Stadt als Praxis ko-laborativ wissen

Kommentar zu Alexa Färbers „Potenziale freisetzen“

Jörg Niewöhner

Alexa Färber entwickelt aus ihrer Analyse des Schnittfeldes von ANT/Assemblageforschung und Stadtforschung erstens ein Plädoyer für ein Verständnis von städtischen Räumen als multipel. Zweitens argumentiert sie, dass empirische Forschung, die diesem Raumverständnis gerecht werden möchte, der Welt als immer schon erfahrenem Raum empirisch zugewandt sein sollte. Drittens folgert sie, dass eine derartige Forschung letztlich nur über konsequent interdisziplinäre Arbeit möglich sei, die aber im heutigen Wissenschaftsbetrieb nicht zur Entfaltung komme. Ihre Analyse und Bewertung dieses Forschungsfeldes erscheinen mir ebenso plausibel wie stringent. Die Stoßrichtung, für die sie plädiert, unterstütze ich. In einigen Details der Ausrichtung der Forschung und ihrer Begründung bin ich jedoch anderer Meinung. Drei davon möchte ich in Kürze aus (stadt-)anthropologischer Sicht ausführen.

1. Praxis und Care

Färber weist auf eine weitverbreitete scharfe Unterscheidung hin: Auf der einen Seite befinden sich Verständnisse von Stadt, die sich auf eine ontologische Einheit beziehen, deren Wesen es zu bestimmen gilt; auf der anderen geht es um Urbanität als Ansammlung verschiedener erfahrungsbasierter Realitäten. Assemblage-Denken sei in der Lage, so Färber, die notwendige Verknüpfung dieser beiden Elemente des Urbanen in städtischen Alltagen zu fassen und ihre kontinuierliche (Re-)Produktion zu analysieren.

Diesen Gedanken möchte ich mit einer etwas anderen Betonung weiterspinnen. Erstens geht es meines Erachtens in dieser Diskussion vor allen Dingen um Prozesse des Verknüpfens. Materiell-semiotische Praxis (Haraway 1997) scheint mir immer noch das einfachere und präzisere Konzept, um dies zu fassen. Es betont die Prozessualität von Stadt – oder vielmehr: verschiedene Modi des ‚stadtens‘ – und transportiert in seinen praxistheoretischen Wurzeln das Interesse für das Spannungsverhältnis von Regelmäßigkeit und Kreativität; ein Unterschied in der Betonung – selbstverständlich –, aber einer, der sowohl andere fachhistorische Kontexte aufruft, als auch andere empirisch-analytische Strecken anlegt (Beck et al. 2012). Zweitens möchte ich herausstreichen, dass das Ziel einer solchen Forschung nicht lediglich sein kann, spezifische Praktiken zu beschreiben. Vielmehr muss es darum gehen, transparent zu machen, wie Praktiken sich zueinander verhalten, wie sie sich gegeneinander durchsetzen und stabilisieren oder rasch wieder verschwinden und welche Legitimierungsstrategien dabei zum Einsatz kommen. Was passiert wie, bevor ein spezifischer Alltag Gestalt annimmt? Annemarie Mol spricht von care, um dieses als „negotiating alternative orderings“ zu kennzeichnen (Mol et al. 2010). Letztlich geht es um nichts anderes als eine praxistheoretische Reformulierung der zentralen Frage: cui bono? Diese Frage auf der Ebene von Praktiken zu stellen, ermöglicht es, der strengen Subjekt-Objekt-Trennung und damit auch den zu einfachen Verständnissen von Macht zu entkommen, die den marxistischen bzw. materialistischen Wurzeln dieses Bereichs der Stadtforschung geschuldet sind und den städtischen Alltagen heute so wenig gerecht werden. Eine Möglichkeit in diesem Sinne wäre, De Landa (2009) zu folgen und über politische Ökonomie jenseits von Marx und damit nichtlinearer bzw. ökologischer nachzudenken.

2. Kritische Forschung

Das Adjektiv kritisch oder critical vor einem Substantiv, das eine Forschungsrichtung bezeichnet, ist nicht nur im Zusammenhang mit der ANT und Assemblageforschung problematisch. Zwei Lesarten sind möglich: a) Entweder ist kritisch umgangssprachlich gemeint und grenzt sich damit von affirmativer Forschung ab, die man kritisiert. Dies scheint immer dann gemeint zu sein, wenn man sich von der naiv objektivierenden Forschung der „anderen“ abgrenzt, die immer noch glauben, Stadt sei mit großen Konzepten zu fassen oder gar zu quantifizieren. Meines Erachtens basiert diese Form der Kritik weitgehend auf einer wissenschaftstheoretischen Fehleinschätzung. Der Anthropologe Richard Shweder (2011: 222) schreibt dazu:

„The knowable world is incomplete if seen from any one point of view, incoherent if seen from all points of view at once, and empty if seen from “nowhere in particular”. Given the choice between incompleteness, incoherence, and emptiness, the best option is to opt for incompleteness, staying on the move between different points of view.“

Forschung, die sich selbst als kritisch bezeichnet, scheint mir oft zu meinen, die Natur- und Technikwissenschaften für ihren view from nowhere kritisieren zu können, wenn diese in Wirklichkeit mit ihrer eigenen incompleteness längst besser umzugehen gelernt haben als die kritische Forschung mit ihrer eigenen politisch-ideologischen Festlegung. Es droht Hermetik, wo Bewegung zwischen points of view herrschen sollte. b) Zum Elend der Kritik in materialistischer Tradition hat Latour (2004) sich hinreichend geäußert. Nimmt man matters of concern als Teil von Assemblageforschung ernst, dann macht das Adjektiv kritisch überhaupt keinen Sinn mehr, denn es bezieht sich auf eine Theorietradition, die positives Wissen und Technologie als asoziale Phänomene fürchtete und zu kontrollieren bzw. zu dekonstruieren suchte. Latour zeigt, wie gerade dieses Verständnis von Kritik letztlich die wenig hilfreichen Dichotomien von Natur/ Kultur und Subjekt/ Objekt fetischisiert, die es aufzulösen versucht.

3. Transdisziplinarität und Widerstandsaviso

Die Forderung von Alexa Färber, sich der Welt zuzuwenden, gefällt mir gut. Dass dies interdisziplinär geschehen soll, finde ich auch richtig. Allerdings fürchte ich, dass wir damit verschiedene Dinge meinen. Zunächst finde ich es zu einfach, sich auf der Beschwerde über die beschränkte und beschränkende Wissenschaftslandschaft auszuruhen. So sehr ich diese Einschätzung der Förder- und Forschungslandschaft teile, so wenig halte ich diese Argumentation für hilfreich. Fakt ist: Das (Assemblage-)Forschungsfeld hat interessanten theoretischen Bewegungen keine empirische Dichte folgen lassen. Zwei Bemerkungen dazu:

  1. Erstens hat dieser Mangel an dichter Empirie methodologische Gründe. Die herkömmliche Ethnographie, das heißt Einzelforschung und das unvermittelte teilnehmende Beobachten, sind in der Assemblageforschung zunehmend weit verbreitet. Es wird weder in Teams gearbeitet, noch werden systematisch Methoden variiert. Dafür gibt es gute epistemische wie praktische Gründe – das Ergebnis bleibt jedoch gleich: Viele Forschungsfragen können so nicht beantwortet werden. Die meines Erachtens übertriebene und unreflektierte Angst vor Generalisierung und Abstraktion vom Einzelfall hilft hier nicht bei der Herstellung von Anschlussfähigkeit.
  2. Zweitens ist diese ‚offene‘ Art des empirischen Arbeitens und der Repräsentation den klassischer organisierten Wissenschaftszweigen zunehmend schwer zu vermitteln. Im Versuch, jeglicher als Beschränkung begriffenen Form zu entgehen und neue Wege (radikal?) zu beschreiten, wird dieser Verlust von Anschlussfähigkeit in Kauf genommen. Man fühlt sich dem Feld, nicht aber den anderen Wissenschaften gegenüber verpflichtet. Dies ist im Assemblage-Denken weit verbreitet. Donna Haraway schreibt allerdings bereits 2008 über Deleuze und Guattari, dass diese eine sublime Form der Philosophie betrieben; dass sie sich niemals der tatsächlichen Welt aus Erde und Dreck zuwenden würden „in their disdain for the daily, the ordinary, the affectional rather than the sublime“ (Haraway 2008: 29). Hier lauert eine Gefahr für das Assemblage-Denken. Denn schnell entsteht hier eine sublime Empirie mit globalen urbanen Eliten im Schnittfeld zu Kunstprojekten, mit Exzentriker_innen abseits ihrer eigenen Disziplinen und Arbeitsfeldern und mit exemplarischen Arbeiten zu spektakulären Phänomenen. Diese Art der Forschung birgt das Potenzial für Überraschungen. Sie vergisst allerdings allzu schnell das Gewöhnliche, Triviale und Langweilige der städtischen Alltage wie der Wissenschaft. Beides scheint mir wichtig.

 

Ich möchte also sehr deutlich dafür plädieren, die Stadtforschung anschlussfähig in Richtung der Natur- und Technikwissenschaften zu halten. Statt auf eine interdisziplinäre und damit letztlich integrative Theoriebildung abzuzielen, plädiere ich allerdings für ein transdisziplinäres Format. Das Ziel sollte meines Erachtens sein, ko-laborativ erarbeitete Befunde in die jeweils beteiligten Disziplinen zurückzuführen und sie dort als Widerstandsaviso wirken zu lassen, das heißt als Widerstand von innen gegen die jeweils herrschenden Denkstile, Kategorien und Designs (Fleck 1980 [1935]). Die Disziplinen werden sich dann selbst überlegen, wie sie mit diesem Widerstand im eigenen Denkkollektiv umgehen wollen. Assemblageforschung kann dabei in transdisziplinären Kontexten zunächst nur mit denjenigen ko-laborieren, die willens sind – anders ist der Aufbau von intensiver Ko-laboration oder von para-sites nicht möglich (Marcus 2010). Umso wichtiger ist es jedoch, diese Formen des kontrollierten Involviertseins analytisch für generative Theoriearbeit (Verran 2001) – und in diesem Sinne gern auch für Kritik – zu nutzen.

Autor_innen

Jörg Niewöhner arbeitet in folgenden Bereichen: Sozial- und Kulturanthropologie, Science and Technology Studies und Stadtanthropologie.

joerg.niewoehner@staff.hu-berlin.de

Literatur

Beck, Stefan / Niewöhner, Jörg / Sørensen, Estid (2012): Science and Technology Studies. Eine sozialanthropologische Einführung. Bielefeld: Transcript Verlag.

De Landa, Manuel (2009): A Thousand Years of Nonlinear History. New York: Zone Books.

Fleck, Ludwik (1980 [1935]): Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

Haraway, Donna J. (1997): Modest_Witness@Second _Millennium.FemaleMan_Meets _OncoMouse : Feminism and Technoscience. London/New York: Routledge.

Haraway, Donna J. (2008): When Species Meet. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Latour, Bruno (2004): Why has critique run out of steam? From matters of fact to matters of concern. In: Critical Inquiry 30/2, 225-248.

Marcus, George E. (2010): Contemporary fieldwork aesthetics in art and anthropology: experiments in collaboration and intervention. In: Visual Anthropology 23/4, 263-277.

Mol, Annemarie / Moser, Ingunn / Pols, Jeannette (Hg.) (2010): Care in Practice. On Tinkering in Clinics, Homes and Farms. MateRealities / VerKörperungen. Bielefeld: Transcript Verlag.

Shweder, Richard A. (2001): A polytheistic conception of the sciences and the virtues of deep variety. In: Antonio R. Damasio et al. (Hg.), Unity of Knowledge: The Convergence of Natural and Human Science. New York: New York Academy of Sciences, 217-232.

Verran, Helen (2001): Science and an African Logic. Chicago: University of Chicago Press.