Unruhe stiften!

Kommentar zu Alexa Färbers „Potenziale freisetzen“

Nikolai Roskamm

Viele Beiträge zum Verhältnis von Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) und kritischen Urban Studies laufen letztlich auf die Feststellung einer Vereinbarkeit beider Forschungsrichtungen hinaus (etwa Castree 2002, Elder-Vass 2008, McFarlane 2011). ‚Brücken zu bauen‘ zwischen unterschiedlichen Herangehensweisen scheint gegenwärtig nicht nur in der deutschsprachigen Stadtforschung ein verbreiteter Ansatz zu sein. Auch Alexa Färbers Beitrag sympathisiert mit einer solchen Perspektive. Der Verdienst ihres Beitrag ist es, dabei auf verschiedene und sehr kontrovers geführte Diskussionen hinzuweisen: insbesondere auf die schon länger andauernde deutschsprachige Debatte in den Kulturwissenschaften und der Soziologie (1) sowie auf die aktuelle Debatte in den englischsprachigen Urban Studies (2). Dem zugunsten verzichtet Färber allerdings auf eine eigene pointierte Kritik, was für einen Debattenaufschlag nicht unbedingt ideal ist, da eine Debatte von der Ausarbeitung unterschiedlicher Positionen lebt und von der Schärfung dieser Positionen, die im besten Fall in einem solchen Streitgespräch entsteht.

Aktuell und leicht verspätet ist die ANT-Debatte – auch dafür steht Färbers Text – in der deutschsprachigen Stadtforschung angekommen. Die kontroversen Diskussionen, die in Nachbardisziplinen und insbesondere in der Politischen Philosophie geführt werden, werfen dabei Inhalte auf, die die theoretische Rahmung von kritischer Stadtforschung grundlegend hinterfragen. Das ist meine erste These. Meine zweite These lautet, dass eine solche Hinterfragung notwendig ist, wenn kritische Stadtforschung nicht riskieren möchte, an Relevanz zu verlieren oder schlicht langweilig zu werden. Aus diesen beiden Gründen möchte ich mit meinem Kommentar nicht so sehr Brücken bauen, sondern eher: Unruhe stiften. Es geht mir weniger darum, gemeinsame Ansatzpunkte aufzuzeigen, als vielmehr Unterschiede herauszuarbeiten. Zu diesem Zweck werde ich in erster Linie einige Argumente der beiden von Färber angesprochenen Debatten benennen und diskutieren. Am Ende meines Kommentars werde ich dann versuchen, Färbers eigene Position vor diesem Hintergrund zu interpretieren.

In der kulturwissenschaftlichen und soziologischen ANT-Debatte (1) geht es vor allem um unterschiedliche Theoriepositionen, die mit Begriffen wie Sozialkonstruktivismus, Pragmatismus oder Poststrukturalismus beschrieben werden können. In dieser Diskussion stehen sich ANT-Anhänger_innen und ihre Gegenredner_innen meist recht unversöhnlich gegenüber. Dabei ist es weniger die berühmte Wirk- und Handlungsmacht der Dinge, um die gestritten wird, sondern die Frage nach der metaphysischen und/ oder ontologischen Ebene der im Namen der von der ANT geführten Kritik am ‚Sozialen‘ sowie unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Herleitungen als theoretisch kohärent anzusehen sind. Die ANT bricht mit einem „zum Mainstream geronnen Konstruktivismus“, und der Erfolg von Latours Thesen beruht, wie Urs Stäheli (2009: 141) treffend zusammenfasst, auf einer allgemeinen und tiefgreifenden Krise der klassischen Konzepte von Repräsentation und Konstruktion. Schließlich kritisiert Latour (2010: 89) die traditionelle Soziologie – vorschnell und wenig differenziert, wie seine Kritiker_innen meinen – für ihre nicht hinterfragte Ontologie, also für ihre nicht explizit gemachte Vorstellung von dem, was die Welt wirklich ist. Die Weigerung, sich mit solch einer philosophischen Fragestellung auseinanderzusetzen, bedeutet nach Latour (ebd.) jedoch lediglich, dass die meisten Sozialwissenschaftler_innen ihrer impliziten metaphysischen Vorstellung (und zwar einer gewöhnlich „sehr dürftigen“ Vorstellung) verhaftet blieben. Ein von soziologischer Seite angeführtes Argument gegen diesen Vorwurf lautet, dass die ontologische Frage gar nicht (mehr) zur Debatte stehe und sich schon lange vom „alteuropäischen Sprachspiel der Metaphysik“ (Knerr 2009: 24) verabschiedet worden sei.

Insgesamt also stehen hier auf einer grundlegenden Ebene kaum vereinbare Auffassungen über das Verständnis von Theorie, Wissenschaft und deren Voraussetzungen zur Disposition.

Die neuere englischsprachige Debatte in den Urban Studies (2) unterscheidet sich von diesem Diskursfeld in einigen wesentlichen Punkten. Zum einen bezieht sie sich weit weniger auf die Originalthesen von etwa Bruno Latour und John Law. Es werden eher solche Ansätze diskutiert, die seit einigen Jahren mit dem Label ANT/STS unter dem Dach der Stadtforschung residieren. Zum anderen geht es hier zwar im Grunde ebenso um verschiedene Theoriepositionen, diese werden aber meist weniger explizit verhandelt. Vielmehr entzündet sich die Debatte insbesondere an der Frage, welches das richtige Verständnis von Kritik ist, oder auch, was die (strategischen, methodischen) Folgerungen aus einem solchen Kritikverständnis sind. Denn überraschenderweise scheint hinsichtlich der Frage nach dem inhaltlichen Kern der Kritik weitgehend Konsens zu herrschen: Alle Beteiligten, so schreiben Brenner et al. (2011: 748) in der von Färber erwähnten und in der Zeitschrift CITY geführten Diskussion, wären doch weitgehend einig über das Ziel, städtischen Raum gleicher, gerechter, demokratischer und umweltfreundlicher zu gestalten.

Auch wenn viele Beiträge der Debatte ‚ANT versus kritische Stadtforschung‘ sich schließlich für Annäherungen und gemeinsame Projekte aussprechen (was ein weiterer Unterschied zur erstgenannten Soziologiedebatte ist – explizierte grundlegende Theoriepositionen lassen sich offenbar schwerer zueinander bringen als unterschiedliche Strategieentscheidungen), werden hier gleichfalls die Unterschiede herausgearbeitet. Die Vorwürfe aus den Reihen der Urban Studies lauten zusammengefasst, dass im ANT-Umfeld ein „analytisches Stillschweigen“ hinsichtlich politisch-ökonomischer (kapitalistischer) Prozesse festzustellen sei, dass institutionelle Machtstrukturen vernachlässigt und (dafür) die Perspektiven der Mikroebene überprivilegiert würden (ebd.: 742). Vertreter_innen der ANT-Perspektive stellen demgegenüber vier fundamentale Unterschiede zwischen der traditionellen kritischen Stadtforschung und der ANT-Praxis fest (Farias 2011: 365): den Stil des wissenschaftlichen Engagements (Analyse oder Kritik), die Definition der Untersuchungsobjekte (Städte oder Kapitalismus), die grundlegenden Konzeptionen des Sozialen (Assemblagen oder Strukturen) und das angestrebte politische Projekt (Demokratisierung oder Revolution).

Der Diskurs erinnert an einen Generationenkonflikt: auf der einen Seite die arrivierte kritische Stadtforschungsvätergeneration (weiterhin viel mehr Väter als Mütter) mit ihrem streiterprobten politökonomischen Vokabular, auf der anderen Seite der theoretisch bilderstürmerische, aber politisch etwas angepasste ANT-Zögling. Diese Konstellation stellt die kritische Stadtforschung, die seit ihrer Etablierung in den 1970er Jahren immer das Ziel verfolgt hat, überkommene Strukturen und Perspektiven aufzubrechen und zu hinterfragen, vor eine Herausforderung: Die Vorzeichen kehren sich um und sie wird selbst hinterfragt. Die Vertreter_innen der kritischen Stadtforschung sollten aufmerksam bleiben, dass sie in dieser Debatte nicht zu den Bewacher_innen der Grenzen des Falschen und des Richtigen (Stäheli 2009: 140) werden, sondern Offenheit und Selbstzweifel pflegen, um auf der theoretischen Ebene nicht zu stagnieren und von den neuen Strömungen (die ganz offensichtlich gerade bei einer jungen kritischen – wenn auch vielleicht weniger gesellschaftskritischen, sondern eher theoriekritischen – Generation immer größeren Anklang finden) nicht nur nicht abgehängt zu werden, sondern (eben doch) schließlich von ihnen profitieren zu können.

Wichtig erscheint mir dabei auf der einen Seite, weiter an der Herausarbeitung der grundlegenden Unterschiede zu arbeiten. Das bedeutet zunächst und vor allem, sich explizit auf jene Theoriedebatte einzulassen, die die traditionellen Fundamente infrage stellt. Diese Bereitschaft scheint zumindest in Teilen der kritischen Stadtforschung nicht allzu stark ausgeprägt zu sein. So schreiben etwa Brenner et al. (2011: 740) in ihrem abschließendem Statement zur CITY-Debatte, dass theoretische, konzeptionelle und methodische Entscheidungen in konkreten, zu erklärenden und zu interpretierenden Dilemmata gerahmt sein sollten, und nicht in ontologischen Fundamenten. Es ist die ausschließende Gegenüberstellung, die hellhörig macht, genauso wie die Ausführung, dass der „Prozess der Abstraktion essenziell für das Generieren von kohärentem, theoretisch und praktisch adäquatem Wissen über die zeitgenössischen urbanen Bedingungen“ sei (ebd.: 747, Hervorh. d. A.). Auch hier zeigt sich ein fundamentalistischer Tenor, der erahnen lässt, dass ein solches „kohärentes adäquates Wissen“ über die Stadt wenig Spielraum für allzu viele Fragen und Zweifel lässt. Ähnlich verhält es sich, wenn die allgemeine Schwerpunktsetzung des ANT-Umfelds auf Themen wie ‚Offenheit‘ und Kontingenz als unangebracht bemängelt wird (ebd.: 742). An diesem Punkt scheint mir jedoch der verborgene Kern der Debatte zu liegen: Latours Kritik an der kritischen Soziologie zielt ja gerade auf die ontologische und metaphysische Ebene und damit insbesondere auf die dogmatischen, deterministischen und fundamentalistischen Bestandteile einer marxistisch geprägten politökonomischen (und ‚geopolitischen‘) Position. Es ist auffällig, dass sich weite Teile der Urban Studiesdiesem Diskurs, der vielleicht am besten mit dem Begriff der ‚poststrukturalistischen Sozialwissenschaften‘ (vgl. Moebius/Reckwitz 2008) umschrieben werden kann, verweigern und auch die dort unter anderem zu findende postmarxistische „Dekonstruktion des Marxismus“ (Laclau/Mouffe 2001) kaum diskutieren.[1] Ebenso auffällig ist, dass der Begriff der Kontingenz, der all diese poststrukturalistischen Debatten durchzieht, in den vorrangig an politischer Ökonomie orientierten Ansätzen eher auf Ablehnung stößt.[2]

Auf der anderen Seite sind meines Erachtens einige Kritikpunkte vonseiten der Urban Studiesunbedingt gerechtfertigt, wenn vielleicht auch weniger, was die Originaltexte von Latour & Co. betrifft, sondern vor allem hinsichtlich der Ansätze, die sich unter dem ANT-Dach versammeln: Hier gibt es mitunter tatsächlich einen „naiven Objektivismus“ sowie nicht selten die Tendenz, politische und kritische Positionen auszublenden. Daher ist Brenner et al. (2011: 746) vorbehaltlos zuzustimmen, wenn sie vor entpolitisierten und dekontextualisierten Ansätzen warnen.

Diese Einschätzung ist auch für Färbers Beitrag relevant, die eine vermittelnde Haltung einnimmt und herausarbeitet, dass beide Ansätze (die ANT und die kritische Stadtforschung) miteinander vereinbar sind. Eine solche Verbindung ist aus meiner Sicht zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, erfordert jedoch aufmerksame Positionierungen und Diskussionen (möglicherweise ist das die „Reinigungsarbeit“, von der Färber spricht). Konkret bedeutet das, dass eine Forschung unter dem Dach der ANT, die den Anspruch hat, sich in der Tradition der kritischen Urban Studieszu verorten, sich explizit mit Fragen nach dem ‚Politischen‘ und dem ‚Kritischen‘ der eigenen Herangehensweise auseinandersetzen sollte. Dann ist sie möglicherweise auch in der Lage, bestehende Blindstellen der kritischen Stadtforschung zu beleuchten.[3]

Uneingeschränkt zuzustimmen ist Alexa Färber schließlich hinsichtlich der Forderung nach mehr Freiräumen für die analytische Unabhängigkeit von Stadtforschung. Das neoliberale Regime ist auch und vielleicht gerade in den Universitäten hegemonial geworden, und eine kritische Stadtforschung sollte hier direkter und entschiedener intervenieren, als es bisher der Fall ist. Dass Färber diesen Punkt nicht nur auf die prekären Arbeitsbedingungen beschränkt, sondern den Geist der neoliberalisierten Wissenschaft grundlegend hinterfragt, ist ein Beispiel für das Potenzial, das die Verbindung von ANT und kritischer Stadtforschung bietet.

Endnoten

Autor_innen

Nikolai Roskamm beschäftigt sich mit Stadt- und Raumkonzepten, Theorien des Politischen und der Wissenschaftsgeschichte des Urbanismus.

n.roskamm@isr.tu-berlin.de

Literatur

Brenner, Neil / Madden, David J. / Wachsmuth, David (2011): Between abstraction and complexity. Meta-theoretical observations on the assemblage debate. In: City 15/6, 740-750.

Castree, Noel (2002): False antitheses? Marxism, nature and actor-networks. In: Antipode 34/1, 111-146.

Dikeç, Mustafa (2013): Immigrants, banlieues, and dangerous things: ideology as an aesthetic affair. In: Antipode 45/1, 23-42.

Elder-Vass, Dave (2008): Searching for realism, structure and agency in Actor Network Theory. In: The British Journal of Sociology 59/3, 455-473.

Farıás, Ignacio (2011): The politics of urban assemblage. In: City 15/3-4, 364-374.

Kneer, Georg (2009): Welcher Pragmatismus? Welcher Poststrukturalismus? Eine Entgegnung auf den Beitrag von Markus Holzinger. In: ZfS-Forum 1/1, 1-32.

Laclau, Ernesto / Mouffe, Chantal (2001): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien: Passagen Verlag.

Latour, Bruno (2010): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.

McFarlane, Colin (2011): On context. Assemblage, political economy and structure. In: City 15/3-4, 375-388.

Moebius, Stephan / Reckwitz, Andreas (2008): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften. Frankfurt a. M: Suhrkamp Verlag.

Purcell, Mark (2009): Resisting neoliberalization: communicative planning or counter-hegemonic movements? In: Planning Theory 8/2, 140-165.

Stäheli, Urs (2009): Theorie als Experiment. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 2/2009, 138-143.

Swyngedouw, Erik (2009): The communist hypothesis and revolutionary capitalisms: exploring the idea of communist geographies for the twenty-first century. In: Antipode 41/S1, 298-319.