Das Re-entry von Kritik: Assemblageforschung nach der Kritik an der Kritik

Kommentar zu Alexa Färbers „Potenziale freisetzen“

Hanna Göbel

Programmatisch und auf eine stetige Expansion angelegt hat das Konzept der Assemblage in den letzten Jahren die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungslandschaft in disziplinärer, theoretischer, methodologischer wie thematischer Hinsicht auf den Kopf gestellt und sich als ein sichtbares, vom materialund practice turn in den Sozialwissenschaften (Schatzki et al. 2001) gekennzeichnetes Forschungsparadigma etabliert. Mittels einer symmetrischen Perspektive auf Sozialität und Materialität werfen die Assemblageforschungen insbesondere in Bezug auf die bisherigen kritischen raum- und stadtbezogenen Paradigmen der Urban Studies grundlegend neue wissensontologische und sozialtheoretische Fragen auf (Farias/Bender 2010). Die Debatte in der Zeitschrift CITY (2/2011-6/2011) zeigt den daraus resultierenden, umfassenden analytischen Konflikt auf.

Der Fokus der Forschungen, die sich vorrangig auf die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und die Ressourcen der Science & Technology Studies (STS) beziehen, liegt in theoretischer und methodologischer Hinsicht auf einer Neubestimmung von urbanen Sozialitäten unter Einbezug der sozialen Wirksamkeit von Materialität, Technik und Affektivität. Die empirisch generierten Erkenntnisse, die mittels einer symmetrischen Perspektive an den Grundpfeilern moderner Sozialtheorien rütteln und zudem ein empirisch konstituiertes Theorieverständnis (vgl. Hirschauer et al. 2008) einbringen, werden von vielen Forscher_innen (mich eingeschlossen) begeistert geteilt und weiterentwickelt. In den treffenden Worten von Ignacio Farías (2010: 3) ist die Assemblageforschung „criticized by many and pragmatically used by many more“.[1] Alexa Färber feiert in ihrem Beitrag zu Recht die grundlegenden Innovationen dieser neuen Forschungspraxis, durch welche der analytische Blick auf die Stadt auf der ontologischen Ebene herausgefordert wurde und soziomaterielle Realitäten des Urbanen sichtbar gemacht werden können.

Die interdisziplinären Positionen der Assemblageforscher_innen sind im Zusammenhang der andauernden Debatte bei aller Euphorie für die thematischen und methodischen Neuausrichtungen der Urban Studies in meinen Augen durch das Problem einer analytischen Vermengung von drei unterschiedlichen Begriffen und theoretischen Dimensionen von Kritik gekennzeichnet. Alexa Färber deutet diese an und ich möchte sie im Rahmen dieser Debatte gern vertiefend diskutieren.

Die Kritik an den Critical Urban Studies

Die Kritik seitens der Assemblageforscher_innen an den bisherigen Paradigmen der Urban Studiesist vor allem eine an den gesellschaftstheoretischen Kritiknormen[2] und der damit einhergehenden Dichotomie von Makro- und Mikrodimensionen des Sozialen. Von Assemblageforscher_innen werden in den Urban Studies bisherige makrotheoretische Analyseprämissen identifiziert, die sich vorranging für die Reproduktionen sozialer Ungleichheit in der Stadt interessieren und einer (neo-)marxistischen Perspektive vor allem hinsichtlich der Ökonomisierung des Städtischen verpflichtet sind. Der theoretische Vorwurf an die Critical Urban Studies in der Debatte besteht darin, die Stadt als Untersuchungsgegenstand vorschnell mit der Logik des Kapitalismus und einer damit einhergehenden Kapitalismuskritik gleichzusetzen.[3] Dieser gesellschaftstheoretische (neo-)marxistische Fokus produziere einen erklärenden Reflex auf der Mikroebene. Durch diesen würden urbane Phänomene über theoretische Kritiknormen der Klassifizierung und strukturelle Historisierungen im Zeichen der Ungleichheit und des Ökonomischen dargestellt.[4] In der Assemblage lösen sich sowohl dieser singuläre und theoretisch-normative Begriff von Kritik als auch die Dichotomie von Makro- und Mikrodimensionen zugunsten einer soziomateriellen Perspektive auf (Reckwitz 2002). Die soziomateriellen Realitäten des Urbanen übernehmen somit auch die theoretische Verantwortung für die Bestimmung von ‚Kritik’.

Offen bleibt bislang dennoch, welchen Ort die Assemblageforschung der ‚Kritik’, also ihrer kritischen Perspektive auf das Urbane, zuweist. Welche eigenen Kritikbegriffe entwickelt die Assemblageforschung nach dieser Kritik an den strukturtheoretischen Kritiknormen der bisherigen Paradigmen der Urban Studies? Das Problem besteht in meinen Augen in der begrifflichen Unschärfe und unterbestimmten theoretischen Reflexion von empirischen Dimensionen von Kritik. Alexa Färber schreibt in ihrem Beitrag für die Ausgabe von sub\urban beispielsweise von „gerechtere[n] Formen“ des Sozialen oder auch von „Gerechtigkeit schaffende[n] Potenzialen“, die durch die Assemblageforschung entstehen. Da die Assemblageforschung ja gerade diesen gesellschaftstheoretischen Fokus auf die theoretische Norm Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit ablehnt, bleibt zu fragen, welchen Ort solch eine normative Ebene in Forschungen hat, die mit dem Konzept der Assemblage arbeiten? Wie werden diese Formen von Gerechtigkeit empirisch hervorgebracht und theoretisiert? Die meist ethnographisch angelegten Assemblageforschungen, so die Ethnologin Alexa Färber weiter, „greifen […] Konflikte auf, die tatsächlich relevant sind“. Wie wird diese Relevanz bestimmt und für wen/was?

Das Re-entry von Kritik

‚In’ der Assemblage zeigen sich, so möchte ich betonen, empirisch konstituierte Dimensionen von Kritik. Sie werden in urbanen Praktiken sichtbar und sind nicht als eine theoretische Norm ‚außerhalb’ der Assemblage anzusiedeln. Wir haben es also mit einem re-entry, einer Wiedereinführung und Neupositionierung von Kritik zu tun.[5] Zugespitzt formuliert geht es um die Theoretisierung von empirisch konstituierter Kritik. Das re-entry rekurriert demnach auf die Momente von Kritik, die sich in den „ontological politics“ (Mol 1999) entwickelt haben und von den Akteuren des jeweiligen Untersuchungsfeldes praktiziert werden. Die Assemblageforscher_innen bedienen sich methodologischer Strategien der Sichtbarmachung dieser praktischen Vollzüge. Eine kritische Dimension der Assemblageforschung ist deshalb keinesfalls einer Kritik als theoretischer Norm verpflichtet. Da die Assemblageforschung holistische Theoriegebäude unterläuft und ein empirisches Theorieverständnis vertritt, hat sie ein methodologisches Programm entwickelt, wodurch sie sich gleich einem Parasiten in die multiple Welt des Urbanen hineinfrisst und dort diverse normative Strukturelemente und -kategorien durchdringt, aufsaugt, neu ordnet und im praktischen Vollzug beschreibt.

Die methodologische Herausforderung dieses Verfahrens besteht aus meiner Sicht darin, die empirisch konstituierte Kritik begrifflich aufzunehmen, epistemologisch angemessen auszuweisen und die thematische Bezugsreferenz klar zu benennen. Die Vielfalt empirisch konstituierter Kritik ist nicht über einen gemeinsamen theoretischen Nenner zu fassen; sie ist darüber hinaus analytisch unterschiedlich zu gewichten. Empirisch konstituierte Kritikelemente können beispielsweise normative Strukturen der Rechtfertigung, diskursive Strategien (bspw. der Selbstbehauptung), auf Weltverbesserung angelegte, oftmals (neo-)marxistisch gefärbte Überzeugungen, jedoch auch gleichermaßen die sozialen Effektivitäten von Materialität und Technik sein. Selbstverständlich sind auch die Interpretationen des Forschers bzw. der Forscherin Formen der Kritik und dementsprechend zu berücksichtigen. Die Verkettung all dieser Elemente bringen die kritischen Dimensionen soziomaterieller Urbanitäten hervor.

Aber wie sind diese zu theoretisieren? Der oftmals reflexartige Hinweis auf die Nichtexistenz von Kritik seitens der Assemblageforscher_innen läuft in die analytische Leere, wenn es darum geht, die heterogenen und vielfältig organisierten Verkettungen von Kritik, die durch die Forschungen sichtbar werden, theoretisch adäquat adressieren zu können. Dies verdeutlichen die Reaktionen der Kritiker des Assemblage-Konzepts in der CITY-Debatte. Der unterstellte „naïve objectivism“ (Brenner et al. 2011: 233) der Assemblageforschung in Bezug auf die fehlende Sensibilität für die Reproduktionen sozialer Ungleichheiten und anderer theoretischer Kritiknormen ist in einem Punkt berechtigt. Diese Unterstellung zeigt einen blinden Fleck auf, nämlich die unterbelichtete Reflexion der Assemblage_forscherinnen, an der Theoretisierung empirisch konstituierter Kritikformen zu arbeiten und diese an zentralen sozialwissenschaftlichen bzw. soziologischen Problemkonstellationen zu spiegeln. Die kritischen Stimmen der CITY-Debatte dienen Assemblageforscher_innen vor allem der Überprüfung der eigenen theoretischen Standpunkte, um nicht einer romantischen (weil holistischen) Vorstellung von soziomaterieller Ontologie zu erliegen, die vielerorts den Vertreter_innen der Critical Urban Studies vorgeworfen wurde.[6]

Übersetzungspraxis der Assemblageforschung

Das Potenzial der Assemblageforschung liegt deshalb aus meiner Sicht in der Arbeit an einer sorgfältigen empirischen Erfassung und Theoretisierung normativer Elemente von Kritik, die sich im praktischen Vollzug innerhalb eines Forschungsfeldes zeigen. Für Vertreter_innen anderer Forschungsansätze innerhalb der Urban Studieswäre die Assemblageforschung so nicht nur in angemessener Weise als eine kritische Forschungspraxis addressierbar. Der Paradigmen übergreifende Austausch über den Ort von Kritik in spätmodernen urbanen Theorien könnte sich von polemischen Ebenen der Argumentation lösen.

Nicht nur interdisziplinäre, sondern auch intersektorale Kooperationen zwischen Sozialwissenschaftler_innen und städtischen Akteuren mit urbaner Expertise (zum Beispiel Architekt_innen, Planer_innen, Künstler_innen, Aktivist_innen, Kultur- und Sozialarbeiter_innen, DIY-Gemeinschaften) kennzeichnen den Untersuchungsgegenstand des urbanen Raumes aus Sicht der Assemblageforscher_innen. Alexa Färber betont dies in ihrem Beitrag. Durch diese Kooperationen zirkulieren auch diverse Interpretationen sozialwissenschaftlicher Ansätze. Seit einiger Zeit wird die Assemblageforschung von zahlreichen Akteuren mit urbaner Expertise nicht nur registriert. Es gibt Neugier und einen konkreten Übersetzungsbedarf dieses neuen Paradigmas – vor allem hinsichtlich des Kritikbegriffs. Beispielsweise gilt das Interesse an kulturellen Fetischproduktionen gebauter Materialitäten oder der Organisationsformen städtischer Akteure mit urbaner Designexpertise in ‚Laboren’ immer auch der Frage, ob dies mit ‚alternativen’ kritischen Theorieproduktionen des Urbanen einhergeht (Göbel, im Erscheinen). Die Assemblageforschung wird von vielen urbanen Akteuren mit sozialtheoretischer Expertise als eine Alternative zu (neo-)marxistischen Ansätzen wahrgenommen. Sie erscheint insbesondere hinsichtlich ihres Kritikbegriffs noch ausbaufähig zu sein. Das Konzept der Assemblage sollte im urbanen Raum nicht Gefahr laufen, als eines um akademisch Eingeweihte mit einer hermetisch organisierten Sprache „lost in the process of labelling“ wahrgenommen zu werden, wie es von John Law (1999: 9) vor über zehn Jahren in der Post-ANT-Debatte einst formuliert wurde. Gerade weil der Begriff der Übersetzung als sozialwissenschaftliche Vokabel so zentral gesetzt ist, bietet die Assemblageforschung, wie Alexa Färber betont, Möglichkeiten, die konventionellen Ordnungen des Wissenschaftssystems durch nicht nur interdisziplinäre, sondern auch intersektorale Kooperationen und die damit einhergehenden Experimentierfelder zu sprengen.[7]

Weil sie das Instrumentarium zur differenzierten Betrachtung von Kritikbegriffen bereithält, kann sich die Assemblageforschung in der ihr angemessenen Form verhalten. Alexa Färber hat dies in ihrem Beitrag angedeutet, jedoch nicht weiter ausgeführt. In Bezug auf den von ihr verwendeten Begriff von Gerechtigkeit und den Hinweis auf die neuen Potenziale der Assemblageforschung hinsichtlich der Sichtbarmachung von relevanten Konflikten bliebe zu fragen, welchen empirischen Ort von Kritik sie damit anspricht und wie dieser zu theoretisieren wäre. Wenn dies keine Einforderung auf Basis eines ‚dahinterstehenden’ (neo-)marxistisch inspirierten Paradigmas ist, worauf bezieht sich Kritik dann? Um in dem Dschungel von zirkulierenden Kritikbegriffen unter Akteuren im urbanen Raum und in der Stadtforschung navigieren zu können, ist es in meinen Augen wünschenswert, weiter an den empirisch konstituierten Kritikformen in der Assemblageforschung analytisch zu arbeiten und sich der Theoretisierung von Kritik zu widmen.

Endnoten

Autor_innen

Hanna Göbel arbeitet in folgenden Bereichen: Soziologie (Soziologische Theorie, Kultursoziologie, Körpersoziologie, Architektursoziologie, Wissenssoziologie), Science & Technology Studies (STS)/Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), Sense Studies, Urban Studies und Designforschung.

hanna.goebel@uni-hamburg.de

Literatur

Brenner, Neil / David J. Madden / Wachsmuth, David (2011): Assemblage urbanism and the challenges of critical theory. In: CITY 15/2, 225-240.

Farías, Ignacio (2010): Introduction: decentring the object of urban studies. In: Ignacio Farías / Thomas Bender (Hg.), Urban Assemblages: How Actor-Network Theory Changes Urban Studies. London/New York: Routledge, 1-20.

Farías, Ignacio (2011): The politics of urban assemblages. In: CITY 15/3-4, 365-374.

Farías, Ignacio / Bender, Thomas (Hg.) (2010): Urban Assemblages: How Actor-Network Theory Changes Urban Studies. London/New York: Routledge.

Göbel, Hanna (im Erscheinen): The Re-Use of Urban Ruins. Atmospheric Inquiries of the City. London/New York: Routledge.

Guggenheim, Michael (2012): Laboratizing and delaboratizing the world: changing sociological concepts for places of knowledge production. In: History of the Human Sciences 25/1, 99-118.

Hirschauer, Stefan / Kalthoff, Herbert / Lindemann, Gesa (Hg.) (2008): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

Law, John (1999): After ANT: complexity, naming and topology. In: John Law / John Hassard (Hg.), Actor Network Theory and After. Oxford: Wiley-Blackwell, 1-14.

Luhmann, Niklas (2009): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M./Suhrkamp Verlag.

Mol, Annemarie (1999): Ontological politics. In: John Law / John Hassard (Hg.), Actor Network Theory and After. Oxford: Wiley-Blackwell, 74-89.

Reckwitz, Andreas (2002) The status of the ‘material’ in theories of culture: From ‘social structure’ to ‘artefact’. In: Journal for the Theory of Social Behaviour 32/2, 195-217.

Schatzki, Theodore R. / Knorr Cetina, Karin D. / Savigny, Eike von (Hg.) (2001): The Practice Turn in Contemporary Theory. London/New York: Routledge.

Spencer-Brown, George (1969): Laws of Form. London: Allen & Unwin.