Zur Aktualität der Etikettierungsperspektive als Ideologiekritik. Ein Beitrag zur Debatte um kritische Polizeiforschung

Helga Cremer-Schäfer

Als eine nicht auf ‚Polizei‘ spezialisierte Sozialwissenschaftlerin werde ich in meinem Diskussionsbeitrag von Überlegungen zu einer ‚kritischen Institutionenforschung‘ ausgehen. Thematisieren werde ich Polizei nur als eine ‚Instanz‘ der Institution ‚Verbrechen & Strafe‘.[1] Diesen Begriff für den Komplex von Strafrecht, organisierter Strafrechtsanwendung, dem Vollzug von Strafen und den damit entwickelten Kategorisierungen und dem kriminologischen Wissen haben Heinz Steinert und ich eingeführt, um die Funktionen der sozialen Ausschließung durch die Kategorie ‚Kriminalität‘ in Erinnerung zu bringen. Moralisch legitimierte soziale Ausschließung wird als eine Grundfunktion der Institution bestimmt und soziale Kontrolle als angelagerte Logik beziehungsweise amalgamierte Herrschaftstechnik (vorwiegend der Institution ‚Schwäche & Fürsorge‘ entnommen) sowie beides im historischen Kontext der fordistischen Produktionsweise und der sozialstaatlichen ‚Modernisierung‘ von Staatsapparaten verortet (vgl. Cremer-Schäfer/Steinert 2014/1998).

Die Analyseperspektive ergibt sich erstens aus der Verortung der Polizei als einer ‚Instanz‘ der Institution ‚Verbrechen & Strafe‘, die moralisch legitimierte soziale Ausschließung organisiert und die zweitens zu diesem Zweck und anderen (ideologischen) Zwecken die Kategorie ‚Verbrechen‘ reproduziert und verwaltet.[2] Diese Reproduktion und Verwaltung des ‚Verbrechens‘ und seiner Varianten der ‚Kriminalität‘ legitimieren direkt die Ausschließung durch alle Formen der staatlich organisierten Bestrafung. Indem die betroffenen Subjekte/ Personen kriminalisiert und bestraft werden, wird ihre Teilnahme an Gesellschaft und ihre Ingebrauchnahme von gesellschaftlich erzeugten Ressourcen behindert bis blockiert. Die Zuweisung einer Pariaposition wird indirekt als ‚verdient‘ legitimiert, da Konformität, Normalität, Rechtschaffenheit und Normeinhaltung verweigert werden. Die Kurzbenennung für die Analyseperspektive und die Sache lautet: reflexive Kritik von institutionalisierter Herrschaft durch Verdinglichung zum Zweck der formierenden, Ungleichheit produzierenden Integration und dem der sozialen Ausschließung.

Als eine Instanz der Institution ‚Verbrechen & Strafe‘ steht die Polizei (wie auch die Staatsanwaltschaft) fast ausschließlich für die Durchsetzung von Herrschaft und folgt nicht der Logik der Herrschaftskontrolle und Herrschaftskritik. Institutionalisierte und an die Idee/ Ideologie eines bürgerlichen Rechtsstaats gebundene Herrschaft sollten wir jedoch, gerade wenn von Funktionen die Rede ist, theoretisch als widersprüchlich und ‚dialektisch‘ begreifen. Keine Instanz der Institution ‚Verbrechen & Strafe‘ ist einer ‚Funktion‘ hilflos ausgeliefert. Ordnungsfunktionen können nicht ohne tätige Mitarbeit anderer Instanzen und anderer Institutionen, insbesondere nicht ohne die Instanzen und (wissenschaftlichen) Disziplinen der Wissensproduktion und vor allem nicht ohne die Politikform des Populismus zu einem Überwachungsexzess oder einem Säuberungsregime und zu Ausschließungspropaganda radikalisiert werden. Daher ist es zentral, bis zu welchem Grad in der Wissenschaft ein Gegenwissen und ein institutionenkritisches Wissen entwickelt werden. Die Kriminologie selbst zielt kaum darauf ab; und auch wenn die Kritische Kriminologie sich immer weniger als Kritik der Kriminologie entwickelt, so dürfte die kritische Polizeiforschung hier an reflexive und kritische Denktraditionen mit Aktualität anknüpfen können.

Die Polizei übernahm in der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft in jeder (im kurzen 20. Jahrhundert) durchgesetzten Politikform und im Rahmen jeder bisherigen rechtsstaatlichen Struktur des Herrschaftsapparates eine zentrale Rolle bei der Anwendung der Kategorie ‚Verbrechen‘ auf eine bestimmte Handlung oder Person und bei der Gewinnung von darauf beruhenden Klassifikationssystemen wie etwa dem der ‚Kriminalität‘, der ‚Gewalt‘ oder der ‚Gefährlichkeit‘. Hinzu kommen Klassifikationen von ‚Tätertypen‘, von ‚üblichen Verdächtigen‘ und ihrer Herkunftsklasse. Auf eine sehr kurze Delegitimierungsphase folgte nach 1945 die Phase der Restauration (nicht nur) der Polizei in der Bundesrepublik und dann die Phase der Rationalisierung (im doppelten Sinn). Ab den 1970er Jahren beobachten wir empirisch, dass sich die Polizei aus internen Strategien heraus immer stärker der Durchsetzung von Herrschaft verpflichtet,[3] wenn auch nicht mehr als ‚Büttel‘, sondern mit dem Anspruch eines „wissenden Gesellschaftsdiagnostikers“, der, wie der damalige Präsident des Bundeskriminalamts, Horst Herold, es 1980 in einem Interview mit Sebastian Cobler formulierte, „Dynamik in die Sache bringt“. Der modernisierten Polizei ging es seit den 1970er Jahren um Kriminalitätskontrolle, um Kontrolle der Radikalität von Befreiungen und um Terrorismuskontrolle. Um Herrschaftskontrolle (sei es im Namen von Verhältnismäßigkeit, der patriarchalen Befriedung, der Entdramatisierung, der Techno-Prävention oder einem Konfliktmanagement) machen sich die Instanz Polizei und ihr Personal die geringsten Sorgen. Die Art des Gebrauchs von ‚Kriminalität‘ und/ oder ‚Gewalt‘ und/ oder ‚Gefährlichkeit‘ und/ oder ‚Sicherheitsrisiko‘ steht dabei im scharfen Gegensatz zum Reflexionsgewinn, der durch die reflexive Sozialwissenschaft und die Kritische Kriminologie und deren Kern, die interaktionistische Etikettierungsperspektive, ermöglicht wurde. Aus der Etikettierungsperspektive ergibt sich ein ‚anti-institutionelles Wissen‘, daher konnte sie als reflexive Sozialwissenschaft gerade als Denkwerkwerkzeug der Kritik von rationalisierter Herrschaft genutzt werden. Bis heute.

Der Weg zu einer reflexiven und kritischen Wissenschaft setzt voraus und besteht darin, dass wir unsere Begriffe und den Gegenstand unserer Untersuchung und unseres Nachdenkens unabhängig von Kategorisierungen, Annahmen und Vorgaben der analysierten Institutionen und der sie charakterisierenden Herrschaftstechniken bestimmen. Der sich als wissenschaftliche Disziplin (und ‚Branche‘) etablierenden Kriminologie ist das phasenweise ein gutes Stück gelungen. Die zentrale Ressource für die Gewinnung relativer Autonomie der wissenschaftlichen Wissensproduktionen von der Institution ‚Verbrechen & Strafe‘ war das reflexive und das institutionenkritische Potenzial der (interaktionistischen) Etikettierungstheorien, wodurch die Perspektive der Kritischen Kriminologie auf Instanzen der sozialen Kontrolle und der sozialen Ausschließung – einschließlich ihrer ‚akademischen Branchen‘ – geprägt war. Die zentrale Einsicht dieser ‚Kritik der Kriminologie und des strafenden Staates‘ ist, dass es sich bei ‚Kriminalität‘ um eine Kategorisierung und eine Zuschreibung handelt. Es handelt sich um ein ‚Etikett‘, und das heißt: eine Abstraktion mit einem bestimmten Zweck.[4] Handlungen und Ereignisse sollen mit dem definitorischen und organisierten Instrumentarium einer Ordnungs- und daher immer auch einer Herrschaftsinstitution bearbeitet und zu einem Gegenstand werden – was am besten dadurch geschieht, dass die Handlungen unverstehbar gemacht werden. Das Wissen über Verbrechen und Verbrecher ist eine zentrale Dimension der Institution ‚Verbrechen & Strafe‘, besonders das systematisch gewonnene Wissen, das die Kriminologie ursprünglich als Polizei-, Gerichts- und Strafvollzugswissenschaft produzierte.

Zum Kern der Etikettierungsperspektive gehört bis heute, dass sie zentralen ‚Sicherheiten‘, Selbstverständlichkeiten und Legitimationsfiguren von sozialen Institutionen widerspricht. Zu den wichtigsten gehört das Vorurteil von Institutionen, dass sie den Gegenstand ihrer Intervention vorfinden und lediglich darauf reagieren. Die Analyse von Kategorisierungen als Etiketten zeigt aber über den methodologischen Aspekt der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit hinaus ein konträres Verhältnis von Institution und Gegenstand: Ein „Komplex von Institutionen“ ist es, der „den Gegenstand ihrer Praxis sich zu allererst ‚erzeugt‘ – und zwar in einem doppelten Sinn“ (Keckeisen 1974: 10).[5] Erstens werden durch rechtliche, organisatorische und materielle Voraussetzungen Kategoriensysteme und Herrschaftstechniken geschaffen, die als ‚Reaktion‘ und ‚Gegenmaßnahmen‘ definiert werden. Zweitens machen sie über Normanwendung und Herrschaftstechniken soziale Akteure zu einem Objekt in dem Sinne, dass Menschen wie Gegenstände bearbeitet werden: Sie werden ausgelesen, diagnostiziert, klassifiziert, Maßnahmen unterworfen und zu ideologischen Zwecken oder um des Großen und Ganzen willen instrumentalisiert.

Das Abschaffen des Kriminalitätsbegriffs und seiner diversen Varianten (so etwa ‚die Gewalt‘) erfolgt schon unter günstigen Umständen nicht durch einen einmaligen Akt. Es ist dafür vielmehr erforderlich, dass die Begriffe und Fragestellungen, die wir gesellschaftlich vorfinden und die an Wissenschaft herangetragen werden, nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Reflexive Wissenschaft und Herrschaftskritik beginnen bei Wissensanalysen: bei der Überprüfung, für welche Interessen, Positionen und soziale Orte Begriffe, Kategorisierungen, Vokabulare, Fragestellungen und Theorien einen Sinn ergeben, und welche Unternehmungen und (kollektiven) Akteure die Bedingungen ihrer Möglichkeit reproduzieren. Es ist diese Analyse von Institutionen und Wissen, die ‚auf Dauer gestellt werden‘ muss.

Als zentralen Forschungsgegenstand würde ich kritischer Polizeiforschung die Analyse der verbreiteten Sorglosigkeit und Bedenkenlosigkeit empfehlen, sowohl bezüglich des Kriminalitätsvokabulars wie bezüglich der Mitarbeit in einem ‚Ausschlusskonsortium‘. Dazu gehört ein Dauer-Monitoring von ‚Kriminalisierung‘ im weitesten Sinn; dazu gehören begriffliche Anstrengungen (Reflexivität, Wissensanalysen, Ideologiekritik), um aus der Analyse und Kritik des ‚Kriminalisierungsunternehmertums‘ ein Gegenwissen zur etablierten ‚Polizei-Kriminologie‘ zu entwickeln. Dieses ‚anti-institutionelle Wissen‘ übernimmt auch die Aufgabe, die Phänomene und Personen, die durch die Zuschreibung von Etiketten und Ursachenerklärungen unverstehbar gemacht werden, wieder der intellektuellen Verstehbarkeit zuzuführen. Das wäre der erste Schritt zur gesellschaftlichen Wiederaneignung von Konflikten (das heißt eine Entindividualisierung und Entmoralisierung) und der erste Schritt, einen angemessenen Begriff von den Phänomenen zu entwickeln, die in Vergangenheit und Gegenwart mehr schlecht als recht mit den Herrschaftstechniken der Institution ‚Verbrechen & Strafe‘ bearbeitet wurden und werden.

Kurz gefasst und übersetzt in Tätigkeiten bedeutet dies die Wiederherstellung von Verstehbarkeit und die Wiederaneignung von Konflikten: Als institutionelle Kategorisierung wäre ‚Kriminalität‘ langsam, aber sicher durch Kategorisierungen zu ersetzen, die die Konflikthaftigkeit der Phänomene, die zur Bearbeitung in der Regel sogar zuerst an die Polizei herangetragen werden, angemessener begreifen. In Analogie zum praktischen Abolitionismus (z. B. der Abschaffung von Gefängnissen) wurde diese Form einer Kritischen Kriminologie in den 1980er Jahren als theoretischer Abolitionismus bezeichnet.[6] ‚Ärgernisse und Lebenskatastrophen‘ war ein auf Alltagsforschung basierender wissenschaftlicher Vorschlag, ‚Kriminalität‘ nicht durch funktionale äquivalente Kategorisierungen zu ersetzen, sondern sie durch relationale Begriffe einer intellektuellen Verstehbarkeit zuzuführen, um damit auf den Weg der Wiedervergesellschaftung von Konflikten zu kommen.[7]

Die zuletzt genannte Aufgabe mag pragmatisch aus einer kritischen Polizeiforschung in Forschungsansätze ausgelagert werden; sie wird seit Langem unter dem Namen ‚Alltagsforschung als Kritik‘, auch als ‚kritische Kulturforschung‘ oder als ‚Produktion des Sozialen from below‘ außerhalb des Forschungsverbunds vorangetrieben, der sich als Kritische Kriminologie versteht. Kritische Polizeiforschung sollte die Arbeitsteilung aber nicht zu weit treiben. Um die Form der ‚immanenten Kritik‘ zu überschreiten, müssen wir auch in Erfahrung bringen, wie die Phänomene, die gelegentlich als Kriminalität angezeigt werden, im Alltag kategorisiert werden und welche Form der ‚Abhilfe‘ oder ‚Vermittlung‘ mit einer Anzeige nachgefragt werden.

Der Nachteil für eine sich neu konstituierende Forschungsperspektive, an Vorarbeiten anzuknüpfen, liegt zweifellos darin, dass sie nicht im Modus des ‚Kolumbushabitus‘ auftreten kann: „auf zu neuen Ufern“. Dies würde zugunsten einer Wissenschaft aufgegeben werden, die eher der Hausarbeit gleicht: „immer wieder aufs Neue schon einmal Erreichtes neu ermöglichen“. Bei den durchgesetzten kulturindustriellen Produktionsbedingungen von Wissen erwächst daraus ein ziemlicher Nachteil in der Konkurrenz. Von der Sache der Herrschaftskritik gedacht, wäre die Abschaffung des Kriminalitätsbegriffs keine schlechte Sache, sondern der Einstieg in eine kritische Institutionenforschung und einen theoretischen Abolitionismus.

Endnoten

Autor_innen

Helga Cremer-Schäfer; Soziologin; Arbeitsschwerpunkte: Aktualisierung der Etikettierungsperspektive, Diskurse über Kriminalität und Armut, Prozesse der Disziplinierung, Kontrolle und Ausschließung

cremer-schaefer@em.uni-frankfurt.de

Literatur

Busch, Heiner / Funk, Albrecht / Krauß, Udo / Narr, Wolf-Dieter Narr / Werkentin, Falco (1984): Die Polizei in der Bundesrepublik. Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag.

Cremer-Schäfer, Helga / Steinert, Heinz (2014/1998): Straflust und Repression. Zur Kritik der populistischen Kriminologie. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2. überarbeitete Auflage.

Cremer-Schäfer, Helga (2014): Zur Aktualität des Abolitionismus als Denkweise mit Möglichkeitssinn. In: Widersprüche, Heft 132, 91-100.

Feest, Johannes / Paul, Bettina (2008): Einige Antworten auf oft gestellte Fragen. In: Kriminologisches Journal 40/1, 6-20.

Hanak, Gerhard / Stehr, Johannes / Steinert, Heinz (1989): Ärgernisse und Lebenskatastrophen. Über den alltäglichen Umgang mit Kriminalität. Bielefeld: AJZ Verlag.

Keckeisen, Wolfgang (1974): Die gesellschaftliche Definition abweichenden Verhaltens. Perspektiven und Grenzen des labeling approach. München: Juventa Verlag.

Steinert, Heinz (1987): Marx’sche Theorie und Abolitionismus. Aufforderung zu einer Diskussion. In: Kriminalsoziologische Bibliografie 14/56-57, 131-157.