Potenziale freisetzen: Akteur-Netzwerk-Theorie und Assemblageforschung in der interdisziplinären kritischen Stadtforschung

Alexa Färber

Der Auftakt für eine (wissenschaftliche) Debatte ist selten eine erste Positionsbestimmung: Es gibt immer schon früher formulierte Positionen, zu denen sich der dargestellte Ansatz in Beziehung setzt, sei es, indem er sich von ihnen abgrenzt oder positiv an sie anknüpft. Dies ist auch der Fall, wenn das analytische Potenzial der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und daran anschließender Ansätze der Assemblageforschung zur Debatte stehen. Dabei hatten in den 1980er Jahren die frühen Arbeiten von Bruno Latour und Steven Woolgar, Michel Callon und John Law, um die Hauptprotagonisten einer ANT avant la lettre zu nennen, eine solch positive Resonanz erzeugt, dass sich ein bis heute aktives, Disziplinen übergreifendes Feld namens Science and Technology Studies (STS) herausgebildet hat. Diese hohe Anschlussfähigkeit und Zirkulation der wissensanthropologischen Ansätze hat, wie John Law in dem von ihm und John Hassard herausgegebenen Sammelband Actor Network Theory and After (1999) kritisiert, aber auch dazu geführt, dass ANT selbst zu einer Blackbox geworden ist – und genau deshalb mobil werden konnte. Die Kritik an diesem ambivalenten Komplexitätsverlust ist die erste in einer Reihe selbstkritischer Revisionen der ANT, die Law vornimmt. Er kommt dabei zu neuen Bezeichnungen wie ‚(Post)ANT‘ und zeigt andere konzeptionelle Anschlussmöglichkeiten auf, wie das Konzept der Assemblage (vgl. Law 2011).

Dieses wissenschaftliche ‚Luxusproblem‘ einer übergroßen Anschlussfreude in Bezug auf die ANT besteht zwar gerade heute wieder in besonderem Maße. Seit den 1990er Jahren werden die selbstkritischen Betrachtungen aber von vielfältigen kritischen Positionen gegenüber der ANT begleitet und angeregt, beispielsweise aus der feministischen Geographie, Technikforschung und Soziologie (vgl. zu einer Diskussion der Kritik Law 2011 und Conradi/Muhle 2011). Stellvertretend dafür soll hier auf die Debatte in der Zeitschrift für Kulturwissenschaften verwiesen werden, in der die Soziologin Gesa Lindemann die jüngeren Thesen von Bruno Latour kritisch hinterfragt. Lindemann bezieht sich darin vor allem auf das programmatische Buch Das Parlament der Dinge (2001) und das synthetisierende ‚Lehrbuch‘ von Bruno Latour Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft (2007). Beide kritisiert sie als theoretisch zu wenig komplex. Es würden Handeln und Wirken gleichgesetzt und allein Expert_innen ins Zentrum heutiger Gesellschaften gestellt (vgl. Lindemann 2009: 117). Und tatsächlich besteht aus dieser disziplinären Perspektive die Anmaßung Latours darin, die zentrale analytische Kategorie der Soziologie – das Soziale bzw. die Gesellschaft – als kategorische Fehleinschätzung dekonstruieren zu wollen.

Urs Stäheli hebt in seiner Replik auf Gesa Lindemanns Kritik an der Latour‘schen „Expertokratie“ (ebd.: 113) dagegen drei willkommene Provokationen der von Latour formulierten ANT hervor: die metaphysischen Implikationen der neueren Arbeiten von Latour, den Fokus auf Repräsentationspraxis (vs. Repräsentationsinhalt) und das Ineinanderfallen von Methode und Theorie, das Stäheli als von Latour gleichzeitig durchgeführtes und beobachtetes Experiment der Theoriebildung interpretiert (vgl. Stäheli 2009: 140 ff.). Er unterstellt, dass die Ablehnung dieser „Tätigkeit des Theoretisierens“ (ebd.: 139) dem Wunsch geschuldet ist, die Wissenschaftsforschung innerhalb der Soziologie in ihre Schranken zu verweisen und damit disziplinäre „Reinigungsarbeit“ zu vollziehen (ebd., vgl. zum wissensanthropologischen Begriff der Reinigungsarbeit auch das Heft 1/2013 der Zeitschrift für Kulturwissenschaften).

In der kritischen Stadtforschung, die zuallererst auch interdisziplinär ist, muss der Diskussionsprozess nun ein anderer sein, weil das Potenzial der an ANT orientierten Forschungsansätze gerade nicht von der Position disziplinärer Gewissheiten aus reflektiert werden kann. Hier müsste vielmehr überprüft werden, inwiefern ANT und Folgeansätze zu eben jener Interdisziplinarität beitragen und eine kritische Analyse von Stadt und Urbanität ermöglichen. Letzteres, das kritische Potenzial von ANT für die Stadtforschung, stand im Zentrum der für diesen Zusammenhang ausschlaggebenden Debatte um „Assemblage and Critical Urban Praxis“, die sich über ganze fünf Ausgaben der Zeitschrift CITY entfaltet hat (vgl. CITY 2/2011 bis 6/2011), aber die Frage nach dem Potenzial für interdisziplinäre Forschungszusammenhänge weitestgehend unbeantwortet ließ. Angestoßen und bestimmt wurde diese Debatte von Neil Brenner, David J. Madden und David Wachsmuth, die sich durch einen von Colin McFarlane in CITY eingereichten Artikel veranlasst sahen, das darin vorgeschlagene Konzept von Assemblage auf sein Kritikpotenzial hin zu diskutieren (vgl. Brenner et al. 2011a; 2011b, McFarlane 2011a; 2011b). Dass dabei aus „Assemblage in urban theory“ (McFarlane 2011a) schnell „assemblage urbanism“ und „assemblage urbanists“ (Brenner et al. 2011a; 2011b; 2012a) wurde, ist nur einer der im ‚Eifer des Gefechts‘ entstandenen Kurzschlüsse.

Es kann in diesem Beitrag nicht darum gehen, diese Debatte in ihren einzelnen Argumenten nachzuzeichnen. Die in den insgesamt 13 Artikeln ohnehin schon kondensierten Standpunkte würden in einer Synthese nochmals reduziert werden. Vielmehr werde ich nur punktuell auf einige der dort formulierten Gedanken eingehen und versuchen, das Potenzial von ANT und Ansätzen der Assemblageforschung vor einem anderen Horizont zu diskutieren, als es der in der Zeitschrift CITY vorgeschlagene Ansatz der Critical Urban Studies, der sich der Analyse der kapitalistischen Urbanisierungsprozesse verpflichtet sieht, erlaubt (vgl. dazu auch Brenner et al. 2012b). Selbst in der empirischen Kulturwissenschaft und in der interdisziplinären Stadtforschung verankert, möchte ich in einer kulturwissenschaftlichen und wissensanthropologischen Perspektivenverschiebung die Vorteile von ANT und Assemblage-Ansätzen in der interdisziplinären Stadtforschung hervorheben und einige ihrer Grenzen aufzeigen. Mein Interesse besteht darin, die manifestierten und vorhersehbaren Linien der Auseinandersetzung zu durchkreuzen und die Qualitäten von ‚(Post)ANT‘ als Perspektive der interdisziplinären kritischen Stadtforschung zu benennen. Die Leitfrage ist also, in welcher Weise Stadt und Urbanität eigentlich als „Forschungsobjekte“ in „material-semiotischer Sichtweise“ (Law 2011: 22) bearbeitbar werden.

In der Stadtforschung haben die ANT als Forschungshaltung und Assemblage als Konzept in den vergangenen drei Jahren an Bedeutung gewonnen. Ein in der Debatte der CITY gar nicht beachteter Forschungszusammenhang ist das um Albena Yaneva an der Manchester School of Environment herum gebildete kollaborative Programm der mapping controversies, in dem sich Yaneva, von der Architekturforschung im Geiste der Soziologie der Übersetzung kommend, zusammen mit Graduierten der Bearbeitung städtebaulicher Maßstabsebenen zuwendet (vgl. Yaneva 2012 und die entsprechende Website http://www.mappingcontroversies.co.uk/). An dieser Stelle aber wichtiger ist der Sammelband Urban Assemblages. How Actor-Network Theory Changes Urban Studies (Farías/Bender 2010), der neben den baulichen die Bearbeitung einer Vielfalt anderer Dimensionen von Stadt und Urbanität aufzeigt. Neben Nachwuchswissenschaftler_innen aus der Geographie, Soziologie und Kulturanthropologie lassen die beiden Herausgeber dort auch arrivierte Befürworter einer Neubewertung des Urbanen als soziomaterielle Konfiguration zu Wort kommen, wie Nigel Thrift, Stephen Graham und Robert Shields. Die Übertragung von ANT- Forschungsansätzen aus Laborstudien auf städtische Forschungsfelder zum einen und die Hinwendung zur Assemblageforschung zum anderen ist in beiden Fällen ganz sicherlich keine intellektuelle Spielerei. Für die interdisziplinäre Stadtforschung werden hier wichtige Fragen nach der Teilhabe an Stadt aufgegriffen, um ihnen mindestens drei kritische Impulse zu verleihen.

Das multiple Urbane

Stadt und Urbanität stehen in der Stadtforschung in einem nach wie vor unbefriedigenden Verhältnis zueinander: Die Konzepte von Stadt haben sich zwar entlang der zunehmenden Reichweite des Diskurszusammenhangs der Stadtforschung zumindest ausdifferenziert (von der europäischen Stadt über die global city hin zur world city, zur creative city oder auch zur informal city). Zudem sind gerade im deutschsprachigen Raum Versuche unternommen worden, neue Konzepte zur ontologischen Bestimmung von Stadt zu entwickeln und theoretisch einzubetten (vgl. z. B. das Konzept der ‚Mittelstadt‘ bei Schmidt-Lauber 2010 und das Konzept der ‚Eigenlogik der Städte‘ bei Berking/Löw 2008). Trotzdem gilt Urbanität zu Recht immer noch als notwendige dezentrierte Gegenfolie, um erfahrungsbasierte Realitäten von Stadt zu denken. Denn der ontologische Status benannter Stadtkonzepte verfehlt die empirisch beobachtbare Partialität urbaner Alltagserfahrungen. Dass und wie beides – die Stadt als (Forschungs-)Gegenstand und Urbanität als multiple Alltagserfahrung – aber die Realität des Städtischen ausmachen, entzieht sich der Stadtforschung in dem Moment, in dem die Unterscheidung als eine wissenschaftliche und nicht als eine im Alltag verankerte verstanden wird. Henri Lefebvres dialektisch miteinander verbundene drei Raumdimensionen deuten diese multiple Verfasstheit von Raum an.

Ein auf urbane Assemblagen gerichteter Forschungsansatz ermöglicht es, Stadt und Urbanität als in der Alltagspraxis miteinander verknüpfte Elemente des Urbanen zu betrachten und zu beschreiben, ohne die Art ihrer Verknüpfung a priori zu bestimmen. Im Vordergrund steht dann, Ein- und Ausschlüsse dieser Assemblagen, in denen Stadt und Urbanität miteinander verknüpft sind, nachzuzeichnen und herauszuarbeiten, wie diese stabilisiert und wie sie in ihrer Existenz bedroht werden. Ein Assemblagekonzept fragt, welche Form des Sozialen entsteht (und nicht, aus welcher Gesellschaft die beobachtete Assemblage entsteht) und vor allem, welches Transformationspotenzial diese beobachteten Assemblagen artikulieren. Diese anfälligen und temporären Gebilde beruhen auf dem “material, actual and assembled, but also on the emergent, the processual and the multiple” (Farías 2010: 15).

In diesen mehrfach hybriden (menschlich vs. nicht menschlich, materiell vs. immateriell) Versammlungen fallen Elemente ineinander, die anderswo als auf unterschiedlichen Maßstabsebenen befindliche behandelt werden: Es handelt sich dann beispielsweise um Übersetzungsketten, die globale, nationale oder regionale Dimensionen im Lokalen artikulierbar oder aber Stadt als Ganzes im Alltag greifbar machen. Dieser Gedanke bestimmt auch die kollaborative Studie Paris. Ville invisible (1998) von Bruno Latour und Emilie Hermant. Der Foto-Text-Essay demonstriert, dass Komplexität eine Bedingung von Stadt und sie deshalb als Ganzes nicht erfahrbar ist. Dennoch artikuliert sich Stadt als Ganzes in etlichen Praktiken der Komplexitätsreduktion und wird damit greifbar. Dieses im Alltag erfahrbare Paradox macht der Ansatz der Assemblage erforschbar und bringt die damit verbundenen Konflikte zur Sprache, ohne sie interpretativ unter Kategorien zu subsumieren, die stadthistorische Entwicklungstypen oder gesellschaftliche Klassifizierungen bieten könnten. Hier gilt, was John Law für die ANT allgemein schreibt:

„Klasse, Nationalstaat und Patriarchat werden zu Folgeerscheinungen, anstelle von erklärenden Faktoren. Das soll allerdings nicht heißen, dass es sie nicht gibt – tatsächlich können sie in der Praxis real gemachtwerden –, aber sie eignen sich eben nicht als Erklärungsrahmen.“ (Law 2011: 32)

Dieses Zitat verdeutlicht auch, wie grundsätzlich eine an ANT und Assemblage orientierte Stadtforschung an den soliden und gut erprobten wissenschaftlichen Grundlagen und Überzeugungen der Critical Urban Studiesrührt – und erklärt ein wenig die Intensität der CITY-Debatte zum Thema.

Radikal der Welt zugewandt

Das mit ontologischen Konzepten von Stadt einhergehende Defizit wird besonders gegenüber den Ergebnissen lebensweltlich orientierter ethnographischer Stadtforschungen deutlich. Die selbst zum Holismus auf kleinster Maßstabsebene neigende Stadtethnographie verweist eben auch auf die erfahrbare Vielgestaltigkeit von Stadt. Darin ist sie mit der Assemblagetheorie kompatibel: Während Assemblage sich zwar für unterschiedliche theoretische und konzeptionelle Auslegungen eignet und, wie Colin McFarlane (2011a: 205) einräumt, sowohl als Beschreibung, als Perspektive und als die Idee von einer kosmopolitischen Komposition verstanden wird, so geht die jüngere Beschäftigung mit dem im Poststrukturalismus angesiedelten Gedanken des Gefüges/ der Assemblage mit einem konsequent empirisch-ethnographischen Ansatz einher. Die Beiträge in dem von Aiwa Ong und Stephen Collier herausgegebenen Sammelband Global Assemblage (2004) etwa zeichnen sich alle durch ihre empirisch-ethnographische Vorgehensweise aus, ob nun in der Kultur- und Sozialanthropologie, Soziologie oder Geographie.

In Bezug auf Stadt und Urbanität erlaubt es diese empirisch-ethnographische Grundhaltung, die Brenner et al. (2012a: 127 ff.) als naiven Objektivisums bezeichnet haben, die Aufmerksamkeit auf urbane Prozesse zu lenken, die in soziomateriellen Gefügen stattfinden. Sharon Macdonald (2009) hat diese Soziomaterialität in ihrer ethnographischen Untersuchung der Aushandlungsprozesse um die Erinnerung an den Nationalsozialismus in der Stadt Nürnberg eindrücklich nachgezeichnet. Neuere Studien, die im Zusammenhang des Forschungsprojekts Global Prayers entstanden sind, sind ebenfalls in dieser Weise der Welt empirisch zugewandt (vgl. Lanz 2013). Religiöse Bewegungen als Assemblage zu verstehen, bedeutet jene Wirkmacht anzuerkennen, mit der sie eine Version von Stadt und Urbanität produzieren und Erlösung versprechen. Die Virtualität oder Potenzialität, die eine Forschungsperspektive auf Stadt als urbane Assemblage greifbar macht, liegt in dem Spektrum zwischen Praktiken der Behauptung und der möglichen Realisierung der Behauptung. Sie auch als Assemblage zu untersuchen, kann heißen, einen minimalistischen Versuchsaufbau zum Ausgangspunkt zu nehmen, um von dort aus die vielen Elemente zu entfalten, die zu religiöser Präsenz führen können. Der visuelle Anthropologe Aryo Danusiri hat einen solchen Ausgangspunkt in seinem Film „The Fold“ geschaffen, in dem er die Realisierung einer New Yorker Moschee in den Räumen eines asiatischen Kulturzentrums exemplarisch aufzeichnet. Die fest installierte Kamera folgt dabei allein den Aktanten, die das Objektiv auch erfassen kann. Das dort gezeigte Aus- und Zusammenfalten einer Plastikplane, das den Raum der Moschee materialisiert und den Wechsel zwischen Gebet und Vergnügen erst ermöglicht (hier wird sonst unter anderem Tischtennis gespielt), zeigt nur einen konfliktfreien Zustand der Moschee – und lässt andere erahnen: Die über den Zustand ‚Moschee vor, während und nach dem Beten‘ hinausgehenden und mit ‚der Moschee‘ verbundenen Elemente wie der Immobilienmarkt, der 11. September 2001, der Kampf gegen den Terrorismus, Misstrauen und Vertrauen sind nur einige der nachverfolgbaren Elemente, die andere Zustände dieses Gefüges ausmachen werden.

Dass dieses Verständnis von Stadt und Urbanität vor allem aus der ethnographischen Beobachtung heraus seine Relevanz erfährt, spricht in besonderem Maße für die Legitimität einer solchen analytischen Perspektive: Indem die ANT und Assemblagetheorie ihre Grundlagen in der empirisch beobachtbaren Welt haben, haben sie das Potenzial, tatsächlich relevante Konflikte analytisch aufzugreifen. Die in der Forschungshaltung angelegte freie Assoziation in Richtung aller identifizierbaren Aktanten und die Analyse, welche Ein- und Ausschlüsse sie hervorbringen, ermöglicht nicht nur überraschende Erkenntnisse zur Verteilung von Akteursmacht. In den Worten von Bruno Latour artikulieren sich hier „matters of concern“ (im Gegensatz zu „matters of fact“; vgl. u.a. Latour 2007), deren Analyse Kenntnis über die Art der Verteilung von Akteursmacht sowie die Stabilisierung und Angreifbarkeit von Versammlungen erlaubt. Dieses Wissen rührt aus ethnographischen Fallstudien. In diesem Wissen liegt das Potenzial, andere – gerechtere – Formen des Sozialen herbeizuführen.

Uneingeschränkte Interdisziplinarität

Schließlich ist der Versuch, Assemblageforschung in die Stadtforschung einzuführen, auch ein Zeichen dafür, dass sich hier ein zunehmend interdisziplinäres Feld konstituiert. Dafür hat schon das in vielen Disziplinen verankerte ethnographische Vorgehen der Assemblageforschung gesprochen. Die Stadtforschung hat offensichtlich in den vergangenen Jahren nicht allein auf Konzepte aus der Stadtsoziologie und -geographie oder aus den Politikwissenschaften zurückgegriffen, sondern ganz selbstverständlich auch auf Theorien, die – entgegen ihres interdisziplinären Entstehungszusammenhangs – bis Ende der 1990er Jahre vornehmlich im Denkraum einiger Kultur- und Geisteswissenschaften verhandelt wurden. Es ist kein Zufall, dass der Weg zur urbanen Assemblage über die ANT geführt hat. John Law hebt die Nähe zwischen der ANT und den Deleuz‘schen Rhizomen bzw. dem Gedanken des agencement wie folgt hervor:

„Beide beziehen sich auf die provisorische Anordnung produktiver, heterogener und (dies ist der entscheidende Punkt) ziemlich limitierter Ordnungsformen, die in keine größere übergreifende Ordnung eingebettet sind. Deshalb ist es hilfreich, die Akteur-Netzwerk-Theorie als eine spezifische empirische Übersetzung des Poststrukturalismus zu sehen.“ (Law 2011: 29)

Bei Latour bleibt diese Nähe eher unerwähnt. Diese oben schon hervorgehobene empirische Grundhaltung der ANT und Assemblagetheorie, die sich gerade auf die Konstruktion soziomaterieller Gefüge konzentriert, birgt meiner Meinung nach das Potenzial für die Stadtforschung, Disziplinen mit einer Zuständigkeit für ‚das Soziale‘, wie die Soziologie, die Human- und Kulturgeographie sowie die Sozial- und Kulturanthropologie, mit Disziplinen zusammenzuführen, die sich dem Materiellen des Städtischen verpflichtet fühlen, wie die Architektur, der Städtebau oder die Ingenieurswissenschaften. Die interdisziplinäre Kollaboration zwischen diesen Disziplinen ist in den Ansätzen der ANT und Assemblagetheorie angelegt und kann auf der Grundlage ethnographischen Arbeitens unter anderem in Fallstudien umgesetzt werden. Es liegt auf der Hand, dass auf diese Weise komplexere Analysen von Konfliktfeldern ermöglicht werden als in Studien, die sich innerhalb eines fachinternen Terrains bewegen.

Was die ANT und Assemblageforschung (un-)möglich macht

Diese Form der Interdisziplinarität könnte vordergründig sogar wissenschaftspolitisch gewollt sein und dürfte deshalb als besonders förderungswürdig gelten. In wissensanthropologischer Perspektive zeigt sich aber, dass eine Interdisziplinarität, die sich an der ethnographischen Forschungshaltung der ANT orientiert und Konzepte wie urban assemblage zur Grundlage hat, vielmehr inkompatibel mit den Entwicklungen wissenschaftlicher Institutionen ist. Sie läuft in vielerlei Hinsicht dem akademischen ‚Mainstreaming‘ zuwider, wie es sich beispielsweise heute an Universitäten in Form selbstunternehmerischer Anforderungen und dem damit einhergehenden Zuwachs temporärer Arbeitsverhältnisse äußert oder in der Umdeutung von Drittmitteleinwerbung als Stärkung von Forschung, bis hin zum Wettbewerb um Drittmittel als eine in erster Linie Konkurrenzbeziehungen abbildende Anforderung. Auch die Disziplinen übergreifende Aufwertung anwendungsbezogener und damit auch marktförmiger Forschung muss zu diesem Prozess gerechnet werden. Denn die eingeforderte mikroperspektivische empirische Forschung und die detailgenaue Untersuchung von Akteursnetzwerken bzw. Assemblagen in Form von Fallstudien, die sich bewusst außerhalb etablierter Erklärungsansätze bewegen, sowie die Statusgruppen übergreifende, Kollaborationen nahelegende und deshalb auch Disziplinen übergreifende Arbeitsweise sind weder zeitökonomisch, noch liefern sie einfach übertragbare Ergebnisse oder stabilisieren disziplinär strukturierte Forschungseinrichtungen.

Eine Herausforderung liegt deshalb darin, die Forschungsergebnisse, die dieser Ansatz ermöglichen würde, in der heutigen Wissenschaftslandschaft auch zu erzielen und darstellbar zu machen. Denn die vielen Artikel, die mittlerweile versammelt worden sind, wirken häufig zu ‚dünn‘ gegenüber der empirischen Dichte und exemplarischen Aussagekraft, die sie mit dem Ansatz der Assemblage erreichen könnten. Liegt diese empirische Dichte und analytische Komplexität eigentlich vor, ist zu vermuten, dass der damit notwendig einhergehende differenziert argumentierende und Raum für Beschreibung beanspruchende Stil in der aktuellen Publikationslandschaft keinen Ort hat, die von der Vorstellung quasi objektiver Klassifizierungen in Form von Journalrankings bestimmt wird. Auch in dieser Hinsicht erweist sich eine Vorgehensweise, die Kategorien setzt (und nicht entwickelt) und davon ausgehend interpretiert – deren Grundlagen also kaum mehr geklärt werden müssen –, als gedanklich weniger herausfordernd und argumentativ weniger sperrig als der vorgeschlagene Weg der Assemblageforschung. Innerhalb gegebener analytischer Rahmungen zu arbeiten, bedeutet nämlich auch, durch interpretative (Kurz-)Schlüsse im ganz konkreten Sinne (Denk-)Zeit und Platz zu sparen. Diese argumentative Ökonomie kann durchaus wünschenswert sein, kommt sie doch nicht zuletzt einer Rezeption entgegen, die wenig Zeit (oder Geduld) für die exemplarische Darstellung von Alltag in seinen teils disparaten, aber wirkmächtigen Ausformungen hat und vielmehr ohne Umschweife auf ein Ergebnis zusteuern möchte. Dem Alltag wissenschaftlichen Arbeitens kommt dann auch der knappe Essay auf allen Ebenen (Produktion, Veröffentlichung, Rezeption) entgegen. Ob er deshalb auch die angemessenere Repräsentation von Alltagsrealität ist und schließlich zur analytischen Durchdringung und Gestaltung beitragen kann, halte ich für fraglich.

Den Ansatz der ANT und Assemblage als Forschungsansätze in der Stadtforschung zu stärken, kann deshalb auch bedeuten, den Freiraum und die analytische Unabhängigkeit von Forschung einzufordern, gerade entgegen einer veränderten Ökonomisierung von Wissenschaft. Dieses in der Wissenschaftspraxis dieser Forschungshaltungen verankerte kritische Potenzial gilt es wahrzunehmen, um den Konfliktfeldern des Städtischen die angemessene wissenschaftliche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die in der Lage ist, tatsächlich wirksame, weil Gerechtigkeit schaffende Potenziale freizusetzen.

Autor_innen

Alexa Färber arbeitet in folgenden Bereichen: Europäische Ethnologie, Stadtanthropologie/-ethnographie, Wissensanthropologie und Wirtschaftsanthropologie.

alexa.faerber@hcu-hamburg.de

Literatur

Berking, Helmuth / Löw, Martina (Hg.) (2008): Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag.

Brenner, Neil / Madden, David J. / Wachsmuth, David (2011a): Assemblage urbanism and the challenges of critical urban theory. In: CITY 15/2, 225-240.

Brenner, Neil / Madden, David J. / Wachsmuth, David (2011b): Between abstraction and complexity. Meta-theoretical observations on the assemblage debate. In: CITY 15/6, 740-750.

Brenner, Neil/ Madden, David J. / Wachsmuth, David (2012a): Assemblages, actor-networks, and the challenges of critical urban theory. In: Neil Brenner / Peter Marcuse / Margit Mayer (Hg.), Cities for People, not for Profit. Ciritcal Urban Theory and the Right to the City. London/New York: Routledge, 117-137.

Brenner, Neil/ Marcuse, Peter/ Mayer, Margit (2012b): Cities for people, not for profit: an introduction. In: Neil Brenner /,Peter Marcuse / Margit Mayer (Hg.), Cities for People, not for Profit. Critical Urban Theory and the Right to the City. London/New York: Routledge, 1-23.

Conradi, Tobias / Muhle, Florian (2011): Verbinden oder trennen? Über das schwierige Verhältnis der Akteur-Netzwerk-Theorie zur Kritik. In: Tobias Conradi / Heike Derwanz / Florian Muhle (Hg.), Strukturentstehung durch Verflechtung. Akteur-Netzwerk-Theorie(n) und Automatismen. München: Wilhelm Fink Verlag, 313-333.

Farías, Ingacio (2010): Introduction: decentering the object of urban studies. In: Ignacio Farías / Thomas Bender (Hg.), Urban Assemblages. How Actor-Network Theory Changes Urban Studies. London/New York: Routledge, 1-24.

Farías, Ignacio (2011): The politics of urban assemblages. In: CITY 15/2011, 365-374.

Farías, Ignacio / Bender, Thomas (Hg.) (2010): Urban Assemblages. How Actor-Network Theory Changes Urban Studies. London/New York: Routledge.

Hassard, John / Law, John (1999): Actor Network Theory and After. Oxford: Wiley-Blackwell.

Law, John (2011): Akteur-Netzwerk-Theorie und materiale Semiotik. In: Tobias Conradi / Heike Derwanz / Florian Muhle (Hg.): Strukturentstehung durch Verflechtung. Akteur-Netzwerk-Theorie(n) und Automatismen. München: Wilhelm Fink Verlag, 21-48.

Latour, Bruno (2001): Das Parlament der Dinge: Für eine politische Ökologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Franfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

Latour, Bruno / Hermant, Emilie (1998) : Paris. Ville invisible. Paris:Les Empêcheurs de penser en rond & La Découverte 

Lindemann, Gesa (2009): Bruno Latour – von der Wissenschaftsforschung zur Expertokratie. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2/2009, 113-118.

Lanz, Stephan (2013): Assembling Global Prayers in the City: An Attempt to Repopulate Urban Theory with Religion. In: Jochen Becker / Katrin Klingan / Stephan Lanz/ Kathrin Wildner (Hg.): Global Prayers. Contemporary Manifestations of the Religious in the City. Zürich: Lars Müller Publishers, 16-47.

Macdonald, Sharon (2009): Difficult Heritage: Negotiating the Nazi Past in Nuremberg and Beyond. London/New York: Routledge.

McFarlane, Colin (2011a): Assemblage and critical urbanism. In: CITY 15/2011, 204-224.

McFarlane, Colin (2011b): Encountering, describing and transforming urbanism. Concluding reflections on assemblage and urban criticality. In: CITY 15/2011, 731-739.

Ong, Aihwa / Collier, Stephen J. (Hg.) (2004): Global Assemblages: Technology, Politics, and Ethics as Anthropological Problems. Oxford: Wiley-Blackwell.

Stäheli, Urs (2009): Theorie als Experiment. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 2/2009, 138-143.

Schmidt-Lauber, Brigitta (2010) (Hg.): Mittelstadt. Urbanes Leben jenseits der Metropole. Franfurt a. M./New York: Campus Verlag.

Yaneva, Albena (2012): Mapping Controversis in Architecture. Farnham: Ashgate.

Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1/2013: Reinigungsarbeit.