Narrative Ökonomien

Kommentar zu Alexa Färbers „Potenziale freisetzen“

Christa Kamleithner

Die Akteur-Netzwerk-Theorie kann, wie Alexa Färber dies in ihrem Beitrag betont, ein Mittel sein, um disziplinäre Grenzen zu überwinden und den oftmals allzu engen Rahmen eines ergebnisorientierten wissenschaftlichen Arbeitens zu sprengen, das sich in bekannten Erklärungsmustern bewegt. Dieses Plädoyer möchte ich unterstützen, aber auch mit einigen Fragen versehen. Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht dabei das, was man die narrative Ökonomie der ANT nennen könnte, sowie die Kritik, die gegen diese Ökonomie ins Feld geführt wird.

Wenn die ANT den genauen ethnographischen Blick, die dichte Beschreibung und den bewussten Verzicht auf vorschnelle Theoriebildung als wissenschaftliche Haltung empfiehlt, geht es ihr darum, eingeübten Kurzschlüssen und Verknappungen zu entkommen. Es geht ihr um eine Vermehrung der Gegenstände und Blickwinkel, um ein akribisches Versammeln heterogener Akteure, darum, auch bisher unbeachteten Aspekten Aufmerksamkeit zu schenken. Damit geht eine Tendenz zum Detail wie zur Fülle einher, wie sich in Paris, ville invisible deutlich zeigt, einer 1998 von Bruno Latour und der Fotografin Emilie Hermant unternommenen Parisstudie, die seit 2006 in mehreren Sprachen im Internet verfügbar ist. Kaum etwas entgeht dem Blick der beiden: Sie beachten administrative Objekte wie Straßenschilder und Hausnummerierungen ebenso wie bekannte touristische Brennpunkte. Und egal, um welches Objekt es sich handelt, forschen sie den Verbindungen zu anderen Orten und Akteuren bis in die kleinsten Verästelungen nach. Diese Verbindungen führen sie in Pariser Amtsstuben und Datenverarbeitungszentren ebenso wie zu global zirkulierenden Bildern und Klischeevorstellungen, die, wie im Pariser Café de Flore, in konkreten lokalen Interaktionen anzutreffen sind. Der Text folgt keiner erkennbaren Entwicklung, der Erzählstrom scheint kein Ende nehmen zu wollen, und es ist fraglich, wie viele Leser_innen das Ende erreichen. Die Studie gleicht künstlerischen Verfahren der Dokumentation, die sich nicht an etablierte Formate halten und eine Rezeptionshaltung fordern, die die üblichen Zeithorizonte aussetzt: Filme und fotografische Arbeiten, Texte und Sammlungen von Archivalien, die soziale Prozesse konkret zu erfassen versuchen und, da sie gewissermaßen in Echtzeit dokumentieren, ein größeres Volumen erreichen. Bekannt geworden ist hier insbesondere Allan Sekulas Fish Story (2002), eine Recherchearbeit, die im Zeitraum von sieben Jahren entstanden ist und in Text und Bild – 900 Fotografien – die Logistik des internationalen Frachtschiffverkehrs dokumentiert. Dem Vorgehen der ANT vergleichbar, macht sie den gern abstrakt verstandenen Prozess der Globalisierung in seiner konkreten sinnlichen Realität erfahrbar.

Die Frage, die sich angesichts eines solchen Aufwands aufdrängt, ist, ob sich ein solches Vorgehen verstetigen lässt. Wie ein Überblick über die Arbeiten von Latour zeigt, greift auch er selten zu derart ausufernden Beschreibungen. In den meisten Fällen – man denke etwa an den Berliner Schlüssel oder an den Pedologenfaden – erzählt er klassische Geschichten mit Anfang und Ende, in denen ein Objekt, ein Ort oder ein Handlungsstrang im Zentrum stehen. Wenn Latour eine solche Erzählweise manchmal zugunsten eines mäandernden Erzählstroms zurückstellt, dann ist dies also weniger als Arbeitsanweisung denn als punktuelle Intervention zu verstehen, die eine bestimmte Haltung sichtbar machen will. Schließlich muss man einräumen, auch wenn man – so wie Thomas Bender (2010: 305) – ein Plädoyer für die ANT und die mit ihr verwandte Assemblageforschung führt, dass der/die ANT-Forscher_in tendenziell Gefahr läuft, von ihrem Forschungsgegenstand aufgesogen zu werden und den Blick für das Wesentliche zu verlieren. Eine solche Kritik üben Neil Brenner et al. (2011: 233), die darauf bestehen, dass empirische Forschung nicht ohne einen übergeordneten theoretischen Rahmen auskommt, und die Vorstellung, auf einen solchen verzichten zu können, naiv sei. Zudem bestehe die Gefahr, dass so die wichtigsten Zusammenhänge übersehen werden. Ignacio Farías (2011) hat daraufhin klargestellt, dass der Vorwurf der Naivität ins Leere läuft, stehen doch epistemologische Fragen im Zentrum der ANT. Gerade sie weist darauf hin, dass es keine neutralen Beschreibungen gibt, sondern dass jede sozialwissenschaftliche Forschung ihre Gegenstände, auch wenn sie diese nur zu beschreiben sucht, auch formiert. Latour betont diese politische Brisanz in Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft (2007). Er stellt darin die Frage, welche Politik mit den etablierten Sozialwissenschaften verbunden ist und ob es nicht an der Zeit ist, neue wissenschaftliche und politische Modelle zu entwickeln. Und so geht es ihm darum, Akteure zu repräsentieren, die bisher unterrepräsentiert sind, sowie darum, ihre Handlungsfähigkeit zu zeigen und zu stärken. Wenn er darauf besteht, dass Handeln in konkreten Netzwerken geschieht, an denen vielfältige menschliche wie nichtmenschliche Akteure beteiligt sind, dann fordert dies zur Partizipation auf. Denn anders als in abstrakten Strukturen, die dem Handeln Einzelner per se entgehen, gibt es hier überall, an jeder Stelle des Netzwerks, Eingriffsmöglichkeiten. Gleichzeitig zeigt Latour, dass nie Einzelne, sondern immer Kollektive handeln, und so lautet sein politischer Auftrag, über die Bildung von Kollektiven nachzudenken und neue Kollektive zu bilden.

Colin McFarlane (2011), der die Debatte um die ANT und Assemblageforschung in der Zeitschrift CITY ausgelöst hat, stellt diesen politischen Auftrag ins Zentrum seines Plädoyers, das auf die Erforschung und Ermöglichung kollektiver Kreativität abhebt. Forschungsthema und wissenschaftliche Modellbildung scheinen dabei nahtlos ineinander überzugehen, ist doch die Praxis des ‚Commoning’, also des gemeinsamen Bewirtschaftens von Infrastrukturen, der kollektiven Wissensproduktion, insgesamt des gemeinschaftlichen Handelns, sowohl das Thema seiner Studien wie das Denkmodell, das diesen zugrunde liegt. Die Frage, die ein solches Vorgehen aufwirft – und eben diese Frage wird auch von den an politischer Ökonomie, an Fragen der Kapitalakkumulation und der ungleichen räumlichen Entwicklung geschulten Stadtforscher_innen legitimer Weise gestellt – ist, wie sich so hierarchische soziale Gefüge und starke Machtgefälle beschreiben lassen. Auch in den Schriften Latours fällt auf, dass das Thema der Macht – oder genauer: der ungleichen Machtverteilung – kaum vorkommt. Denkt man etwa an die Geschichte vom Berliner Schlüssel, dann geht es Latour genau darum, Macht nicht bei einem bestimmten Objekt oder Subjekt zu verorten, sondern in einem sozialen Gefüge, das im gemeinsamen Handeln eine bestimmte Situation stützt. Die Frage, ob nicht eines der involvierten Elemente machtvoller agiert als die anderen, scheint sich dabei nicht zu stellen. Allerdings bietet Latour in Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft (2007) Begrifflichkeiten, mit denen die Beschreibung von Machtgefällen möglich ist. So versteht er unter einem ‚Oligopticon’ einen Ort mit Überblick und großer Reichweite, beispielsweise einen trading room, in dem Daten aus aller Welt zusammenlaufen und an dem Globalisierung in ganz konkreter Art und Weise hergestellt wird. Ein anderer Begriff, den er einführt, ist der des ‚Panoramas’, den er für starke Bilder und Konzepte verwendet, in denen sich ein Zusammenhang verdichtet und die in der – möglicherweise globalen – Zirkulation eine enorme Wirkung entfalten können. Die Ausübung von Macht ist auch hier an ein Gefüge gebunden, und doch lassen sich Orte, Institutionen und Topoi identifizieren, wo sich Macht konzentriert. Ungleiche Machtverhältnisse sind mit den Mitteln der ANT beschreibbar, aber nicht als abstrakte Strukturen, die sich der Wahrnehmung entziehen und durch die wissenschaftliche Forschung ‚aufgedeckt’ werden müssen, sondern als konkrete Gefüge, deren Elemente in der Regel sichtbar sind und die nur miteinander ‚verknüpft’ werden müssen.

Mögliche Probleme der ANT liegen also nicht darin, dass sie die wissenschaftliche Produktion und Rezeption mit einer Überfülle von Details überschwemmen würde, und schon gar nicht darin, dass sie zu wenig wissenschaftliche und politische Reflexion betreiben würde. Das Problem besteht vielmehr darin, dass sich jede Forschung, die mit der ANT arbeitet, in jedem Moment die Frage der Auswahl und Sortierung von Material stellen muss. Welche Verbindung verfolgt und welche Geschichte erzählt wird, bedarf der Entscheidung – und eines politischen Bewusstseins. Die ANT glaubt nicht an wissenschaftliche Neutralität und Wahrheitsfindung. Es geht ihr darum, politische Sensibilität dafür zu wecken, dass jede wissenschaftliche Forschung Verbindungen stiftet, neue Einheiten herstellt, bestimmte Akteure repräsentiert oder eben nicht repräsentiert. Große abstrakte Vorstellungen wie ‚Globalisierung’ oder ‚Kapitalismus’ können dann nicht am Anfang der Recherche stehen, sondern kristallisieren sich erst in der Forschung, die an konkreten Orten, Techniken und Beziehungen ansetzt, heraus. Und womöglich zeigt sich in einer solchen Recherche auch ihre Kontingenz, zeigt sich, dass sich Globalisierung oder Kapitalismus an unterschiedlichen Orten je anders ausnehmen und dass sie sich in der Regel mit Praktiken und Verhältnissen überlagern, die unter diese Begriffe nicht zu subsumieren sind – eine Perspektive, die in der kritischen Geographie und Stadtforschung keineswegs neu ist und die Doreen Massey schon seit Langem verfolgt (vgl. insbesondere Massey 2013). Eine solche Perspektive bestätigt nicht nur die ohnehin machtvollen Verbindungen, sondern kann jene ermächtigen, die in den Modernisierungsgeschichten, die in den Sozialwissenschaften gern erzählt werden, außen vor bleiben.

Autor_innen

Christa Kamleithner ist Architektur- und Kulturwissenschaftlerin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Theorien des sozialen Raums, medienwissenschaftliche Zugänge zur Architektur sowie Geschichte und Gegenwart der Stadtplanung.

kamleithner@architekturwissenschaft.net

Literatur

Bender, Thomas (2010): Reassembling the city: networks and urban imaginaries. In: Ignacio Farías / Thomas Bender (Hg.), Urban Assemblages. How Actor-Network Theory Changes Urban Studies. London/New York: Routledge, 303-323.

Farías, Ignacio (2011): The politics of urban assemblages. In: CITY 15/3-4, 365-374.

Latour, Bruno (1996): Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Berlin: Akademie Verlag.

Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

Latour, Bruno / Hermant, Emilie (2006 [1998]): Paris: Invisible City, unter: http://www.bruno-latour.fr/sites/default/files/downloads/viii_paris-city-gb.pdf.

Brenner, Neil / Madden, David J. / Wachsmuth, David (2011): Assemblage urbanism and the challenges of critical urban theory. In: CITY 15/2, 225-240.

Massey, Doreen (2013 [1991]): Ein globales Ortsbewusstsein. In: Susanne Hauser / Roland Meyer / Christa Kamleithner (Hg.), Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Bd. 2: Logistik des sozialen Raumes. Bielefeld: Transcript Verlag, 85-96.

McFarlane, Colin (2011): Assemblage and critical urbanism. In: CITY 15/2, 204-224.

Sekula, Allan (2002): Fish Story. Düsseldorf: Richter Verlag.