Vorbemerkung: Die folgende Skizze stellt den Versuch dar, in sehr komprimierter Form den Kern und zugleich die Breite dessen auszuleuchten, was ‚kritische Polizeiforschung‘ ausmachen könnte und meines Erachtens sollte. Im Dienste von Kürze und Prägnanz habe ich auf Literaturhinweise, Beispiele und explizite theoretische Verortungen verzichtet. Eingegangen sind Positionen und Argumente aus der Kritischen Kriminologie, der materialistischen Staatstheorie und der kritischen Stadtforschung. Vorarbeiten entstanden im Anschluss an die von Jenny Künkel und Kendra Briken im Februar 2013 in Frankfurt am Main organisierte Tagung „Kritische Polizeiforschung in Deutschland – Stand und Perspektiven“ (8.-9.2.2013). Sie wurden als Vorschlag für die Grundlage einer zukünftigen Zusammenarbeit der Teilnehmer_innen verschickt und vereinzelt auch kommentiert, wofür ich dankbar bin.
These: Kritische Polizeiforschung zeichnet sich durch das Hinterfragen von Zweck und Wirklichkeitder Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols aus.
Ausführung: Der Zweck des Staatsapparats Polizei besteht darin, das stets prekäre Monopol legitimer physischer Gewalt des Staates durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. Auf Basis dieses Monopols kommt der kapitalistische Staat seinem primären, im globalen Norden über Jahrhunderte in Kämpfen und Aushandlungen durchgesetzten Zweck nach, mittels des Rechts widersprüchliche und konfliktgeladene gesellschaftliche Verhältnisse zu prozessieren, also abzusichern und auf Dauer zu stellen, ohne dabei selbst als Konfliktpartei zu erscheinen. Der dergestalt besonderte Staat organisiert und garantiert die wesentlichen gesellschaftlichen Ausschlussverhältnisse: das Eigentum als Basis der kapitalistischen Produktionsweise, die Staatsbürgerschaft als Basis politischer Herrschaft und die Trennung von öffentlichen und privaten Angelegenheiten, mittels derer etwa die Verhältnisse der Geschlechter, der Generationen, der sexuellen Orientierungen, der Weltanschauungen und der Religionen reguliert werden.
Die eingerichteten Verhältnisse sind von inhärenten Widersprücheen geprägt. Deshalb verändern sie sich in der Zeit und unterscheidet sich ihre Entwicklung je nach Kräfteverhältnissen und Kämpfen zwischen Orten und Staaten sowie zwischen räumlichen Maßstabsebenen. Dabei sind Städte und Staatsgrenzen häufig die Orte, an denen die Widersprüche der Herrschaftsverhältnisse und ihre auch gewaltförmige Regulierung zutage treten. Hier werden seitens des Gewaltmonopolisten neue Strategien ausprobiert, hier wird die Relevanz von Stadt und Raum für die Polizei deutlich.
Im Fall gelingender politischer Herrschaft sind die zentralen Ausschlussverhältnisse in sozialer Praxis und Diskursen gesellschaftlicher Konsens ebenso wie die Bekämpfung von Abweichungen, auch mittels Gewalt. Dasselbe gilt für den Ausschluss radikaler Kritik an den eingerichteten Verhältnissen aus dem Bereich des Sagbaren, auch dies gegebenenfalls mittels Gewalt. Bröckelt die Hegemonie und verschieben sich Diskurse und soziale Praxis in einer Weise, die die Grundlagen der eingerichteten Ordnung gefährden könnten, geben seine Gewaltapparate dem Staat die Möglichkeit, die Ordnung auch ohne funktionierende Hegemonie im Modus der Dominanz durchzusetzen.
Diese formanalytische und hegemonietheoretische Bestimmung des sozialen Verhältnisses Staat und der Position und Funktion des Staatapparates Polizei inklusive seiner staatlichen und privaten Institutionen innerhalb der Gesellschaft wird in der Wirklichkeit des Polizierens immer wieder aufs Neue praktisch wahr gemacht. In Myriaden von materiellen und diskursiven Praktiken wird das Gewaltmonopol andauernd reproduziert und unter Umständen transformiert. Dabei sind es stets einzelne Subjekte im Kontext von Machtverhältnissen und konkreten Institutionen, die es durchsetzen, regulieren, in Anspruch nehmen, als legitim akzeptieren oder infrage stellen. Je nach Stellung in diesem Reproduktionsprozess sind die Subjektivierungen der Beteiligten als zum Beispiel Polizist_in, Gesetzgeber_in, Verbrechensopfer, Bürger_in, Sicherheitsunternehmer_in oder radikale_r Kritiker_in mehr oder weniger von der Wirklichkeit des Gewaltmonopols (mit-)bestimmt. In den Institutionen, innerhalb derer Praktiken stattfinden und sich Subjektivierungen konstituieren, können sich spezifische Kulturen herausbilden, wie etwa die cop culture der Polizei. Diese können in Widerspruch zu rechtlichen und moralischen Idealen des Polizierens geraten, wie sie in der Exekutive selbst, in Legislative und Judikative sowie in Politik, Medien und Wissenschaft ausgehandelt und zum Teil im Recht fixiert werden. Bei der Polizei liegen formbestimmte Gründe für die Ausbildung kontraproduktiver Kulturen vor, weil Polizist_innen in Interaktion mit potenziell Abweichenden Gewaltmittel unterhalb des Radars institutioneller Kontrolle und vor eventueller rechtlicher Nachbearbeitung in Anschlag bringen können.
Die skizzierten Zusammenhänge durch Hinterfragen theoretisch und empirisch in den Griff zu bekommen, macht ihre Kritik aus. Sowohl die untersuchten Zusammenhänge als auch die Perspektiven der Forschenden auf die Zusammenhänge sind das Produkt dessen, was Menschen unter vorgefundenen Umständen tun und getan haben. Kritische Polizeiforschung untersucht die genannten Aspekte – Praktiken und Interaktionen, Subjektivierungen und Diskurse, Institutionen und Hegemonien – in ihrer in Zeit und Raum unterschiedlichen und sich durch Aushandlungen und Kämpfe entwickelnden Wirklichkeit, um mehr darüber zu erfahren, wie die gewaltförmige Absicherung von politischer Herrschaft und sozialer Ordnung funktioniert, umkämpft ist und sich verändert. Als Labore des Gewaltmonopols sind Städte für die kritische Untersuchung von Varianten und Veränderungen des Polizierens – neben Staatsgrenzen – ein privilegiertes Terrain kritischer Forschung. Hier wie überall interessiert sich kritische Polizeiforschung insbesondere dafür, wer, warum, in welcher Weise und mit welchen Konsequenzen Widerstand gegen die Wirklichkeit des Gewaltmonopols oder seine Zwecke leistet. All dies tut kritische Polizeiforschung, um sich nicht mehr in dieser Weise regieren zu lassen. Ihre Tauglichkeit beweist sie in der Praxis. Los geht’s.
Bernd Belina, Professor für Humangeographie am Institut für Humangeographie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, war Redakteur und ist im Herausgebendenkreis der Zeitschrift „Kriminologisches Journal“. Seine Forschung in Bereich von Stadtgeographie, Politischer Geographie und Kritischer Kriminologie versucht Macht, Herrschaft und Kriminalisierungen in und durch Stadt und Raum im Kapitalismus besser zu verstehen.
belina@em.uni-frankfurt.de