Ein Frankfurter Sicherheitsregime. Neoliberale Sicherheitsproduktion in der ,Hauptstadt des Verbrechensʼ

Anna Kern

Einleitung

Sicherheitspolitik ist beständigen politischen Konjunkturen und damit gleichzeitig verschiedensten qualitativen Veränderungen unterworfen. Während sie im Fordismus in der Bundesrepublik Deutschland primär zentralstaatlich und länderspezifisch von Ministerien, Militär und Polizeien organisiert wurde, lässt sich spätestens seit dem Aufkommen des Neoliberalismus und der damit einhergehenden Debatte über die ‚Sicherheit der Städte‘ in Deutschland eine Regionalisierung und Lokalisierung der öffentlichen Sicherheitsproduktion und vor allem auch der Polizeiarbeit feststellen (Behr 2002). Die gleichzeitig stattfindende Ausdifferenzierung der Akteurslandschaft führt zu einem stärkeren Einbezug privatwirtschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure und ist mit einer Individualisierung und Subjektivierung von sozialer Kontrolle verknüpft (Kirsch 2003, Singelnstein/Stolle 2008). Die Schlagworte ‚Sicherheit‘ und ‚Ordnung‘ sind in den begleitenden Debatten von allgemein geteilten sozialen Wertevorstellungen zu Standortfaktoren in der Konkurrenz der Städte avanciert und nehmen einen prominenten Stellenwert in deren Außendarstellung und in der Präsentation innerstädtischer Politiken ein (Kaufmann 1973, Beste 2004).[1]

Die Kritik an Sicherheitspolitiken scheint demgegenüber weniger anpassungsfähig: Hier dominieren die Gegenüberstellung von Freiheit und Sicherheit sowie die Thematisierung des exkludierenden Charakters von Kontrollpolitiken seit Jahrzehnten die Debatten über die technische Aufrüstung der Polizeiapparate und die zunehmende Überwachung öffentlicher Plätze und der (Kommunikations-)Infrastruktur (Leutheusser-Schnarrenberger 2013, Lyon et al. 2012). Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus ist zwar als neuer Trend die Verlängerung sozialer Kontrolle in die Subjekte hinein zum Thema geworden. Dieser wird gleichzeitig aber wiederum nur als ein weiterer Schritt hin zu einer fortschreitenden Totalisierung von Kontrollpolitiken eingeschätzt (Leipziger Kamera 2009, Lemke o.J., Kannankulam 2008). Zur Veranschaulichung dieser Kritiken dient ebenfalls seit Jahrzehnten George Orwells 1949 veröffentlichter Roman 1984. Der Verweis auf dessen Illustration einer bis in die Gedankenwelt der einzelnen Gesellschaftsmitglieder hineinreichenden staatlichen Überwachung innerhalb eines globalen totalitären Systems soll einerseits die Gefahren für die Freiheit der Einzelnen verdeutlichen, die in den spezifischen politischen Prozessen impliziert seien. Darüber hinaus dient der Roman aber ebenfalls als Metapher für eine politische Gegenwartsdiagnose (z. B. Gaycken/Kurz 2008, Weiße 2011).[2] Dieser anhaltende Bezug könnte in mancher Hinsicht als Hinweis auf die andauernde Aktualität des Romans interpretiert werden. Er verweist jedoch zumindest in gleichem Maße auf einen der genuinen Fallstricke einer bestimmten Form der Kritik an der vorherrschenden Sicherheitspolitik: Denn indem sich diese in kulturpessimistischen Verweisen auf eine ständige Eskalation erschöpft, verstellt sie sich selbst den Blick auf die existierenden qualitativen und möglichen progressiven Veränderungen in diesem Feld und schreibt so, wenn auch meist ungewollt, implizit das Narrativ der Alternativlosigkeit der Geschichte der Gesellschaft fort.

1. Sicherheit im Staat

Unbestritten ist das Feld staatlicher Sicherheits- und Kontrollpolitik ein zentrales Moment staatlicher und damit eben auch gesellschaftlicher Herrschaftsausübung und -sicherung. In vielen politikwissenschaftlichen Ansätzen (und im staatsbürgerlichen Bewusstsein) gilt die Sicherheitsproduktion als einer der originären Zwecke nationalstaatlicher Organisierung und wirkt somit als das Handlungsfeld, auf dem staatliche Apparate ihre Letztlegitimation erlangen müssen und können (Lange/Behr 2000). Bereits in den Ursprüngen der modernen politischen Theorie und mit dem Aufkommen des Liberalismus argumentierte Wilhelm von Humboldt in diesem Sinne, „daß die Erhaltung der Sicherheit sowohl gegen auswärtige Feinde als innerliche Zwistichkeiten den Zweck des Staates ausmachen und seine Wirksamkeit beschäftigen muß“ (Humboldt 1967 [1792/1841]: 29f., 38f.; zitiert nach Kaufmann 1973: 76). Er formuliert damit ein Grundmotiv, das sowohl der liberalen Rechtsstaats- wie der absolutistischen Polizeistaatskonzeption eigen ist und besagt, dass erst der Zusammenschluss zu einer staatlichen Gemeinschaft die vorzivilisatorische Unsicherheit überwinden und damit die Voraussetzung für die Gewährleistung der vollen Freiheit des Einzelnen schaffen kann. Bereits hier ist die ideengeschichtliche Entstehung des sogenannten Spannungsfeldes von Freiheit und Sicherheit angelegt, das noch heute in vielen Diskussionen bemüht wird (Glaeßner 2003). Anhand dieses Motivs kann außerdem das Gewaltmonopol begründet werden, das der Staat nach dieser Sichtweise notwendigerweise übernehmen muss, um die Sicherheit seiner Bürger_innen gewährleisten zu können (Weber 1988 [1919]).[3] Folgt man diesem Argument, entsteht für den Staat auf diesem Gebiet demnach immer wieder Handlungsbedarf, da er sein Existenzrecht verwirkt, wenn er nicht gleichzeitig für die Sicherheit und Freiheit seiner Bürger_innen garantieren kann. Die staatlichen Apparate (insbesondere in Form von Polizei und Militär) müssen in dieser Perspektive insofern stets innerhalb des Abwägungsverhältnisses zwischen dem Schutz der Staatsbürger_innen auf der einen Seite und dem zur Sicherheitsgewährleistung notwendigen Eingriff in die persönlichen Rechte auf der anderen Seite operieren (Glaeßner 2003).

Diese wirkmächtige Konstruktion lässt sich aber nicht nur innerhalb der politischen Theorie, sondern ebenfalls im politischen Alltagsgeschäft finden. Besonders seit der Zeit des Kalten Krieges musste die ‚Sicherheit‘ häufig zur Legitimation der unterschiedlichsten staatlichen Politiken herhalten (Kaufmann 1973). In der Politikwissenschaft wurde in einer ganzen Reihe verschiedener Schulen daher zu Recht die Frage nach dem eigentlichen Gehalt von Sicherheit aufgeworfen, deren bis dahin gängige Konzeption in Zweifel gezogen und die Konstruktion ihrer historischen Spezifik durch diskursive und materielle Praxen analysiert (Buzan/Hansen 2009). Damit wurde die Grundlage für eine Kritik der ‚Versicherheitlichung‘ sozialer Praxen entworfen und die Behauptung eines transhistorischen Gehalts von ‚Sicherheit‘ im wissenschaftlichen Diskurs erstmals öffentlichkeitswirksam infrage gestellt (Buzan et al. 1998).

So nötig diese Kritik war und ist, geht sie gleichzeitig häufig mit der Schwäche einher, dass sie politische Kontexte nicht systematisch berücksichtigen kann (Büger/Stritzel 2005: 4f.). In dieser Hinsicht sensibler, und damit für eine Kritik staatlicher Sicherheitspolitik wertvoll, zeigen sich gouvernementalitätstheoretische Ansätze im Anschluss an den französischen Philosophen Michel Foucault. Denn indem dieser den notwendigen Zusammenhang zwischen der Freiheit des liberalen Spiels des Marktes und des Sicherheitsdispositivs zur Kontrolle der gesellschaftlichen Subjekte benannte (Foucault 2006), hat er bereits grundlegend auf den Zusammenhang von Praxen und Diskursen der Sicherheit und den jeweils konkreten polit-ökonomischen Reproduktionsvoraussetzungen (auch jenseits des Staates) verwiesen.[4] Ebenfalls Einsichten in die enge Verbindung von Politiken der Sicherheit und dem spezifischen politökonomischen Kontext stellen Ansätze der (Kriminal-)Soziologie bereit, die Politiken der Sicherheit als Praxen der Kontrolle von Prekarisierten und Exkludierten thematisieren. Sie formulieren eine anschauliche Kritik an der Vorstellung einer für alle gültigen staatlichen Sicherheitsgewährleistung, indem sie auf die Diskrepanz zwischen dem formellen Anspruch und der tatsächlichen Abhängigkeit ihrer Geltung von der sozialen Stellung im Gesellschaftsgefüge verweisen (Garland 2004, Cremer-Schäfer/Steinert 1998, Simon 2007).

Eine materialistische Perspektive bietet nun gegenüber den skizzierten Ansätzen den Vorteil, dass sie nicht nur beiläufig, sondern grundlegender nach den Reproduktionsbedingungen von Gesellschaft fragt und sich der Analyse von Herrschaftsstrukturen vor diesem Hintergrund widmet. Damit kann sie auch Erklärungen für die von der (Kriminal-)Soziologie benannten empirischen Phänomene anbieten. Zugespitzt entwirft sie eine Sicht auf Gesellschaft, die diese als Verselbständigung kollektiver Praxen zu verstehen versucht, Herrschaftsformen als geronnene soziale Praxen begreift und die Frage nach der Möglichkeit einer herrschaftsfreien Gesellschaft aufwirft (Hirsch 2005). Mit ihr ist deshalb eine grundsätzliche Kritik an der Vorstellung einer gesellschaftlichen Sicherheitsgewährleistung über die staatliche Organisierung, ihr Gewaltmonopol und ihre öffentlichen Sicherheitsorgane möglich, zum Beispiel in Form der Polizei.

Im Gegensatz zur oben skizzierten bürgerlichen Auffassung wird der Staat in der materialistischen Staatskritik, die sich im Anschluss an die Marx‘sche Theorie entwickelte, nicht über die ihm ideal zugedachten Aufgaben definiert. Vielmehr wird er als eine spezifische Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse verstanden, deren Praxis sich im Rahmen der politischen Form artikuliert (ebd.). Er gilt hier als die politische Organisierung und Gewährleistung der kapitalistischen Produktionsweise mithilfe seines Gewaltmonopols. Die Institution der Polizei wird bereits seit Marx genau in diesem Kontext der staatlichen Sicherheit thematisiert, da sie als das Organ zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Rechts- und Eigentumsordnung gilt (Marx/Engels 1981 [1844]: 347 ff.). Gleichwohl ergibt sich die konkrete Gestalt des Staates nicht aus den staatlichen Apparaten im engeren Sinne, sondern wird in der materialistischen Konzeption immer als erweiterter Staat, das heißt auch in Form der zivilgesellschaftlichen Institutionen gedacht (Hirsch 2005). Nach Marx garantiert der Staat in diesem Sinne die für die kapitalistische Gesellschaft notwendige Freiheit der Staatsbürger_innen, die sie befähigt, sich selbst als Warentauscher_innen am Markt zu positionieren, was jedoch keineswegs mit einem Freiheitsbegriff im emphatischen Sinne verwechselt werden darf. Der Gewinn einer materialistischen Theorieperspektive liegt vielmehr darin, deutlich zu machen, dass sich die Ordnung der Gesellschaft über gegenwärtige und vergangene soziale Praxen organisiert. Sie weisen im Kapitalismus die Besonderheit auf, dass sie nicht mehr ohne Weiteres als soziale Praxen zu erkennen sind, sondern als naturwüchsig erscheinen (Erckenbrecht 1984). Wie bereits angedeutet, gilt in der materialistischen Staatskritik im Anschluss an den italienischen Theoretiker Antonio Gramsci außerdem die Zivilgesellschaft als integraler Teil des erweiterten Staates. Sie stellt das Terrain dar, auf dem dessen gesellschaftliche Hegemonie organisiert wird, das heißt unter anderem die Zustimmung und Mitwirkung der Staatsbürger_innen an ihrer Beherrschung (Gramsci 1992). Damit wird gewissermaßen bereits im Fordismus die Bedeutung unterschiedlicher sozialer Ebenen für die historische Konfiguration von Gesellschaft vorweggenommen. Das wurde später von vielen anderen als die Besonderheit neoliberaler Politikansätze klassifiziert (Candeias 2009).

Kurz gesagt, erfolgt aus einer materialistischen Perspektive eine Kritik der sicherheitsorientierten Staatsbegründung, die den Staat als vernünftige Institution einer notwendigen Gesellschaftsordnung präsentiert. Es kann so gezeigt werden, dass die Unsicherheit, die der Staat laut dieser These eindämmen soll, kein vorzivilisatorisches Artefakt ist, sondern im Kapitalismus immer wieder durch die krisenanfällige Reproduktion von Gesellschaft reaktualisiert wird. In diesem Sinne kann konstatiert werden, dass die bürgerliche politische Theorie dem Staat die Kompetenz zur Lösung eines Problems zuspricht, für dessen Existenz er letztendlich mitverantwortlich ist. Insofern beinhaltet die bürgerliche Freiheit die Abwesenheit einer herrschaftsfreien Gesellschaftsordnung.

Dementsprechend, und hier knüpft die Argumentation an die der poststrukturalistischen Gourvernementalitätsstudien (vgl. Folkers/Lemke 2014) an, verweist eine materialistische Perspektive darauf, dass die Politiken der Sicherheit immer als eine Form der sozialen Kontrolle und der Bevölkerungspolitik zu verstehen sind, die die für die Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise erforderlichen Subjekte hervorbringt und formt. Sie geht aber darüber hinaus, weil sie feststellt, dass wir es hier nicht lediglich mit einer historisch-kontingenten Konfiguration sozialer Machtachsen zu tun haben. Vielmehr hat sich im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise eine spezifische gesellschaftliche Praxis herausgebildet, in deren Rahmen die Kontrolle und soziale Einhegung von Unsicherheit tatsächlich von systemischer Relevanz sind.

2. Urbane Sicherheitsregime

Auf der Grundlage dieser gesellschaftstheoretischen Prämissen einer materialistischen Sicherheitskritik wird im Folgenden der Begriff des Sicherheitsregimes als Analyseperspektive vorgeschlagen, um empirische Phänomene im Bereich der Sicherheitsproduktion für die Sozialforschung zugänglich zu machen. Der Regulationstheorie folgend, die für unterschiedliche historische Phasen der kapitalistischen Produktionsweise verschiedene Formen der Art und Weise der Regulierung sozialer Konflikte bestimmt (Esser et al. 1994), werden mit dem Begriff ‚Sicherheitsregime‘ die historisch-spezifisch institutionalisierten Regelungsverfahren sowie (Alltags-)Praxen und über Diskurse vermittelte Ordnungsvorstellungen bezeichnet, die sich um das Thema der ‚Sicherheit‘ gruppieren.

Dabei geht es darum, gesellschaftliche Sicherheitsproduktion für einen begrenzten Raum in einer bestimmten historischen Phase in all ihren Facetten und mit allen beteiligten Akteuren darzustellen und so auch einer gezielten Herrschaftskritik zugänglich zu machen. Im Sinne hegemonietheoretischer Arbeiten wird die Analyse von Kontrollpolitik unter der Perspektive von ‚Sicherheitsregimen‘ damit nicht als einseitige Praxis ‚der Herrschenden‘ in den Blick genommen, sondern Ordnungsproduktion als ein Ensemble von Praxen und Diskursen unterschiedlichster lernender Akteure verstanden, die sich innerhalb konkurrierender Projekte organisieren.

Konkret soll so auf die historisch-spezifische Konfiguration staatlicher und gesellschaftlicher Kontrollpolitiken aufmerksam gemacht werden. Zum einen, weil hier die These vertreten wird, dass sich diese immer nur innerhalb des politischen Möglichkeitsrahmens der jeweiligen Phase der kapitalistischen Produktionsweise langfristig herausbilden können, das heißt, dass sie auch abhängig vom jeweilig herrschenden Produktionsparadigma und der darin implizierten Ordnungsvorstellung sind und sich an diese im Kontext eines erworbenen Erfahrungswissens inhaltlich anpassen (Schlemermeyer 2010, Postone 2003). Zweitens, und hier wird der Bogen zur Kritik der skizzierten Sicherheitskritik geschlagen, ist dieses konkrete Verhältnis fundamental für die Bestimmung einer differenzierten Herrschaftskritik, die herrschaftliche Strukturen auch jenseits offensichtlicher Unterdrücker-Unterdrückte-Schemata aufspüren kann. Vorgeschlagen wird damit also eine Perspektive zur Analyse von Sicherheitspolitik, die nach deren historischem und ökonomischem Kontext (Produktionsverhältnisse) fragt und danach, was jeweils unter Sicherheit und Ordnung verstanden wird (soziale Diskurse), die zudem die allgemeine Form der Organisation staatlicher Politiken und Institutionen mit einbezieht (Staat & Apparate) und diese in den Kontext der historisch-spezifischen Struktur sozialer Kontrolle einordnet (hegemoniales Kontrollparadigma/ beteiligte Akteure/ Form der Zusammenarbeit der Akteure).

Schließlich wird damit eine Perspektive zur Analyse sozialer Sicherheitspraxen entworfen, die eine Analyse ihrer konkreten historischen Ausprägungen in den Zusammenhang einer umfassenden Kapitalismuskritik stellt und sich so gleichzeitig herrschaftskritisch und offen für Möglichkeiten progressiver Gesellschaftsveränderungen zeigt.

3. Historische Besonderheiten der Sicherheitsproduktion: vom fordistischen Disziplinarregime…

Veranschaulichen lassen sich Bedeutung und Wandel der Konfiguration der Sicherheitsproduktion durch einen Blick auf die historische Genese ihrer Institutionen. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die politische Architektur und somit auch die Gestalt der Exekutivorgane in Form der Polizei, als dem zentralen öffentlichen Sicherheitsakteur, nach dem Sieg der Alliierten über NS-Deutschland neu organisiert. Diese Reorganisation fand in einem gesellschaftlichen Kontext satt, der zugleich durch einen Bruch mit den ökonomischen und politischen Strukturen des Nationalsozialismus und deren Fortwirken gekennzeichnet war. Dabei drängten die Alliierten auf die Einführung eines föderalen Polizeimodells, verbunden mit einer strikten Trennung zwischen ausführender Polizei und Nachrichtendiensten, um die mächtige Staatspolizei zu zerschlagen (Schmidt-Jortzig 2009). Jedoch entpuppte sich die Idee der Einführung von kommunalen Polizeien schnell als unpraktikabel,[5] und es bildete sich die Hoheit der Länder im Bereich der Polizei heraus (Streiß 2011).[6] Die Länderpolizeien wurden zu den entscheidenden öffentlichen (staatlichen) Ordnungsakteuren in einer sozialen Situation, die geprägt war durch das Klima der ‚befriedeten‘ Nachkriegsjahre und der diese begleitenden wirtschaftlichen Prosperität im Schatten der globalen Freund-Feind-Spaltung des Kalten Krieges.

Dabei trug die klare Deutung des außenpolitischen Feindes erheblich zur Befriedung im Inneren bei. Dort wurden politische Konflikte bis zu den länderübergreifenden Protesten der Studierenden in den 1960er und 1970er Jahren meist eher unsichtbar ausgetragen.[7] Die legitimen Pole der öffentlichen Diskussion bildeten die zwei großen Volksparteien, die sich nach rechts zur nationalsozialistischen Vergangenheit und nach links zum realexistierenden Sozialismus der UdSSR abgrenzten und wenig grundsätzliche Auseinandersetzungen zuließen (Hirsch 1998). Das Idealbild der mittelständischen und patriarchalen Kleinfamilie im wirtschaftlichen Aufstieg dominierte die Erzählung von der sozialen Realität und galt zugleich als der Ort, an dem soziale Konflikte reguliert werden sollten. Der zu dieser Zeit vielfach formulierte Anspruch einer sozialen Homogenisierung der Gesellschaft, bei einer gleichzeitig sehr präsenten sozialen Hierarchisierung, die sich auch zwischen den Geschlechtern und ethnischen Gruppen fortsetzte, wurde von rigiden und teilweise auch physisch gewalttätigen sozialen Kontrollformen über alle gesellschaftlichen Ebenen hinweg begleitet. Zuständig für die Aufrechterhaltung der Ordnung waren innerhalb einer starren Hierarchie neben der Polizei verschiedenste Akteure wie zum Beispiel die (Groß-)Eltern, Lehrer_innen, Pfarrer und Ärzte (Trumann 2002).

Zusammengefasst zeichnete sich das fordistische Sicherheitsregime also durch einen relativ stabilen und prosperierenden ökonomischen Kontext aus sowie durch auf die Außenpolitik fokussierte Sicherheitsdiskurse und relativ zurückgenommene polizeiliche Kontrollstrukturen im Alltag, die flankiert waren von einer starken gesellschaftlichen Hierarchisierung und einer damit einhergehenden homogenisierenden Praxis sozialer Ordnung.

Eine Verschiebung im Sicherheitsregime erfolgte dann im Kontext der Studierendenproteste Ende der 1960er Jahre, die mit dem Anfang vom Ende des Fordismus und seiner wirtschaftlichen Prosperität einhergingen. Mit ihrer Kritik an den verkrusteten sozialen Strukturen und autoritären Bildungs- und Erziehungsvorstellungen sowie mit dem Beginn der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit auch im engeren Familienkreis brachten diese Proteste Bewegung in die bestehende Ordnung der Institutionen. Sie rechneten mit dem Erbe des Nationalsozialismus in den staatlichen Verwaltungen ab, stellten das Geschlechterverhältnis und die mit ihm einhergehende Rollenverteilung infrage und experimentierten mit bis dahin wenig verbreiteten Formen des sozialen Zusammenlebens (Seidl 2006). Der gesellschaftliche Diskurs war ihnen gegenüber infolgedessen relativ feindlich gesinnt. Sie wurden häufig mit alten NS-Feindbildern konfrontiert, der Kollaboration mit dem Feind in Form der UdSSR beschuldigt und galten meist als Bedrohung der deutschen Nachkriegssicherheit (Dostal 2006).

Ihren politischen Protest trugen sie – über Versuche der Umsetzung von Veränderungen im Alltag hinaus – auch in Form von Demonstrationen in die Öffentlichkeit. Dort trat ihnen der Staat in Form einer weitgehend überforderten Polizei gegenüber, die die Artikulationsversuche der Protestierenden nicht verstand und zumindest zu Beginn auch in Sachen Ausrüstung dem wütenden sowie häufig unkonventionellen Protest der Studierenden nicht gewachsen war und deswegen nicht selten mit brutaler Gewalt reagierte. Während die Empathie mit den Studierenden auch in der Folgezeit weitgehend ausblieb, markiert die Polizierung dieser Proteste in der Bundesrepublik Deutschland den Ausgangspunkt der polizeilichen Aufrüstung, mit heute alltäglichen Ausrüstungsgegenständen wie Schildern, Helmen oder funktionsfähigen Wasserwerfern für den Polizeieinsatz. Die Polizei konnte damit auf der Straße zu einem militärisch überlegenen Gegner werden. Der ,Deutsche Herbst‘ lieferte neben der technischen Aufrüstung für die Ordnungsbehörden den Anlass einer weitreichenden Zentralisierung und Kompetenzerweiterung der Institutionen (z. B. die Kompetenzerweiterung des BKA, der Radikalenerlass etc.) (ebd., Soukup 2007).

Eine weitreichende Veränderung im Bereich der Organisation der sozialen Kontrolle wurde in der Folge dieser Proteste durch den sogenannten ‚Marsch durch die Institutionen‘ bewirkt. Nicht wenige der (ehemaligen) Aktivist_innen suchten ihre Profession etwa im Bereich der sozialen Arbeit, mit der Intention, die öffentliche Erziehungsarbeit zu verändern. Sie bildeten damit das Fundament für eine weite Entwicklung und Ausdifferenzierung des Gebietes der ‚weichen‘ sozialen Kontrolle, auf dem sie später selbst als Akteure auftreten sollten (Meinhof 1989 [1971]).

Mit dem Ende des Breton-Woods-Systems und den ökonomischen Krisen der 1970er Jahre, durch die das fordistische Glücksversprechen – das außerhalb der Studierendenbewegung für soziale Kohäsion gesorgte hatte – allmählich an seine Grenze stieß, kam es zu einer weiteren fundamentalen Verschiebung im Sicherheitsregime (Hirsch 1998). Die Kritik der ,68er‘ begann sich zu institutionalisieren, und die Veränderung der auf Massenproduktion und Massenkonsumption basierenden, industriell geprägten Produktionsweise verschmolz mit der Kritik an starren Arbeitsstrukturen (Boltanski/Chiapello 2003). Im Folgenden bildete sich das inzwischen als Neoliberalismus bekannt gewordene Produktionsparadigma heraus, das mit der Globalisierung und Internationalisierung der Märkte einherging, aber auch mit einer Subjektivierung und Individualisierung der Arbeits- und Lebensentwürfe – zumindest der sozialen Schichten mit Zugang zum Bildungssystem (Candeias 2009).

4. …zum neoliberalen Kontrollregime

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde auch der Kalte Krieg zur Geschichte und hinterließ in den folgenden Jahren eine vakante Stelle hinsichtlich des politischen Feindes. Infolgedessen mäanderten die Sicherheitsdiskurse: Mal ging es um ‚ausufernde Kriminalität‘, mal um ‚Ausländer-Extremismus‘ oder um die Rechtmäßigkeit staatlicher Eingriffsrechte (z. B. großer Lauschangriff), ohne wirklich nennenswerte Höhepunkte.[8] Erst im Zuge der Anschläge auf das New Yorker World Trade Center im Jahr 2001 wurde die entstandene Lücke durch den ‚fundamentalistischen Terrorismus‘ (neu) gefüllt, und die Sicherheitsdiskurse konnten erneut aufleben.

Dem neoliberalen Staat, der sich im Verlauf der vorangegangenen ökonomischen Umbrüche vom Wohlfahrts- zum Workfare-Staat (Wyss 2007) entwickelt hatte, gelang in dieser Zeit des war on terror ein fundamentaler Umbau seiner Sicherheitsinstitutionen. Mit der enormen rechtlichen Kompetenzerweiterung auf der Ebene der digitalen Überwachung ging zugleich ein ökonomisch motivierter Rückbau der ausführenden Organe einher, der die Implementierung neuer (d. h. privater und zivilgesellschaftlicher) Akteure begünstigte. So stand der Internationalisierung der Produktionsabläufe eine doppelte Entwicklung des gleichzeitigen Ausbaus des kontrollierenden Staates und der Regionalisierung konkreter Kontrollpraxen gegenüber. Die bereits einsetzende Ausdifferenzierung der Ordnungsvorstellungen innerhalb verschiedener Räumen wurde weiter verstärkt. Mit der fordistischen Krise der 1970er Jahre begann nämlich ebenfalls die Debatte über den Niedergang der deutschen Städte, die im Folgenden weitreichende Veränderungen für das urbane Leben beinhalten sollte. Nicht nur wurde die Idee der „unternehmerischen Stadt“ (Harvey 1990) geboren, die mit anderen Städten um die Ansiedlung von Produktionsstätten und hoch qualifizierten Arbeiter_innen konkurriert. Gleichzeitig sollte auch die Bedeutung der Kommunen bei der Herstellung von Sicherheit und Ordnung wachsen. Theoretisch flankiert wurde diese gesellschaftliche Diskussion von der Entwicklung kriminologischer Ansätze wie der Broken-Windows-Theorie sowie Arbeiten, die den kommunalen Kontext bei der Kriminalprävention in den Vordergrund stellten (Wilson/Kelling 1982). Damit wurde der Fokus der Ordnungspolitik weg von einer sozial homogenen Ordnungsvorstellung hin zu einem raumbasierten Präventionsparadigma verschoben. Die Städte begannen nicht nur mit Mitteln der Stadtplanung, sondern ebenso mit der Stärkung der sozialen Arbeit und mit der Herausbildung kommunaler Institutionen mit ordnungspolitischen Eingriffsrechten eine eigene Form der Sicherheitspolitik zu entwickeln. Spätestens Mitte der 1990er Jahre mündete dies in der flächendeckenden Einrichtung von lokalen Präventionsgremien sowie Stadt- und Ordnungspolizeien, mit dem Einbezug von Arbeitslosen und anderen Prekarisierten in die städtische Ordnungsstruktur, sowie in einigen Bundesländern, wie zum Beispiel in Hessen, auch in der Schaffung eines bürgerlichen Ehrenamtes in Form des freiwilligen Polizeidienstes (Beste 1998, Behr 2002, Schneider 2004). Diese Ausdifferenzierung wurde gleichzeitig ergänzt durch die neoliberale Strukturreform der Polizei (Wegfall der niederen Dienstgrade, Einführung einer betriebswirtschaftlich orientierten Organisationskultur in Form des ,Neuen Steuerungsmodells‘; Alpheis 1992) sowie durch die Herausbildung eines Sektors privater Sicherheitsdienstleistungen, der vor allem in den 1990er Jahren große Wachstumsschübe für sich verbuchen konnte (Kirsch 2003, BDWS o.J.). Die aus dieser Gemengelage neu entstehende neoliberale Sicherheitsproduktion kann damit als ein Ergebnis sehr verschiedener Transformationsprozesse, die sich im Verlauf der Ökonomisierung sozialer Kontrollpraxen auf mehreren Ebenen vollzogen haben, gelesen werden.

Mit diesen fundamentalen Veränderungen der Struktur öffentlicher Sicherheitsproduktion ging wiederum ein Wandel der Form der sozialen Kontrolle einher. Während im Fordismus die Kleinfamilie noch im großen Maß selbst für die soziale Ordnung verantwortlich war, wurde deren Management im Neoliberalismus nun durch die Ausdifferenzierung der Lebensstile nach und nach zu einer öffentlichen gesellschaftlichen Aufgabe. An eine soziale Homogenisierung der Lebensstandards war in Folge der ökonomischen Krisen ohnehin nicht mehr zu denken (Brenner 2004). Die Transformation des sozialen Gefüges in den Städten und die Veränderung der Alltagspraxen trugen langsam zu einer Heterogenisierung sozialer Ordnungsvorstellungen bei und erhöhten damit auch den Anpassungsdruck auf die staatlichen Ordnungsinstanzen.[9]

Das Sicherheitsregime im Neoliberalismus zeichnet sich im Vergleich zu dem im Fordismus durch die Herausbildung einer Fülle unterschiedlicher Akteure und den Wandel ihrer Aufgaben aus. Während klassische gesellschaftliche Ordnungs- und Erziehungsaufgaben von der Familie und von dem sozialen Umfeld auf die öffentlichen Institutionen übertragen wurden, was als Stärkung des Staates gelesen werden kann (Hirsch 1998), fand zeitgleich eine Delegation der einfachen Polizeiaufgaben an kommunale Institutionen oder privatwirtschaftliche Sicherheitsdienste, und damit eine Kompetenzübertragung im Bereich des staatlichen Gewaltmonopols, statt. Mit der Heterogenisierung sozialer Ordnungsvorstellungen veränderte sich die Form der Ausübung sozialer Kontrolle, und auch die Grenzen zwischen Innen und Außen verwischten zunehmend über alle sozialräumlichen Ebenen hinweg.

Mit dem Begriff des Sicherheitsregimes lässt sich diese Entwicklung also reflektieren, indem das Ensemble dieser Praxen und Strategien sowie der sie begleitenden Diskurse in den Fokus genommen werden. Diese Perspektive erlaubt besser als die alleinige Analyse der Veränderungen der Institution Polizei oder der sicherheitspolitischen Paradigmen die Identifizierung von wirkmächtigen Strukturen im Bereich der Sicherheitsproduktion. Zudem kann so die paradox anmutende Gleichzeitigkeit von kultureller Liberalisierung und ökonomischer Prekarisierung jenseits einer Idealisierung des Fordismus oder einer kulturell verbrämten Verharmlosung des Neoliberalismus begrifflich gefasst und auf die historische Entwicklung des Kapitalismus insgesamt bezogen werden. Durch die Anwendung des Begriffes in der empirischen Forschung wird im Folgenden gezeigt, wie der Rahmen einer adäquaten Kritik aussehen könnte.

5. Frankfurt am Main – ‚Hauptstadt des Verbrechens‘

Die Stadt Frankfurt am Main nimmt in den Diskussionen um die Gefährlichkeit der Städte in der Bundesrepublik Deutschland seit vielen Jahrzehnten eine besondere Stellung ein. Hierfür gibt es viele Gründe: Zum einen stellen hier ein international bedeutsamer Flughafen, ein großer Hauptbahnhof und ein wichtiges Autobahnkreuz eine ungewöhnlich dichte Infrastruktur bereit, die auch für ungesetzliche Tätigkeiten genutzt wird. Zum anderen ist davon auszugehen, dass die große Anzahl an Pendler_innen, die tagsüber die Einwohnerzahl erhöhen, in gewisser Weise die Statistik der ‚Pro-Kopf-Kriminalität‘ verfälscht.[10] Frankfurt am Main bedient darüber hinaus mit seinem Image als anonyme Bankenstadt sowie durch einzelne urbane Mythen (Löw 2010), wie zum Beispiel die berühmte offene Drogenszene in den 1980er Jahren im Umfeld des Bahnhofsviertels, auf der Ebene des Alltagsverstandes und meist vorbegrifflich viele Klischees, die mit besonders gefährlichen Städten in Verbindung gebracht werden. Dies ist das verbreitete Narrativ, das den diskursiven Rahmen des Frankfurter Sicherheitsregimes abbildet.

Der Frankfurter Alltag ist demgegenüber weitaus weniger spektakulär. Hier ist eine Fülle ordnungspolitischer Institutionen auszumachen, die für Sicherheit sorgen sollen.[11] In der Stadt treffen Institutionen des Bundes (z. B. die Bundespolizei am Hauptbahnhof und am Flughafen), des Landes (die Länderpolizei mit dem Polizeipräsidium sowie Polizeiwachen in den Stadtvierteln) und der Stadt (z. B. die Stadtpolizei und der freiwillige Polizeidienst, der Präventionsrat, die Stabsstelle ‚Sauberes Frankfurt‘) aufeinander. Diese wiederum arbeiten vor allem feldspezifisch mit einer hohen Anzahl zivilgesellschaftlicher, öffentlicher und kommerzieller Institutionen auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene zusammen, darunter auch privatwirtschaftliche Sicherheitsunternehmen wie die ‚Parkschützer‘ oder Ordnungsdienste, die auf der Einkaufsmeile Zeil, in den U-Bahnen oder in den Zügen der Deutschen Bahn im Einsatz sind. Es entsteht somit ein komplexes Ensemble verschiedenster räumlicher[12] und rechtlicher Zuständigkeiten, die für die Bewohner_innen der Stadt nicht immer ganz einfach zu überschauen sind. Anders formuliert: Der ‚Schutzmann‘ auf der Straße wird abgelöst von einem Kollektiv unterschiedlichster Uniformen und Kompetenzen, die im Auto, zu Fuß, auf dem Fahrrad, per Boot und mit oder ohne Hund im Stadtbild präsent sind, sich neben der originären Kriminalität auch noch um ‚Ordnung und Sauberkeit‘ kümmern sowie einem pädagogischen Auftrag folgen und je nach Einsatzgebiet auch unterschiedlich agieren. Entgegen gängiger Erzählungen gibt es daher in Frankfurt am Main daher kaum mehr Räume, die nicht von vielfältigen Kontrollmechanismen und Ordnungsstrukturen durchzogen wären. Im Gegenteil: Gerade die Dichte der Institutionen mit ihren zum Teil konkurrierenden Interessen und Handlungslogiken, die sich an verschiedenen Diskursen ausrichten und innerhalb eines Sicherheitsregimes gleichzeitig sowohl restriktiv wie auch ‚ermöglichend‘ wirken können, sorgen für eine immer größer werdende Unübersichtlichkeit an Ordnungspraxen. Im Folgenden wird die Entwicklung der spezifischen Praxis der Ordnungsinstitutionen an zwei empirischen Beispielen – Umgang mit häuslicher Gewalt und gewaltaffinen Fußballfans – illustriert, die auf sehr unterschiedliche Weise das Thema Legitimität sozialer Gewaltausübung berühren und somit ein originäres Feld staatlicher Sicherheitspolitik.[13]

6. Fallstudie zu häuslicher Gewalt

Die Ausübung häuslicher Gewalt galt sehr lange nicht als ein Problem staatlicher Sicherheitspolitik. Sie wurde erst durch die Aktivistinnen der ‚Zweiten Frauenbewegung‘ in den 1970er Jahren in der Öffentlichkeit thematisiert. Damit wurde eine Praxis, die von vielen bis dahin als Form der privaten Konfliktlösung unterhalb des staatlichen Zuständigkeitsbereiches wahrgenommen wurde, als illegitim markiert (Lenz 2009). Auch aufgrund der Analyse, dass die Institutionen eines patriarchalen Staates keine Hilfe für feministische Anliegen anbieten könnten, positionierten sich die Aktivistinnen in der Mehrzahl gegen den Staat und seine Polizei (ebd., Flügge 2007). Neben öffentlichen Aktionen begannen sie deshalb, zeitgleich Institutionen der Selbsthilfe aufzubauen. Sie schufen Frauenhäuser, Notrufstrukturen und Beratungseinrichtungen für Betroffene und wählten damit die Ebene der sozialen Arbeit als ihr Feld der Konfliktregulierung. Sie verstanden sich selbst als die Expertinnen für ‚ihren‘ Bereich und entwickelten in den folgenden Jahren in ihren Institutionen ein umfassendes Fachwissen, das sie allen anderen Akteuren voraushatten.

Als sich mit dem beginnenden Einfluss der 68er- und der Frauenbewegung auf das öffentliche Leben in der Bundesrepublik sowie deren Institutionen und Gesetze auch die für den Fordismus klassische geschlechtliche Rollenzuschreibung änderte und Frauen immer größere Anteile in den verschiedensten Institutionen für sich erkämpfen konnten, wurde auch die bis dato ‚patriarchale‘ Gesetzgebung nach und nach verändert. Vergewaltigung in der Ehe wurde schließlich im Jahr 1997 als Straftatbestand in das Strafgesetzbuch (§177 StGB) aufgenommen, und als zuletzt im Januar 2002 das Gewaltschutzgesetz in Kraft trat, wurde endgültig eine rechtliche Handlungsaufforderung an die Polizei formuliert, bei körperlicher und psychischer Gewalt in Paarbeziehungen einzuschreiten (Flügge 2007).

Vor dem Hintergrund einer weitgehenden Transformation der sozialen Ordnungsstrukturen verstehen viele der beteiligen Akteure den Erlass dieses Gesetzes als den historischen Meilenstein zur Regulierung familiärer Gewaltbeziehungen, der einschneidende Lernprozesse innerhalb der verschiedenen Institutionen in Gang gesetzt habe (Feldnotiz). Innerhalb der Organisation Polizei, in der männliche Rollenbilder keine unwesentliche Rolle spielen (Behr 2002), musste nun das neue Bundesgesetz in Landesgesetze beziehungsweise Dienstanweisungen überführt werden, womit eine eingehende Auseinandersetzung mit der Thematik angestoßen wurde. Die notwendig gewordene Anpassung des HSOG (Hessisches Gesetz für Sicherheit und Ordnung) erfolgte mithilfe von Arbeitsgruppen, in die auch die Expertise der Mitarbeiterinnen von Frauenhäusern und Beratungsstellen einbezogen wurde. Die beteiligten Polizist_innen berichten in diesem Fall von einem Top-down-Prozess, der allerdings erhebliche Auswirkungen auf den Dienstalltag der Polizist_innen auf der Straße hatte.

Aber auch die Institutionen und die Praxis der in der Sozialarbeit tätigen Frauen veränderten sich durch die Einführung des Gewaltschutzgesetzes. Als letztlich Gesetz wurde, was sie über 30 Jahre lang gefordert hatten, galten sie nicht mehr als zu polizierende Aktivistinnen, sondern als Expertinnen, die von den öffentlichen Institutionen um Hilfe gefragt wurden. Waren sie auch schon zuvor in präventiven Gremien vertreten, so wird nun massiv um ihre Mitarbeit in verschiedenen Arbeitskreisen geworben. In Hessen unterstützen sie mittlerweile die inhaltliche Gestaltung der Module zum Gewaltschutzgesetz, die während der Polizeiausbildung verpflichtend zu belegen sind. Auf der praktischen Ebene hat sich in Frankfurt eine hoch institutionalisierte Arbeitsteilung zwischen Sozialarbeiter_innen und der Polizei entwickelt, die gegenseitig als gewinnbringend beschrieben wird.

Meist sind bei Fällen häuslicher Gewalt die Polizeibeamt_innen zuerst am Ort der Auseinandersetzung, wobei sie durch das Gewaltschutzgesetz nun die Möglichkeit haben, die Täter der Wohnung zu verweisen (sogenannte polizeiliche Wegweisung) und ihnen die Kontaktaufnahme mit dem Opfer für einen Zeitraum von zwei Wochen zu verbieten. Die Polizei vermittelt den Opfern in der Regel den Kontakt zu einem Frauenhaus oder zu einer Beratungsstelle, außerdem werden sie gefragt, ob eine Hilfsinstitution direkt mit ihnen in Verbindung treten darf. Im Anschluss erhält die jeweils zuständige soziale Einrichtung eine kurze Beschreibung des Vorfalls. So können von Gewalt betroffene Frauen direkt von einer Beratungsstelle angesprochen werden. Ihnen wird ein Beratungstermin in einer der Einrichtungen angeboten und sie erhalten eine Beratung über ihre rechtlichen Möglichkeiten, auch bezüglich der Versorgung möglicher Kinder, sowie eine psychologische Betreuung. Entscheidet sich eine Frau dafür, weitere rechtliche Schritte zu unternehmen, so wird sie fortan bei Behördenangelegenheiten unterstützt. In schwerwiegenden Fällen oder bei Vorfällen, die sich zu Tagesrandzeiten oder am Wochenende ereignen, kann die Polizei betroffene Frauen und Kinder auch direkt zu einem Frauenhaus bringen, wo ihnen zeitlich begrenzt die Möglichkeit eines geschützten Aufenthaltes geboten wird.

In der Praxis berichten sowohl die Polizei als auch Vertreterinnen der Frankfurter Frauenhäuser, dass durch das Gewaltschutzgesetz eine Win-win-Situation entstanden sei. Die Polizei greift inzwischen in Konflikte privater Gewalt gegen Frauen und Kinder ein, ist für diese Eingriffe speziell geschult und hat ein geregeltes Verfahren für den Umgang mit den Beteiligten in der Folgezeit entwickelt. Für die Frauenhäuser und Beratungseinrichtungen ist der Kontakt zu den betroffenen Personen gewährleistet. Sie erhalten direkten Zugang zu ihrer Klientel, außerdem gibt es in den Polizeidienststellen nun Kontaktbeamt_innen, die sie direkt ansprechen können und die auch für die Weiterverfolgung der Fälle vor Gericht zur Verfügung stehen. Für die Polizei ist häusliche Gewalt durch die Einführung spezieller Beamt_innen und die Implementierung einer speziellen Ausbildung zu einem neuen Eingriffsfeld geworden. Allerdings ist sie nach dem direkten Eingriff dadurch entlastet, dass ein Netz von Expert_innen zur Verfügung steht, die für die weitere Bearbeitung der Fälle geschult ist. Gleichzeitig begleitet die Polizei die Arbeit der Frauenhäuser in kriminalpräventiven Gremien mit verschiedenen Kampagnen und kann sich in der Öffentlichkeit mit Erfolgen auf diesem Gebiet schmücken. Außerdem sind die Frauenhäuser eine beliebte Adresse vor allem während der Nacht- und Wochenenddienste, da diese auch von der Polizei aufgegriffene obdachlose Frauen oder Frauen mit Migrationshintergrund, die aufgrund eventuell fehlender Sprachkenntnisse oder eines ungeklärten Aufenthaltsstatus einen erhöhten Arbeitsaufwand bedeuten würden, aufnehmen, wenn es keine andere Bleibe für sie gibt. Im Ergebnis geben die Betroffenen an, dass das Gewaltschutzgesetz und der Umgang der Polizei damit zu einer weiteren öffentlichen Delegitimierung häuslicher Gewalt und so zu einer effektiven Verbesserung der Situation der von Gewalt betroffenen Frauen und Kinder geführt hätten. Die Polizei nehme diesen neuen Aufgabenbereich ernst und habe sich inzwischen als Partner etabliert.

7. Fallstudie zu gewaltaffinen Fußballfans

Das Thema der Gewalt steht ebenfalls im Vordergrund bei der Polizeiarbeit in Bezug auf Fußballfans. Im Unterschied zum Bereich der häuslichen Gewalt haben die betroffenen Akteure hier jedoch keine Verrechtlichung ihres Anliegens erkämpft, vielmehr wurden Auseinandersetzungen zwischen Fans und der Einsatz von Pyrotechnik in den Fußballstadien ab Mitte der 1990er Jahre vor allem im Zuge der Kommerzialisierung des Fußballs zum Thema der medialen Debatte.

Im Jahr 2012 sorgte ein Papier der Deutschen Fußball Liga (DFL) mit der Überschrift „Sicheres Stadionerlebnis“ für Protest innerhalb von Fankreisen (vgl. Süddeutsche Zeitung, 27.11.2012). Die Stellungnahme war auf Druck vieler Proficlubs zustande gekommen, nachdem es über mehrere Jahre immer wieder Auseinandersetzungen über die Sicherheit beim Massen-Event Fußball gegeben hatte, nicht zuletzt auch in der Ständigen Konferenz der Innenminister der Länder. Die politisch Verantwortlichen hatten die Debatte noch durch den Vorschlag angeheizt, die kostspieligen Einsätze der Polizei in Zukunft anteilig von den Fußballvereinen finanzieren zu lassen, wenn diese sich nicht kooperativ beim Thema Sicherheit im Stadion zeigen würden (Der Tagesspiegel, 22.8.2010). Nach diesen Auseinandersetzungen regelte das DFL-Papier die Zuständigkeiten von Vereinen und Polizeien und machte akribische Vorgaben zur Einrichtung von Gremien, zur Architektur der Stadien, mitsamt unterschiedlichster Möglichkeiten der Einlasskontrollen und der visuellen Überwachung während der Spiele, zu Maßnahmen bei Nichtberücksichtigung der Vorgaben sowie bei Verstößen gegen die Hausordnungen und gegen geltende Gesetze. An den Spieltagen selbst ist zur Kontrolle der Fans ein komplexes Ensemble an Akteuren präsent. Zunächst gibt es die szenekundigen Kontaktbeamten bei der Polizei, die ihre lokalen Fußballmilieus kennen und bei den Spieltagen vor Ort sind. Dann begleitet die Bundespolizei die Fans bei ihrer Anreise in Zügen. In und um das Stadion sind verschiedene Einheiten der Länderpolizeien aufgestellt. Da an einem Tag mehrere Spiele in verschiedenen Städten stattfinden können, können dies Polizist_innen aus dem gesamten Bundesgebiet sein. In den Stadien selbst gibt es dann noch die privatwirtschaftlichen Ordnungsdienste der Fußballvereine, die für die Einlasskontrollen sowie für die Kontrollen vor den jeweiligen Stadionsblöcken zuständig sind.

Zusätzlich werden die Fußballfans mittlerweile fast bundesweit von Sozialarbeiter_innen ‚betreut‘, die meist von den Vereinen angestellt werden und in Fanprojekten tätig sind. Diese sind an Spieltagen ebenfalls häufig vor Ort und nehmen auch sonst eine Vermittlerfunktion zwischen Polizei und Fußballfans ein. Die Polizei hat mit der Zentralen Informationsstelle Sport, die eine Datei über „auffällig gewordene“ Fußballfans führt, den direkten Zugriff auf die hochsensible Überwachungstechnik in den Stadien und mit den speziell ausgebildeten szenekundigen Beamten ein sehr großes Arsenal zur Kontrolle dieser kleinen Gruppe zur Verfügung. Auch wegen des umfassenden polizeilichen Ermessensspielraums wird die Praxis der Polizei von den Betroffenen als nicht immer nachvollziehbar beschrieben. Diese Konflikte verschärfen sich, wenn sich die Polizei zeitweise jenseits der rechtlich gesteckten Grenzen bewegt (Beispiel ‚Polizeikessel‘).

Die Sanktionen für deviantes Verhalten über die konkreten Spieltage hinaus basieren auf einer Kombination aus Straf- und Zivilrecht. Nimmt die Polizei einen Fußballfan bei einer nicht geduldeten Handlung fest, erstattet sie daraufhin Anzeige und fordert den Verein, bei dem das Spiel stattfand, dazu auf, ein Stadionverbot für den Festgenommenen auszusprechen, das rechtlich über das Hausrecht der Vereine abgedeckt ist. Je nach Schwere des Vorwurfs kann das Verbot zeitlich auf wenige Tage und Wochen begrenzt sein, in den überwiegenden Fällen wird jedoch ein bundesweites Stadionverbot für einen Zeitraum von etwa zwei Jahren ausgesprochen (Deutsche Fußball Liga 2012). Möglichkeiten des Einspruchs sind in diesem Verfahren nicht vorgesehen und werden nur partiell von in diesem Zusammenhang als progressiv wahrgenommenen Vereinen (z. B. dem Karlsruher SC) gewährt. Einmal im System gespeicherte Fans können zusätzlich mit polizeilichen Meldeauflagen für Spieltage und besonders für internationale Events versehen werden, mit denen sichergestellt werden soll, dass sie sich nicht an ‚neuralgischen Punkten‘ aufhalten (Steinat 2012).

Anders als bei der Polizierung häuslicher Gewalt, die inzwischen eingespielt und weitgehend institutionalisiert ist, erscheint die Polizeipraxis rund um den ‚Tatort‘ Fußballstadion den betroffenen Fans meist undurchsichtig und willkürlich. Sie berichten davon, wie abhängig diese davon sei, ob ein engagierter und kommunikationsbereiter Einsatzleiter vor Ort ist. Der oft kolportierten Einschätzung, dass die Polizei den Bereich des Fußballs als Experimentierfeld für neue Techniken und die Einübung der Kontrolle größerer Menschenansammlungen nutzt, folgen viele der direkt Beteiligten zumindest in Frankfurt am Main nicht (Feldnotiz). Sie sind der Ansicht, dass die öffentliche Sicherheitspolitik gegenüber Fußballfans konjunkturellen Schwankungen unterliegt. Allerdings seien sie inzwischen mit einer zunehmend hochgerüsteten Polizei konfrontiert, was zu den Konflikten, die tatsächlich in und um die Stadien eine Rolle spielten, in keinem vernünftigen Verhältnis mehr stehe. Das von der Politik als Meilenstein im Umgang mit gewalttätigen Auseinandersetzungen gelobte Papier „Sicheres Stadionerlebnis“ hat zumindest unter den Frankfurter Fans nicht für besonders große Aufregung gesorgt. Im Endeffekt sei darin nur die bereits seit längerer Zeit vorherrschende Praxis noch einmal festgeschrieben worden. Abgesehen davon, dass die Polizei nun das Videomaterial der Stadionkameras life auswerten darf, hat sich aus ihrer Sicht wenig verändert.

Wie bei dem Einsatzfeld häusliche Gewalt übernehmen auch hier die Sozialarbeiter_innen eine zentrale Kommunikationsfunktion, da zumindest die organisierten Fußballfans grundsätzlich nicht direkt mit der Polizei sprechen wollen. Sie sehen sich einem technisch und rechtlich hoch aufgerüsteten Apparat gegenüber, eine Kommunikation bringt aus ihrer Perspektive keinerlei Vorteile. Vielmehr ist ihre Erfahrung mit der Polizei weitgehend darauf beschränkt, dass sie von ihr an der Ausübung ihres speziellen Hobbys gehindert werden. Sozialarbeiter_innen, die schon länger in Fanprojekten tätig sind und sich über ihre Kommunikationsfunktion hinaus auch mit Gewaltprävention (speziell für jüngere Fans) beschäftigen, berichten außerdem, dass die strikte Trennung der verschiedenen städtischen Szenen durch die Polizei und andere Institutionen zwar situativ Abhilfe schafft, längerfristig gesehen das Problem der Gewalttätigkeit unter den Fans jedoch verschärfe, da sie zu einer Art von ‚Fremdenfeindlichkeit‘ führe.

Der Umgang der Polizei mit den Fans ist an dem Ziel orientiert, jede Form von Regelüberschreitung sofort im Keim zu ersticken. Die betroffenen Fangruppen, die sich überwiegend als Angehörige der Ultras und damit als besonders treue Fans verstehen, stellen jedoch gleichzeitig einen wichtigen Faktor für das Fußballerlebnis dar. Da sie mit ihren kreativen Choreografien und Sprechchören wesentlich zur Atmosphäre in den Stadien beitragen, ist es nicht im Interesse der Vereine, sie gänzlich aus den Stadien zu verbannen. Versuche der Polizei, die Fanszenen mit kollektiven Strafen für die Verstöße Einzelner zu spalten, konnten innerhalb der meist geschlossenen Milieus bisher nicht fruchten (das zeigt z.B. die Initiative 12:12, mit der eine große Zahl bundesdeutscher Fußballfans ihre Ablehnung des DFL-Papiers zum Ausdruck brachte). Mit ihrem martialischen Auftreten organisiere die Polizei vielmehr den beständigen Nachwuchs derjenigen Gruppen, die sich beim Fußball mit kontrollierter Devianz Triebabfuhr verschafften. Der Druck auf die Vereine zur stärkeren Verrechtlichung und zum stärkeren Durchgreifen kann daher auch als ein Eingeständnis der Polizei gewertet werden, dass ihre bisherige Praxis bislang nicht von großem Erfolg gekrönt war.

8. Lernendes Regime? Die Polizei als letzte Instanz

Es wurde gezeigt, dass die staatliche Sicherheitsproduktion zumindest in den zwei ausgewählten Feldern der polizeilichen Arbeit auf einem komplexen Ensemble unterschiedlicher Praktiken und Akteure beruht und sich je nach konkretem Konflikt sehr unterschiedlich entwickeln und ausgestalten kann.

Gemeinsam ist dabei beiden Feldern, dass die Polizei ihre Zuständigkeit jeweils mit der Ausübung von Gewalt durch nichtstaatliche Akteure begründet, wobei das Beispiel des Gewaltschutzgesetzes deutlich macht, dass das, was überhaupt unter Gewalt verstanden wird, abhängig ist von den jeweiligen Kräfteverhältnissen im Staat und sich im Laufe der Geschichte verändern kann. Während Feministinnen jahrzehntelang dafür gekämpft haben, dass die Öffentlichkeit und damit letztendlich auch der Staat die Ausübung von physischer und psychischer Gewalt in Paarbeziehungen als Problem wahrnimmt und dementsprechende Reaktionen entwickelt, fühlen sich die Fußballfans in ihrer als legitim empfundenen Ausübung von ‚Gewalt‘ von der Polizei gestört.[14]

Weiterhin haben die Fallstudien veranschaulicht, dass Polizeiarbeit zumindest in Frankfurt am Main inzwischen hochgradig mit Institutionen der Sozialarbeit verwoben ist. Die von der 68er-Bewegung geäußerte Kritik an der Ineffizienz staatlicher Herrschaftsausübung (in Form von rigider Repression) und an der fordistischen Starrheit sozialer Beziehungen ist in vielen Bereichen aufgegriffen worden (siehe z. B. auch das Polizieren von Drogenabhängigen und Jugendlichen) und kommt sowohl in einem veränderten Umgang der Polizei mit den ‚Täter_innen‘ als auch in einer veränderten gesellschaftliche Perspektive auf Konflikte zum Ausdruck. Insofern zeigt sich, dass die Art und Weise, wie soziale Konflikte von der Polizei und anderen staatlichen Ordnungsbehörden behandelt werden, abhängig ist von den historischen Rahmenbedingungen und den konkreten Kräfteverhältnissen (auch vor Ort), das heißt abhängig ist vom jeweils konkreten Sicherheitsregime.

Wie andere Institutionen sind Polizei und staatliche Sicherheitsorgane im neoliberalen Kapitalismus insofern als lernende Akteure zu verstehen, als für sie eine Zusammenarbeit mit anderen Institutionen durchaus eine Option darstellt, solange dies aus ihrer Sicht gewinnbringend erscheint. Sie entwickeln sich sowohl im Spannungsfeld gesellschaftlicher Transformationsprozesse als auch anhand der Erfahrungen, die sie im Umgang mit konkreten Konflikten in spezifischen Räumen sammeln. Mit ihrer gewachsenen Kooperationsbereitschaft – die im Fordismus in diesem Ausmaß noch undenkbar gewesen wäre[15] – kann die Polizei gegenwärtig zugleich den ihr durch den Neoliberalismus auferlegten betriebswirtschaftlichen Zwängen entsprechen und als weniger wichtig verstandene Aufgabenbereiche ausgliedern. Die Bundes- und Landespolizeien übernehmen in diesem Sinne immer mehr letztinstanzliche Steuerungsfunktionen und überlassen den ‚Job auf der Straße‘ immer mehr sozialen oder pädagogischen Einrichtungen, kommunalen Behörden oder privaten Sicherheitsdienstleistern (Stienen 2011). Für die konkrete Praxis ist darüber hinaus zentral, welche anderen Akteure (zivilgesellschaftliche oder kommerzielle) dabei noch in dem jeweiligen Feld ein Interesse artikulieren und welche Ressourcen (z. B. in Form von Konfliktfähigkeit und -bereitschaft) sie besitzen, um deren Durchsetzung zu gewährleisten (Offe 2006).

Die Analyseansatz des Sicherheitsregimes erlaubt es, wie die beiden Fallbeispiele verdeutlicht haben, die Ausdifferenzierung staatlicher Sicherheitspolitik wahrzunehmen und zu erkennen, dass es sich bei der aktuellen Entwicklung nicht zwangsläufig um eine einseitige repressive Ermächtigung des Staates durch die Verbreiterung der Eingriffsrechte der Polizei handeln muss. Vielmehr können auch konkurrierende Interessen und Handlungslogiken der beteiligten Akteure sowie erfolgreiche soziale Kämpfe der Grund dafür sein, dass ein gesellschaftlicher Konflikt zu einem Aufgabenbereich polizeilicher Regulierung wird. In manchen Fällen kann es aus der Sicht der Betroffenen sogar von Vorteil und wünschenswert sein, dass sich die Polizei zuständig fühlt und professionelle ‚Konfliktlösungstools‘ anbietet.[16]

Des Weiteren ist festzuhalten, dass mit einer Konzentration auf staatliche Institutionen die Komplexität von Ordnungspraxen und Sicherheitspolitik im urbanen Raum nicht angemessen zu erfassen ist. Die historische Entwicklung in diesem Bereich zeigt vielmehr, dass soziale Ordnungsvorstellungen an vielen Orten gesellschaftlich wirkmächtig werden und weitreichenden Veränderungen unterliegen. Das gilt nicht nur für die zuständigen Akteure, sondern auch für die Formen der Repression und sozialen Kontrolle, die sie ausüben, sowie für deren Objekte und Orte und damit allgemein für die Konstitution sozialer Herrschaft, die sich abhängig von der Entwicklung der Produktionsweise beständig in neuer Gestalt präsentiert.

Schließlich ist damit auch bereits eine Kritik an der gängigen Kritik und Warnung vor einem totalitären Überwachungsstaat skizziert. Denn diese kolportiert durch ihre Analysen beständig ein Bild^ von einem starken und stets stärker werdenden Staat, der sich quasi naturwüchsig auf immer mehr gesellschaftliche Bereiche ausdehnt. Damit liegen die Kritiker_innen zwar nicht gänzlich falsch, aber ihre Kritik ist in gewisser Weise blind und wenig zugänglich für die Feinheiten der kapitalistischen Herrschaftsausübung, weil sie das komplexe Wechselspiel der Akteure im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis nicht deuten kann. Stattdessen verabsolutiert sie ein strukturelles Moment kapitalistischer Staatlichkeit (die Letzverantwortung über Leben und Tod) zu einer kulturpessimistischen Gegenwartsdiagnose, durch die ältere Formen kapitalistischer Sicherheitsproduktion, wie zum Beispiel im Fordismus, plötzlich in einem viel besseren Licht erscheinen.

So wird zuletzt nicht nur auf der theoretischen Ebene eine grundsätzliche Staats- und Gesellschaftskritik vermieden. Denn eine solche Perspektive tut mithin genau den Akteuren unrecht, die immer wieder ganz eigene und neue Wege finden, um den hochgradig technisierten Kontrollen zu umgehen. Mit ihr wird am Ende auch die Möglichkeit von der Machbarkeit der Geschichte verneint. Letztlich kann so eine gutgemeinte Kritik einer progressiven Gesellschaftsveränderung auch im Wege stehen.

Endnoten

Autor_innen

Anna Kern; Politikwissenschaftlerin, Arbeitsschwerpunkte: materialistische Staats- und Raumtheorie, kritische Sicherheitsforschung

a.kern@em.uni-frankfurt.de

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