thematisiert wird. Dieses Graffiti ist umso provokativer, weil es vor einem Ausbildungszentrum für Polizisten, am Rande des Viertels im Übergang zum bekannten Museum Reina Sofía gelegen, gesprüht wurde. Abbildung 2, das Bild einer afrikanischen Mutter, die ihr Baby auf dem Rücken trägt, befindet sich direkt an einer Wand vor dem Haupteingang der CSA La Tabacalera. Das Zentrum beheimatet eine Initiative für afrikanische Kultur, die ohne Papiere in Madrid lebende afrikanische Einwanderer_innen unterstützt. Das Werk, das im Vorbeilaufen nicht direkt ins Auge fällt, zeigt Mutter und Kind malerisch vereint mit einem Stromkasten, der den Körper der Frau darstellt. Das Bild demonstriert die Zugehörigkeit der überwiegend schwarzafrikanischen Bevölkerung – der Gruppe, die am stärksten rassistisch motivierten Polizeiübergriffen ausgesetzt ist – zum Viertel. Die Schablonenmalerei in Abbildung 3 wurde an einem sanierungsbedürftigen Gebäude angebracht und zeigt die personifizierte Repression, die – lässig an eine Hauswand gelehnt – Allgegenwärtigkeit suggeriert. Die spanische Guardia Civil, auf die hier durch die typische Kopfbedeckung angespielt ist, bildete eine bedeutende Säule der Franco-Diktatur. Das stencilindiziert die umstrittene Funktion dieser paramilitärischen Einheit damals und die Kontinuität ihrer repressiven Operationen im Viertel bis heute. Die Maske ist eine Anspielung auf die Klonkrieger der dunklen Seite der Macht in dem Heldenepos Star Wars.

Abb. 4 Die Heiligen Drei Könige (Calle Argumosa, Lavapiés; Quelle: Eva Youkhana) Abb. 5 Mann an der Ecke (Plaza de la Sebada; Quelle: Eva Youkhana)
Abb. 4 Die Heiligen Drei Könige (Calle Argumosa, Lavapiés; Quelle: Eva Youkhana)
Abb. 5 Mann an der Ecke (Plaza de la Sebada; Quelle: Eva Youkhana)

Die vierte Abbildung sensibilisiert für die Überwachungsstrategien mit rassistischem Hintergrund im Viertel, die im Zuge der verstärkten Zuwanderung in Spanien sehr stark zugenommen haben und jede_n mit dunkler Hautfarbe (vor allem Afrikaner_innen, Lateinamerikaner_innen und Asiat_innen) oder ‚nichtspanischem‘ Aussehen treffen können. Ziel dabei ist die Kontrolle und Einschüchterung (illegal) Eingewanderter, was vor allem nach dem Bombenanschlag im nahegelegenen Innenstadtbahnhof Atocha im Jahr 2004 islamophobe Züge angenommen hat. Die Verfolgung der Heiligen Drei Könige, die der Legende (und dem Bild) zufolge gen Bethlehem ziehen, wirkt unverhältnismäßig, denn sie symbolisieren nicht nur die morgenländische, sondern auch die christlich-abendländische Kultur (und sollten damit für die Verschmelzung und Befriedung beider Welten stehen). Vor dem Hintergrund, dass sowohl die Gründung als auch die Namensgebung des Stadtteils Lavapiés auf die Einwanderung muslimischer und jüdischer Menschen zurückgeht, diese aber schon immer unter Verfolgung und Vertreibung zu leiden hatten, wird auch in dieser Darstellung die Zugehörigkeit einer bestimmten Bevölkerungsgruppe (Marokkaner_innen bilden heute eine der größten Einwanderergruppen) zum Viertel bekräftigt.

Um Abbildung 5, die sich gegenüber einer Markthalle im Grenzbereich zum Viertel La Latina befindet, zu verstehen und um zu begreifen, in welcher Form hier belonging produziert wird, bedarf es der Erzählung einer kleinen Anekdote. Zunächst lässt das Bild offen, ob es sich um einen zufälligen Klecks oder um urban art handelt. Der Zusammenhang zwischen dieser Repräsentationsform und Zugehörigkeit erschließt sich erst in Verbindung mit dem hageren und langgliedrigen alten Mann, dessen Aufenthaltsort auf der Treppe neben dieser Darstellung ist, die er, wenn er dort sitzt, fast verdeckt. Im Februar 2012 wurde er gefragt, was dieses Bild bedeutet, woraufhin er antwortete, dass die Figur ihn darstelle, dass dieser Platz sein Platz sei. Über den Urheber der Figur konnte er keine Auskunft geben, und somit konnte in dem Gespräch auch nicht geklärt werden, ob es sich um eine absichtliche Darstellung handelt oder diese vielleicht doch auf eine Art Unfall mit dem Farbeimer zurückzuführen ist. Wichtig ist an dieser Stelle aber die Interpretation des Mannes selbst, dessen Aufenthaltsort in seinen Augen durch die silhouettenhafte Darstellung markiert worden war.

Alle hier aufgeführten Beispiele illustrieren kreative Interventionen im öffentlichen Raum, die eine Zugehörigkeit zum Viertel markieren und für Probleme wie Armut, Vertreibung, ständige Polizeikontrollen und die negativen Seiten der Sanierungsmaßnahmen im historischen Zentrum sensibilisieren. Die Aneignung urbaner Räume ermöglicht einerseits neue Kommunikationsmöglichkeiten in einem durch revanchistische Politik, Aufwertung und Privatisierungsdruck bestimmten Urbanisierungsprozess. Andererseits wird der öffentliche Raum durch die Künstler_innen und Nutzer_innen der Architektur und Infrastruktur für die weniger bemittelten Bewohner_innen des Viertels (Migrant_innen, Obdachlose und Menschen ohne Papiere) symbolisch wieder zugänglich gemacht. Dies zeigte sich auch beispielhaft in den als „acts of citizenship“ bezeichneten Artikulationen des Movimiento 15-M, die seit Mai 2011 mit Besetzungen öffentlicher Plätze und Häuser die Kämpfe in den urbanen Raum zurückgetragen haben (Janoschka/Sequera 2011: 152).

Die Vergänglichkeit der Werke (die meisten verwittern nach einer Weile oder werden übermalt) wird in Kauf genommen und impliziert Wandel und Flüchtigkeit anstatt in Stein gegossene Ewigkeit. Dadurch wird eine Zugehörigkeit demonstriert, die nicht statisch ist und somit dem Konzept des belonging und seiner implizierten Wandelbarkeit von Zugehörigkeit entspricht. Der durch kreative Artikulationen in Gang gesetzte Aneignungsprozess gibt Eigentum der Öffentlichkeit zurück und verstößt somit gegen neoliberale Vorstellungen von Besitz und Stadtpolitik, bei denen private Interessen vor die Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge gestellt werden.

Die hier dargestellten, teilweise gesellschaftskritischen Botschaften stehen im Kontrast zu weiteren urbanen Ästhetiken und Einschreibungen, denen eine Rolle im Rahmen der neoliberalen Restrukturierung zugewiesen wird oder die sogar als visuelle Marker von Gentrifizierungs- und Kommerzialisierungsprozessen gedeutet werden (Abarca 2013). Gegenstände der Kritik, in der urban art als Teil des Aufwertungsprozesses interpretiert wird, sind Entwicklungen in vielen europäischen und lateinamerikanischen Städten, in denen die historischen Zentren oder bestimmte Viertel aufgewertet und gesäubert werden, zum Beispiel vor großen Sport- oder kulturellen Ereignissen wie gegenwärtig in Rio de Janeiro. Was durch die Poster, Sticker und Schablonen als Ausdrucksform einer globalen Protestszene daherkommt, die Motive durch soziale Netzwerke austauscht und sie so weltweit zum Einsatz kommen lässt,[15] integriere, so die Einschätzung, ebenso die politischen Aktivist_innen wie die touristischen Konsument_innen.[16] Diesen dienten die Farben und Formen als Identitätsmarker, wobei die Gefahr der Nivellierung der politischen Botschaften bestünde.[17] Urban art wird, wenn von staatlichen Stellen oder Unternehmen in Auftrag gegeben – so die Argumentation weiter –, zu einem Mittel der Affirmation der herrschenden Ordnungen und dient dem city branding, also den Interessen einer auf Konsum gestützten Gesellschaft. Damit ist es nicht länger ein Instrument des Wandels und Protests. Die Aneignung des öffentlichen Raums erfolgt dann nicht mehr durch unterschiedliche Interessengruppen, sondern der Logik eines von Investoren und Stadtverwaltungen vorgegebenen Rahmens (vgl. Janoschka/Sequera 2011: 154, Delgado/Malet 2011: 57 ff.).

Das Centro Social Autogestionado La Tabacalera

Ein weiteres Beispiel für kreativen Protest und der Artikulation von citizenship in Lavapiés sind die emanzipatorischen Praktiken in einem selbstverwalteten sozialen und kulturellen Zentrum in einer alten Tabakfabrik, dem Centro Social Autogestionado La Tabacalera. Als Mittelpunkt für selbstorganisierte kulturelle Initiativen und politische Bewegungen zieht das im Sommer 2010 eröffnete Zentrum viele Menschen und soziale Gruppen an, die auf der Suche nach alternativen Lebensstilen sind und sich in Opposition zu der neoliberalen Wende Madrids sehen (vgl. Díaz Orueta 2007: 190 ff., Jüssen/Youkhana 2011: 281 f.).

Die CSA La Tabacalera liegt in der Straße Emabajadores, die die Viertel La Latina und Lavapiés begrenzt. Das etwa 28.000 m2 große Gebäude, das Ende des 18. Jahrhunderts gebaut wurde und bis 1999 als Tabakfabrik diente, steht heute unter Aufsicht des Kultusministeriums, das den Plan verfolgt, Lavapiés zu einem bedeutenden Standort für Museen zu entwickeln. Teile der ehemaligen Tabakfabrik sind im Zuge des strategischen Plans zur Sanierung des historischen Stadtzentrums dem Centro Nacional de Artes Visuales (Nationales Zentrum für visuelle Kunst) zugeordnet worden (Pérez Quintana 2010). In einen anderen Teil des Gebäudes ist das selbstverwaltete Zentrum eingezogen, das nach langen Verhandlungen mit dem Ministerium im Jahr 2010 durch ein Netzwerk von nachbarschaftlichen Vereinigungen und Aktivist_innen, dem Red de Colectivos de Lavapiés, gegründet wurde.

Nach Angaben von einem der Initiatoren wird die CSA La Tabacalera durch eine große Anzahl von Freiwilligen getragen, die für die inhaltlichen Konzeption und die Verwaltung zuständig sind. Sie sind Macher_innen und Nutzer_innen zugleich. Die Angebote des Zentrums – Tanzkurse, Workshops für kreatives Schreiben, Sprachkurse für Immigrant_innen, eine Fahrradwerkstatt, urbaner Gartenbau und Veranstaltungen wie Konzerte und Lesungen – sind für die Teilnehmenden kostenlos. In einem internen Diskussionspapier wird betont:

„Die Tabacalera stellt das geeignete Gebäude dar, um ein integriertes Zentrum zu verwirklichen, das mit Initiativen und Projekten und mithilfe der aktiven Beteiligung seiner Bewohner_innen einigen der zahlreichen sozialen Problemen in Lavapiés begegnen soll. Gleichzeitig ist es der geeignete Ort, um das enorme kreative Potenzial, das reiche und vielschichtige soziale Wirken des Viertels und darüber hinaus das Wirken der gesamten Bürger_innen von Madrid weiterzuentwickeln.“ (Übers. d. A.)

Drei Jahre nach der Gründung der CSA La Tabacalera profitieren die spanischen und eingewanderten Bewohner_innen des Viertels verschiedenen Alters und unterschiedlicher sozialer Herkunft von der öffentlichen Zugänglichkeit des Gebäudes. Die Nutzer_innen müssen den folgenden drei Grundsätzen zustimmen:

  1. Zentral für Kommunikation und Kooperation ist die Beteiligung an öffentlichen Versammlungen und eine aktive Mitarbeit, um das alte Gebäude zu erhalten.
  2. Es gilt das Prinzip Copyleft,[18] um sicherzustellen, dass alle kreativen Produktionen von allen genutzt werden können.
  3. Alle Angebote in der CSA La Tabacalera können umsonst genutzt werden.

Dabei wird grundsätzlich auf die Einsicht und Solidarität der Nutzer_innen vertraut. Seit 2011 dient die CSA La Tabacalera auch als Treffpunkt für die spanische 15-M-Bewegung, die noch vor der weltweiten Occupy-Bewegung gegen die Dominanz der Finanzmärkte, Verarmung und sinkende Beschäftigung als Folge der Wirtschaftkrise mit medienwirksamen Massenaktionen weltweite Aufmerksamkeit erzielte – von der Bewegung selbst auch als ‚Spanish Revolution‘ benannt. Die Nutzer_innen der CSA La Tabacalera setzen im Sinne Isins durch die verschiedenen acts ihre Bürgerrechte ‚von unten‘ in Kraft und verwirklichen nach eigenen Bekundungen eine Stadt der kreativen und aktiven Bürger_innen, die dem neoliberalen Modell, in dem Menschen auf die Rolle passiver Konsumt_innen reduziert sind, entgegengesetzt ist.[19] Gleichzeitig ist das Zentrum ein Ort der Kommunikation für diejenigen, die sich den aufgezwungenen Ordnungen, Hierarchien und Institutionalisierungen entziehen und doch aktiv am politischen Leben teilnehmen wollen. Dabei wird Wert auf eine politische Kultur des Widerstands und der Emanzipation gelegt.

Das historische und gemeinschaftlich genutzte Zentrum, das die Bewohner_innen in den Urbanisierungsprozess einbindet, während es umgekehrt als symbolträchtiges Gebäude von ihnen als Referenz in die Aktivitäten eingebunden wird, ist selbst Träger von agency. Durch die kollektive Handlung zwischen dem mit Bedeutung aufgeladenen Gebäude einerseits und seiner Nutzer_innen andererseits wird ein Zugehörigkeitsgefühl zum Stadtteil, zu Madrid und zur spanischen Gesellschaft hergestellt, das integrierend ist und nicht wegen der vordefinierten sozialen Kategorisierungen (nach ethnischen oder nationalen Zugehörigkeiten) zu Ausschlussmechanismen führt. Die dynamische, offene und transitive Idee von Zugehörigkeit, die mithilfe der kreativen acts und politischen Ausdruckformen in der CSA La Tabacalera gelebt wird, weist auf die Bedeutung dieser Aneignungs- und placemaking-Prozesse für emanzipatorische Formen von citizenship hin (Jüssen/Youkhana 2011: 281 ff.).

Die Nutzung des Gebäudes für kreativen Protest ist Ursache und Folge einer politischen Kultur des Widerstands, die auf nachbarschaftlicher Organisation und Bewegung in einer durch Übergang und Bevölkerungswandel geprägten Solidargemeinschaft beruht. Hier sei auf die vielen in den 1960er und 1970er Jahren in Spanien entstandenen Nachbarschaftsvereine hingewiesen, die Franco zum Trotz eine starke Kraft entwickelten und die transición, den Übergang zur Demokratie, aktiv mitgestalteten. In dieser Zeit konnten sie mehr Menschen zu Demonstrationen und Aktionen im öffentlichen Raum mobilisieren als beispielsweise die Gewerkschaften (Caprarella/Fernandez Brotons 2008). Manuel Castells (2008) beschreibt solche Bewegungen sogar als klassenübergreifend, weshalb sie vor allem bei der Einflussnahme auf die Gestaltung von Stadtteilen und der städtischen Infrastruktur so erfolgreich waren. Als Ort, an dem verschiedene gegenkulturelle Initiativen zusammenkommen, ist das Zentrum Tabacalera zu einem Raum des Protests einer auf basisdemokratischen Prinzipien basierenden politischen Kultur geworden, der die Voraussetzungen bietet für die Entfaltung der individuellen und kollektiven Potenziale der Nutzer_innen (vgl. Jüssen/Youkhana 2011).

Es wird jedoch auch Kritik an dem Projekt geäußert, zum Beispiel von der Hausbesetzerszene in Madrid an der Verhandlungsbereitschaft der Nutzer_innen der CSA La Tabacalera gegenüber dem Staat, namentlich dem Kultusministerium. Das Hauptargument der Kritiker_innen ist, dass es dadurch einfacher werde, die Protestaktivitäten von oben zu vereinnahmen und zu kontrollieren. Die Gestaltung des Zentrums als Ort der Begegnung und des Austausches sei insofern manipulierbar, als dass ein Gefühl von Zugehörigkeit (sense of belonging) zu einer Stadt und ein Gefühl des Eigentums von gemeinschaftlichen Gütern suggeriert werde, ohne tatsächlich auf etablierte Besitzverhältnisse und Machtstrukturen Einfluss nehmen zu können. Diese Strategie ziele darauf ab, so ein Vertreter der radikaleren Hausbesetzerszene, Arbeitslast und Verantwortung auf eine breite Basis zu stellen, allerdings bliebe dabei das empowerment(Selbstermächtigung) ein symbolischer Akt und habe keinerlei reale ,Umverteilung‘ zur Folge. Auch die Frage nach dem ,Recht auf Stadt‘ werde nicht offensiv gestellt, genauso wenig wie die nach der Übermacht staatlicher Kontrolle.

Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die mit der räumlichen Praxis der CSA La Tabacalera repräsentierten Lebensstile. Unterschiedliche Lebensstile, Kulturen und die creative class kennzeichnen seit Längerem den Stadtteil Lavapiés und wirken anziehend auf Alternativtourist_innen. Das selbstverwaltete Zentrum ist ein Spiegelbild dieser kreativen Szene, die den ästhetischen und kulturellen Vorlieben einer zunehmend jungen und konsumorientierten Klientel entgegenkommt. Alters- und Beschäftigungsstruktur sowie die Wohnorte der Nutzer_innen des Zentrums zeigen, dass dieses weit über den Stadtteil hinauswirkt.[20] Insofern könnte die CSA La Tabacalera ebenso wie das Viertel Lavapiés selbst als Identitätsmarker und Referenzpunkt für eine creative class gewertet werden, die den Gentrifizierungsprozess erst in Gang gesetzt hat. Allerdings – bei allem Verständnis für die Angst vor Aufwertungs- und Verdrängungsprozessen in Orten wie Lavapiés – sind der hohe Grad der nachbarschaftlichen Beteiligung, auch von älteren Menschen und Migrant_innen, sowie die vielen politischen Initiativen, die sich im CSA La Tabacalera treffen (beispielsweise gegen rassistisch motivierte Polizeikontrollen), auch ein deutliches Zeichen dafür, dass die Initiator_innen ihr erklärtes Ziel, einen integrativen Begegnungsort zu schaffen, weitgehend erreicht haben.[21]

Schlussbetrachtung

Es wurde gezeigt, dass künstlerische und kreative Manifestationen seitens derjenigen, die nicht Teil raumplanerischer Maßnahmen sind, als Instrumente eingesetzt werden können, um für Probleme im Zuge marktorientierter städtischer Umgestaltung und Regierungsführung zu sensibilisieren. Das historische Stadtzentrum von Madrid, inklusive des Stadtteils Lavapiés, ist ein äußerst dynamisches Beispiel für die Aufwertung und Kommerzialisierung öffentlicher Räume und damit verbundener sozialer Probleme und Ausschlüsse. Kreative Artikulationen, verstanden als Praxen von citizenship, hinterfragen herrschende Besitzansprüche und produzieren somit neue Formen städtischer Zugehörigkeit. In dem Einwanderungsviertel Lavapiés gehen diese kreativen Handlungen aus einem politischen Milieu hervor, das auf die Kraft derjenigen setzt, die ihr Zuhause in einer Situation des Übergangs errichten, wissend, dass der Status der Nichtzugehörigkeit konstituierend für sie ist. Vordefinierte kollektive Identitäten und Vorstellungen von Zugehörigkeit reproduzieren die zwar unsichtbaren, aber unterdrückenden sozialen und politischen Strukturen, die emanzipatorisches und selbstbestimmtes Handeln verhindern. Dieses liegt Hardt und Negri (2003: 370) zufolge in der Fähigkeit, von Ort zu Ort zu wandern und durch fortwährende Austausch- und Interaktionsprozesse ein menschliches Kollektiv zu bilden. Die Kollektivbildungen des liquiden Widerstands sind jedoch im Widerstreit mit neoliberaler Politik und der Verwertungslogik stadträumlicher Planung zunehmend einem Legitimationsdruck unterworfen, der selbstreflektierende Mechanismen umso notwendiger macht. Nur wenn es gelingt, die bürokratischen und neoliberalen Spielregeln sowie die etablierten Prozesse der Vergemeinschaftung, die soziale Zugehörigkeit und Bürgerrechte begründen, zu durchbrechen, können die Bewohner_innen neue ontologische Realitäten schaffen.

Dass dies möglich ist, zeigt sich gerade in Lavapiés und Madrid in kollektiven Reaktionen auf die Zwangsräumungen im Zuge der Immobilienkrise. So haben sich dort Intellektuelle sowie Betroffene spanischer, ukrainischer oder marokkanischer Herkunft zusammengeschlossen, um sich gemeinsam gegen die ungerechte Hypothekengesetzgebung zu wehren.[22] Auch dieser Kampf basiert im Wesentlichen auf der Solidarität in basisdemokratisch organisierten nachbarschaftlichen Vereinigungen, in denen nicht der soziale Status Zugehörigkeit definiert, sondern die Bereitschaft, sich in kollektiver Form für die Leidtragenden fehlgeleiteter Stadtplanung und Finanzspekulationen im Immobiliensektor einzusetzen.

Endnoten

Autor_innen

Eva Youkhana ist Kultursoziologin und Sozialanthropologin mit Schwerpunkt auf Migration, soziale Bewegungen, Raum, Konzepte von belongingund citizenship.

eva.youkhana@uni-bonn.de

 

Christian Sebaly ist Sozialgeograph mit Schwerpunkt auf Stadtentwicklung, Raumtheorie und Gentrifizierung.

c.sebaly@uni-bonn.de

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