Was ist kritische Stadtforschung? Jan Kemper und Anne Vogelpohl antworten in einer Ausgabe dieser Zeitschrift darauf so: Eine kritische Haltung in der Stadtforschung beruht auf der „Berücksichtigung der historisch-sozialen Voraussetzungen für gegenwärtige Stadtentwicklungsprozesse, [der] Analyse der städtischen Raum- und Sozialverhältnisse als krisen- und konfliktvermittelte und deshalb als dynamische Verhältnisse sowie [der] Konzeptionierung dieser Verhältnisse als veränderbar“ (Kemper/Vogelpohl 2013: 7). Die Perspektive, die kritische Stadtforscher_innen einnehmen sollten, könnte also vereinfachend so beschrieben werden: Es gibt immer Alternativen, mögen diese auch marginalisiert sein. Alles ist grundsätzlich änderbar und damit politisch verhandelbar.
Wie werden junge Forscher_innen zu einer kritischen Haltung befähigt oder wie können sie sich ihr zumindest annähern? Die Sommerschule „Geographische Stadtforschung. Neoliberalisierung. Exklusionen. Widerstände“, die im September 2013 in Frankfurt am Main stattfand, wollte diesbezüglich einen Einstieg bieten. Es trafen sich etwa 60 Teilnehmer_innen am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität, um sich mit kritischer Stadtforschung und aktuellen Entwicklungen in den Städten auseinandersetzten. An drei Tagen gab es mehrere je 90-minütige Theorie- und Themenmodule, die einen ersten Einblick in kritische Theorien und angewandte Forschung vermittelten. Ein Tag war Exkursionen vorbehalten. Drei Abende schlossen mit sogenannten keynote lectures. So ergab sich für die Studierenden und Nachwuchswissenschaftler_innen die Möglichkeit zu thematischen Diskussionen mit namhaften Forscher_innen und Dozent_innen aus dem deutschsprachigen Raum. Die Gruppe der Teilnehmenden war zwar interdisziplinär zusammengesetzt, die Mehrheit hatte jedoch einen deutlichen Schwerpunkt auf der Humangeographie. Dies lässt sich damit erklären, dass die Veranstaltung die vierte in einer Reihe war, die 2010 an der Universität in Erlangen als ,Humangeographische Sommerschule‘ begonnen worden ist.
Zum Veranstaltungsort. Wo hätte die Veranstaltung besser stattfinden können als in Frankfurt? Wenn es um kritische Stadtforschung geht, dann ist Frankfurt ohne Frage eine gute Wahl. Erstens aufgrund der Tradition der Frankfurter Schule und zweitens weil das Humangeographische Institut in Frankfurt eine besondere Rolle im deutschsprachigen Raum einnimmt, wenn es um Neoliberalisierungskritik auf städtischer Ebene geht. Ein dritter Grund ist, dass die Universität selbst Möglichkeiten zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der „Neuordnung des Städtischen im neoliberalen Zeitalter“ bietet.[1] Denn die Verlagerung der Goethe-Universität vom Campus Bockenheim auf den neugeschaffenen Campus Westend auf dem ehemaligen IG-Farben-Gelände kann als Ausdruck neoliberaler Politik gelesen werden: also umkämpfte städtische Räume in Bockenheim, das Primat von Sicherheit und Überwachung im öffentlichen Raum im Westend (vgl. Belina et al. 2013).
Bei den Dozent_innen herrschte eine politökonomische Perspektive vor. Diese war verständlicherweise sehr stark geprägt von den Angehörigen des Frankfurter Geographie-Instituts. Darüber hinaus waren auch Paul Reuber und Annika Mattissek (deren Schwerpunkt auf Politischer Geographie und Diskursanalyse liegt), Anke Strüver (sie befasst sich als Kulturgeographin intensiv mit Geschlechterbeziehungen) und Ilse Helbrecht (eine weitere Kulturgeographin) eingeladen. Allerdings fehlten Vertreter_innen des Konzepts der ,Eigenlogik der Städte‘. Die aktuell größte Kontroverse in der deutschsprachigen Stadtforschung blieb damit weitgehend ausgeklammert (vgl. Kemper/Vogelpohl 2013). Insgesamt schien bei allen Teilnehmenden eine gemeinsame Denkrichtung vorzuherrschen. Dies schlug sich auch in den vorgestellten theoretischen und analytischen Ansätzen nieder.
Ein kurzer Blick auf die Theoriemodule: Dort wurden David Harvey, Henri Lefebvre und Michel Foucault präsentiert. Außerdem gab es Einführungen in die feministische Stadtforschung, in neue politische Theorien, zum Beispiel im Anschluss an Jacques Rancière, sowie in die Phänomenologie. Das heißt, im Mittelpunkt standen – zumindest für diejenigen, die sich schon intensiver mit kritischer Stadtforschung beschäftigt haben – eher wohlbekannte Autoren. Immerhin wurde auch ein neuerer Essay von Judith Butler zu den Unruhen auf dem Tahrir-Platz in Kairo zur Diskussion gestellt. Sonst griffen die Dozent_innen im Wesentlichen auf einführende Literatur zurück, was im Hinblick auf die unterschiedlichen Kenntnisse zu Kritischer Theorie unter den Teilnehmenden durchaus sinnvoll war.
Auf die Theorie folgten stärker empirisch ausgerichtete Module. Hier reichten die Themenangebote von Migration, Rassismus und Neoliberalismus über ökologische Leitbilder bei der Stadtentwicklung bis hin zu Themen wie ,Körper im städtischem Raum‘ oder der Frage, ob auch Neonazis ein ,Recht auf Stadt‘ haben. Leider erschwerte die Größe der Workshops (es nahmen jeweils um die 30 Personen teil) eine lebendige Diskussion, an der sich alle beteiligen konnten.
Den Auftakt bei den keynotes lectures machte am ersten Abend Ilse Helbrecht aus Berlin. Sie fragte „Immer noch Gentrification? Oder sind wir nicht schon längst durch mit dem Thema?“ Ihre deutliche Antwort lautete: Nein. Am Beispiel Berlins zeigte sie auf, dass es notwendig sei, Gentrification an drei Punkten weiterzudenken. Zunächst müsse der Blick auf die Verdrängten empirisch erweitert werden. Zudem bestünden noch theoretische und normative Leerstellen im Bereich staatlich induzierter Gentrification. Als Drittes stellte Helbrecht die Frage, ob das Thema Gentrification nicht vor allem von einer eurozentristischen bzw. ,westlichen‘ Sicht geprägt sei. Spannende Fragen kamen auch in der Diskussion auf, darunter: Ist es möglich, immer weiter dem kapitalistischen Wachstumsparadigma und dem TINA-Prinzip (There is no alterative) zu folgen oder ist nicht insbesondere in Berlin irgendwann eine ökonomische Grenze bei der Aufwertung erreicht?
Christian Schmid aus Zürich präsentierte in der zweiten keynote lecture eine besonders diskussionswürdige These: Die Urbanisierung habe sowohl den Mount Everest als auch die Weltmeere erreicht.[2] Mit seinem Konzept der ,planetarischen Urbanisierung‘ unternimmt Schmid den Versuch, das Urbane neu zu fassen. Das Global-City-Konzept funktioniert seiner Meinung nach nicht mehr, da es nur eine bestimmte Kategorie von Städten einschließt. Urbanisierung fände eben auch andernorts statt, etwa am Mount Everest, auf den Weltmeeren oder im ländlichen Raum. Die Menschen lösten sich vom Boden. Das Städtische sei kommodifiziert. Das bisherige analytische Instrumentarium reiche nicht aus, all diese Entwicklungen zu beschreiben. Urbanisierung sei praktisch ubiquitär. Der Vortrag hinterließ ein teilweise etwas verstört wirkendes Publikum. Wenn alles urban ist, wo liegt dann der Gehalt des Begriffs? Zwar argumentierte auch Schmid aus einer politökonomischen Perspektive, forderte jedoch mit der Radikalität seiner These die Zuhörerschaft in ihrer Denkweise heraus.
Klaus Ronneberger war der dritte keynote speaker. Sein Thema war Frankfurt als Global City. Er wählte eine historisch-analytische Betrachtungsweise. Anhand der Nachkriegsentwicklung Frankfurts zeigte er auf, wie die Stadt – auch durch ganz bestimmte Protagonist_innen – zu dem wurde, was sie heute ist. Er läutete mit seinem Vortrag den letzten gemeinsamen Abend im selbstverwalteten Café KOZ, das als Alternative zu sonstigen Campuseinrichtungen Raum für Barabende, Lesungen, Diskussionen, Vorträge und Partys bietet, auf dem alten Campus Bockenheim ein.
Kritische Wissenschaft – auch das war von der Sommerschule zu lernen – heißt nicht zuletzt, Wissensproduktion und deren Bedingungen zu hinterfragen. An einem Tag begaben wir uns in typischer Geographenmanier auf Streifzüge durch die Stadt. Vier, zum Teil parallel stattfindende Exkursionen führten uns zu Orten der Neoliberalisierung in Frankfurt, darunter das Bahnhofsviertel und die Innenstadt sowie der Uni-Campus. Es ging um die Themen Prostitution, Disneyfizierung, Subkultur und Grenzregime. So stehen das Dom-Römer-Quartier und die dortige Altstadtrekonstruktion für eine hegemoniale neoliberale Raumproduktion im Disneylandstil. Im Bahnhofsviertel, einem Ort, der eng mit Prostitution und Drogen in Verbindung steht, zugleich aber einem kapitalintensiven Aufwertungsprozess unterworfen ist, wurden wir auf verschiedene Formen der Exklusion, der Verdrängung und ‚Unsichtbarmachung‘ durch Gentrifizierung und den Einsatz von Sicherheits- und Kontrollmaßnahmen aufmerksam gemacht.
Zwar hatte die Gruppe im Zuge dieser Exkursionen ihren akademischen Elfenbeinturm verlassen, allerdings zogen wir größtenteils wie Zoobesucher_innen an den umkämpften Orten und den dort ausgetragenen gesellschaftlichen Konflikten vorbei. Sie wurden bestaunt, es wurde über sie reflektiert, aber danach verschwanden wir einfach wieder. An der alternativen Raumproduktion, von der in Bezug auf Lefebvre häufig so gern die Rede ist, sollten wird uns durch Biertrinken, Essen und Diskutieren beteiligen. Das geschah dann abends im autonomen Zentrum bzw. im Studierendenhaus auf dem Campus Bockenheim. Es ging wohl darum, Subkultur mitzuerleben. Aber ist das dann Raumproduktion im kritischen Sinne? Schwierig zu sagen, aber ein politisches Statement war es sicherlich. Zudem half diese Form der ‚informellen Abendgestaltung‘ dabei, dass die vornehmlich studentischen Teilnehmer_innen der Sommerschule etwas mehr mit den Dozent_innen in Kontakt kamen.
Wenn kritische Forschung gesellschaftliche Prozesse als kontingent konzeptionalisiert, dann verändert dies auch Wissenschaft. Dazu forderte auch Christian Schmid implizit auf, wenn er den Begriff der Urbanisierung neu denken möchte. Keine Frage, die Hochschulen aus den 1960er Jahren sind nicht mehr mit denen von heute zu vergleichen. Nun gibt es hier die Möglichkeit, kritische Stadtforschung zu betreiben. Dann gilt es auch, die Bedingungen, unter denen Wissenschaft zustande kommt, zu hinterfragen (wie das z. B. Belina et al. tun). Das heißt zunächst aber auch zu fragen: Wer hat und erlangt wie welches Wissen? Dass es kein objektives Wissen gibt und dass Wissen in hohem Maße kontingent ist, ist weitgehend unbestritten. Doch verschwimmt die Grenze zwischen den Beobachter_innen und den zu Beobachtenden in der sozialwissenschaftlichen Forschung häufig (Schneidewind/Singer-Bodrowski 2013: 70). Wenn Wissenschaftler_innen eingebettet sind in die Gesellschaft, warum wird dann so klar zwischen Wissen in und aus den Hochschulen und Wissen ‚von der Straße‘ unterschieden? Welches ist das ‚richtige‘ oder ‚gute‘ Wissen? Nun: Wissen ist nicht gleich Wissen. Aber kann es überhaupt so einfach kategorisiert werden? Auch Wissenschaft – bzw. Wissen schaffen – ist immer auch politisch, kann transformierend und emanzipatorisch wirkend sein. Was bedeutet das dann für Wissenschaftler_innen? Solche Fragen hat die Sommerschule zur kritischen Stadtforschung nicht beantwortet, sie wurden auch nicht direkt gestellt. Aber der Autor hat sie aus Frankfurt mitgenommen.
Auch die Organisator_innen der Sommerschule müssen sich den Fragen nach der Wissensproduktion stellen. Ist sie ein geeignetes Format für kritische Wissenschaft? Kann sie die Bedingungen hinterfragen, unter denen Wissen zustande kommt? In gewisser Weise lautete die Antwort ja. Mit diesem spezifischen Format bedeutet sie einen Bruch mit dem Alltag der meisten Studierenden und Wissenschaftler_innen und bietet die Möglichkeit zur reflexiven Interaktion. Studierende und Dozent_innen lernen sich auf eine andere Weise kennen. Zwar kam es zwischen den Teilnehmenden zu keinen größeren Kontroversen und tiefgreifenden Auseinandersetzungen, die vielleicht die Diskussion in der deutschen Stadtforschung abgebildet hätten. Aber es muss dem Format auch zugutegehalten werden, dass es versucht, das Prinzip der Interdisziplinarität ernst zu nehmen und von den wissenschaftlichen und persönlichen Erfahrungen her ganz unterschiedliche Personen zusammenzubringen.
Letztlich hängt es aber auch von allen Teilnehmenden ab, ob die Sommerschule ein Instrument der neoliberalen Hochschulideologie wird oder eben Alternativen dazu anbietet. Das heißt, ist die Sommerschule nur eine Art ,Zwischenspiel‘, etwas, das man im sonst geradlinig verlaufenden Lebenslauf zwischen Bachelor, Master, Auslandsstudium, Praktikum, internationalem Planspiel und Ehrenamt noch unterbringt oder können sich die Teilnehmenden hier tatsächlich die Zeit zur Diskussion und Interaktion, zum Kennenlernen und zum Ausprobieren nehmen? Es kann hier festgehalten werden, dass in Frankfurt Letzteres ermöglicht wurde, denn auch das Kennenlernen anderer Sicht- und Denkweisen ist ein erster Schritt hin zu einer kritischen Forschungspraxis. Für angehende Wissenschaftler_innen ist das gut. Aber es bleibt nur gut, wenn diese auch das Potenzial nutzen und versuchen, die Verhältnisse zu verändern. Das fängt mit der kritischen Nachfrage an. Es gilt zu zeigen, dass es auch etwas anderes gibt, eine andere Meinung, eine andere Art und Weise, Dinge zu tun, und eben auch anderes Wissen und andere Formen der Wissensproduktion. Auch im Alltag an den Universitäten.
Jörn Hamacher arbeitet in folgenden Bereichen: Humangeographie, Stadtforschung, gesellschaftliche Transformation und lokale Energieversorgung.
joern.hamacher@fau.de
Belina, Bernd / Petzold, Tino / Schardt, Jürgen / Schipper, Sebastian (2013): Neoliberalising the Fordist university: A tale of two campuses in Frankfurt a. M., Germany. In: Antipode 45/3, 738-759.
Schneidewind, Uwe / Singer-Bodrowski, Mandy (2013): Transformative Wissenschaft. Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem. Marburg: Metropolis-Verlag.