Gewaltformen

Didier Fassin

Aber selbst der „fortschrittlichste“ Staat kann stets auf Gewaltandrohungen oder offene Gewaltanwendung gegenüber „undisziplinierten“ Bürgern zurückgreifen, wenn die für die Herstellung von sozialem Konsens zuständigen üblichen Institutionen geschwächt sind oder sich verändern.

NANCY SCHEPER-HUGHES, Death Without Weeping, 1992

Durch Feindseligkeit und Vorurteile werden Polizisten zu einer geschlossenen sozialen Gruppe, in der kollektives Handeln auf Selbstschutz und einen Angriff auf die Außenwelt gerichtet ist.

WILLIAM WESTLEY, Violence and the Police, 1950

[…] Es mag seltsam scheinen, dass man sich über die Existenz von Polizeigewalt wundert. Aus soziologischer Sicht – und somit über den französischen Sonderfall hinaus – ist Gewalt konstitutiv für die Funktion der Polizei. In modernen Gesellschaften ist es die Polizei, auf die der Staat sein „Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit“ überträgt, wie es in Max Webers berühmter Formulierung heißt.[1] Über dieses allgemeine soziologische Prinzip hinaus haben sich die Theoretiker der Staatsgewalt, vor allem in Nordamerika, den Ansatz Egon Bittners zu eigen gemacht, für den das Recht auf Gewalteinsatz das Wesen der Rolle der Polizei darstellt.[2] Anders ausgedrückt: So vielfältig die Aufgaben der Polizei auch sein mögen – ob es darum geht, einen Übeltäter festzunehmen, eine Demonstration einzudämmen, die Eskalation eines Pärchenstreits zu verhindern, Verkehrssünder zu verwarnen oder einem Verletzten Erste Hilfe zu leisten –, was Polizisten von anderen Berufsgruppen oder auch von anderen Bürgern unterscheidet, ist die Möglichkeit, Gewalt als Mittel zur Problemlösung einzusetzen, sofern sie dies für notwendig hält, sowie die Tatsache, dass dieser Umstand allen bekannt ist und man sich auch entsprechend verhält.

Bittner zufolge zeichnen sich moderne Gesellschaften im Unterschied zu vergangenen Zivilisationsformen dadurch aus, dass sie Frieden mit friedlichen Mitteln zu erreichen suchen. Gleichwohl wird der Rückgriff auf Gewalt in der Regel in drei besonderen Fällen als legitim erachtet: im Fall der Selbstverteidigung gegenüber Angreifern; im Fall der an bestimmte Berufsgruppen verliehenen Zwangsmacht im Umgang mit bestimmten Personenkreisen (z. B. an Gefängnisaufseher im Umgang mit Häftlingen); und schließlich im Fall der Polizei als einer Institution, die „nahezu uneingeschränkt“ zur Gewaltausübung befugt ist, sofern diese – von Ausnahmefällen abgesehen – nicht zum Tod führt, sofern sie nicht persönlich, sondern durch das Gemeinwohl begründet ist und sie nicht dem schlichten Wunsch entspringt, anderen zu schaden oder sich abzureagieren. Nach Egon Bittner kennzeichnen die Staatsgewalt drei Aspekte: Es existiert keine Richtlinie, keine Zielsetzung, keine irgendwie geartete Maßgabe, die dem einzelnen Polizisten vorgibt, was er machen kann und soll; es existiert ebenfalls kein Kriterium, das zu beurteilen erlaubt, ob eine gewaltsame Intervention notwendig, erwünscht oder angemessen ist; schließlich ist es außerordentlich selten, dass mit Gewaltanwendung verbundene Polizeieinsätze durch irgendjemanden überprüft und beurteilt werden. Es gibt, mit anderen Worten, nicht nur keine präzise Dienstanweisung oder Lehrmeinung, an der sich polizeiliches Handeln a prioriorientieren kann, sondern auch keine Untersuchung oder Sanktion a posteriori. Der Einsatz von Gewalt ist ausschließlich der persönlichen Abwägung der Polizeibeamten überlassen, und dies praktisch ohne Kontrolle von außen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Grenze zwischen legitimer Gewaltanwendung (recours à la force) und illegitimer Gewaltausübung (exercice de la violence) schwer zu bestimmen ist, sofern überhaupt versucht wird, sie ausfindig zu machen. So wie Krieg nur eine Fortsetzung der Politik ist, ist Gewalttätigkeit (violence) nur eine Fortführung legitimer Gewaltanwendung (force).

Die Unterscheidung der beiden Begriffe erweist sich im Kern als normativ. Der Polizist muss in der Lage sein, Gewalt einzusetzen, soll aber nicht gewalttätig sein. Insofern es jedoch weder eine Richtlinie noch ein Kriterium, eine Überprüfung oder eine Gerichtsentscheidung bezüglich des angemessenen Einsatzes von Gewalt gibt, ist anzunehmen, dass Gewalttätigkeit aus Sicht der Polizisten letztlich einen sinnlosen Begriff darstellt, abgesehen von vermeintlichen Härtefällen.[3] Für die Polizisten dient der Einsatz von Gewalt lediglich als Mittel zum Zweck, etwa zur Überwältigung einer festzunehmenden Person. Doch diese Ansicht wird vom Rest der Bevölkerung alles andere als geteilt, für den das Zu-Boden-Bringen, die Armhebel, das Zusammendrücken des Brustkorbs, die angewandten Würgegriffe und die verabreichten Schläge unerträgliche Brutalitäten darstellen. Einzelne versuchen deshalb dazwischenzugehen, lautstark zu protestieren oder (heutzutage) filmische Beweisaufnahmen zu liefern. Was für die einen als angemessener Einsatz von Staatsgewalt gilt, betrachten die anderen als Gewaltmissbrauch.

Wie mir eine Polizeibeamtin berichtete, sind die bei einer Festnahme angewandten Methoden zum Teil spektakulär.[4] „Das schockiert die Leute“, obwohl es sich eigentlich „bloß um Vorsichtsmaßnahmen handelt.“ Denn „wenn eine Anordnung nicht befolgt wird, weiß man nicht auf Anhieb, ob man es mit einem gefährlichen Übeltäter (malfaiteur) zu tun hat oder lediglich mit einem Fahrer, der keinen Führerschein besitzt.“ Sie gestand indes ein, dass „zwischen einer handgreiflichen Festnahme und einem polizeilichen Übergriff nur ein schmaler Grat besteht.“ Gleichwohl und im Gegensatz zu dem, was die Bevölkerung glaube, fuhr sie fort, erlaubten die bewährten Techniken, derer sich Polizisten bedienen, „zu vermeiden, dass sie selbst ein Risiko eingehen oder die zu überwältigende Person sich verletzt.“ Das Ergebnis sei im Übrigen nicht immer überzeugend, wie sie einräumte. So kam es bei einer Vorführung vor einer Gruppe von Parlamentsabgeordneten, die auf Wunsch der Polizeiführung stattfand, um die Unbedenklichkeit dieser Art von Einsatz zu bescheinigen, so weit, dass die beiden Ausbilder, welche die Szene „spielten“ (der eine als Festzunehmender, der andere als Festnehmender), mit Prellungen und Verstauchungen ins Krankenhaus gebracht werden mussten. Diese Anekdote brachte die Polizeibeamtin selbst zum Schmunzeln. Sie war jedoch sehr lehrreich, weil sie nahelegt, dass der Unterschied zwischen legitimer und illegitimer Gewalt in der Handlungsabsicht liegt: In diesem Fall war es nur schwer vorstellbar, dass die Beamten sich vorsätzlich gegenseitig verletzt hatten. Die Tatsache, dass es zu körperlichen Folgen kam, war also kein Anzeichen für Gewaltmissbrauch, sondern höchstens für einen unangemessenen oder ungeschickten Einsatz von Gewalt. In realen Situationen, in denen die Polizisten nicht etwa Kollegen, sondern Verdächtige verhaften, ist ihre Absicht indes weit weniger leicht zu beurteilen. Folglich ist die Unterscheidung anhand dieses Kriteriums in der Regel nicht praktikabel. Wenn Aussagen gemacht und zu Protokoll gegeben wurden, kann sich eine Disziplinarkommission oder ein Untersuchungsrichter allenfalls eine persönliche Meinung über die vermeintliche Absicht bilden.

In der Praxis sind jene Aspekte, die zur Rede von Polizeigewalt – und gegebenenfalls zu ihrer gerichtlichen Verurteilung – führen, eher technischer als psychologischer Natur, wie wir anhand des zuvor erwähnten Gerichtsverfahrens gesehen haben.[5] Im Rahmen eines Einsatzes muss die Ausübung von Gewalt gerechtfertigt und angemessen sein: gerechtfertigt durch die bestehende Gefahr (legitime Verteidigung) oder das begangene Verbrechen (schwerwiegend genug) und angemessen hinsichtlich der ausgeführten Handlung (Festhalten und Anlegen von Handschellen) sowie der Merkmale des Individuums (Stärke und Widerstand). Wenn die Gewaltanwendung sich als ungerechtfertigt erweist (Einschlagen auf ein mit Handschellen gefesseltes Individuum, körperliche Zwangshandlungen aufgrund fehlender Ausweispapiere) oder als unangemessen (mit längerer Atemnot verbundenes Würgen oder Erdrücken, brutales und hartnäckiges Vorgehen mit schweren Verletzungsfolgen) oder beides zugleich (Schuss in den Rücken einer unbewaffneten flüchtenden Person), spricht man von Polizeigewalt (violence policière), das heißt von potenziell gerichtlich zu verurteilenden Handlungen.[6] Freilich gibt es auch andere Sachverhalte, die theoretisch Gegenstand einer gerichtlichen Voruntersuchung oder sogar eines Gerichtsverfahrens werden können, wie etwa unterlassene Hilfeleistung gegenüber Personen, die durch einen Polizeieinsatz in Gefahr gebracht wurden (wie im Fall der beiden durch einen Stromschlag zu Tode gekommenen Jungen in Clichy-sous-Bois im Jahr 2005) oder ein Verkehrsunfall, der grob fahrlässiges oder sogar vorsätzliches Handeln vermuten lässt (wie im Fall der beiden im Jahr 2007 in Villiers-le-Bel überfahrenen Jugendlichen). Es handelt sich hierbei nicht um Gewalttaten im eigentlichen Sinne, sondern um die gewaltförmige Zuspitzung von Polizeieinsätzen.

Ob direkt oder indirekt ausgeübt – Polizeigewalt, wie sie in behördlichen oder gerichtlichen Untersuchungen festgestellt wird, zeichnet sich durch drei wesentliche Merkmale aus. Erstens ist sie rein physisch: Sie drückt sich als Handlung gegenüber einem Körper aus. Zweitens zeitigt sie mühelos zu identifizierende Folgen: Es handelt sich in den meisten Fällen um Verletzungen oder seltener um einen Todesfall. Drittens ist sie auf Grundlage einer beruflichen Norm definiert: Der einzelne Polizist muss bei der Anwendung von Gewalt, die gerechtfertigt und verhältnismäßig zu sein hat, Urteilsfähigkeit beweisen. Diese drei Merkmale mögen dem Leser selbstverständlich erscheinen – und tatsächlich wird Polizeigewalt auch stets so dargestellt.[7] Diese behördliche und juristische Definition ist im Übrigen derart selbstverständlich, dass sich sowohl in Amerika als auch in Europa sämtliche polizeisoziologischen Arbeiten seit einem halben Jahrhundert auf sie berufen. In diesem Sinne untersucht man durch die Polizei ausgeübte Gewalt in Anlehnung an William Westley etwa als polizeilichen Zwang (Jean-Paul Brodeur), als Polizeibrutalität (Jill Nelson) oder als polizeiliche Übergriffe (Fabien Jobard). Dabei beruft man sich stets auf das, was als interne Definition bezeichnet werden kann, das heißt auf Kriterien, welche die Polizeiverwaltung anerkennt und um deren Anwendung sich die Rechtsinstitutionen bemühen.[8] Es gibt sicher gute Gründe, sowohl praktische (man spricht die gleiche Sprache wie die Polizisten und Richter) als auch methodologische (man übernimmt die Sichtweise jener Gruppen, die man untersucht), an dieser Vorgehensweise festzuhalten. Es stellt sich jedoch die Frage, inwiefern es zum besseren Verständnis der von polizeilicher Seite ausgeübten Gewalt – in dieser Form lexikalisch unterschieden von „Polizeigewalt“, wie sie Verwaltungs- oder Rechtsbehörden verstehen – beitragen würde, stellte man diese Definition in Frage, nicht um ihre Gültigkeit anzuzweifeln, sondern um ihre Grenzen auszuloten.

Mein Argument zielt darauf ab, von der Polizei ausgeübte Gewalt als Interaktion zu begreifen, welche die Integrität und die Würde der Menschen berührt und nicht nur ihren Leib und ihren Körper, die schwerwiegend sein und dennoch verborgen bleiben kann und die schließlich eine ethische Komponente besitzt und nicht bloß eine normative.[9] Es geht mit anderen Worten darum, sich ein Stück weit von den drei üblichen Kriterien zu distanzieren. Dieser Ansatz setzt sich entschieden von dem Vorgehen der Disziplinarkommissionen und der Untersuchungsrichter ab, und zwar insofern, als es ihm nicht darum geht, Sanktionen zu begründen, sondern zu einem besseren Verständnis beizutragen. Der von Polizisten hin und wieder geäußerten Feststellung, dass eine ordentliche Ohrfeige, wie sie früher bedenkenlos war – und wie man sie vermutlich auch heute noch häufiger austeilt als angenommen –, für einen Jugendlichen, der eine geringfügige Straftat begangen hat, eine pädagogische Wirkung habe, sollte wohl eine Überlegung gegenübergestellt werden, welche die Polizeibeamten selbst nicht anstellen, dass nämlich weitaus demütigendere Praktiken und weitaus dauerhaftere Verletzungen existieren, die keinen Einsatz körperlicher Gewalt voraussetzen.

Die Gegenüberstellung dieser beiden Behauptungen lässt durchaus annehmen, man könnte über die behördliche und juristische Definition hinausgehen, die dazu anhält, die Ohrfeige zumindest dem Prinzip nach zu verurteilen, die Demütigung jedoch in aller Regel außen vor zu lassen. In diesem Fall würde die Forschung nämlich damit beginnen, sich nicht danach zu richten, wie Polizei und Justiz diese Handlungen bewerten, sondern nach der Art und Weise, wie die Öffentlichkeit sie erlebt. Mit diesem Perspektivenwechsel würde man sich im Übrigen nicht auf die Erfahrung jener Menschen beschränken, die mit der Ordnungsmacht zu tun bekommen, sondern stattdessen die umfassende Perspektive der Gesellschaft einnehmen, das heißt die Art und Weise, wie diese der Polizei im Namen des Gesetzes die Macht überträgt, bestimmte Personen außergesetzlich zu behandeln oder genauer, sie unter Wahrung der Menschenrechte einer Sonderbehandlung zu unterziehen. Durch die Zurückweisung sowohl des Reduktionismus der Disziplinarinstanz und der Gerichtsbarkeit (die Gewalttätigkeit auf den exzessiven Gebrauch physischer Gewalt beschränkt) als auch der Nachahmung durch die Sozialwissenschaften (die nach der offiziellen Definition der Polizisten und Richter gehen, um diese zu untersuchen) würde man einer kritischen Lesart von Gewalt nach dem Verständnis Walter Benjamins den Weg bereiten: „Die Aufgabe einer Kritik der Gewalt lässt sich als die Darstellung ihres Verhältnisses zu Recht und Gerechtigkeit umschreiben. Denn zur Gewalt im prägnanten Sinne des Wortes wird eine wie immer wirksame Ursache erst dann, wenn sie in sittliche Verhältnisse eingreift.“[10] Es sind also die „sittlich-moralischen Verhältnisse“, die wir zu untersuchen haben.

In einem ersten Analyseschritt kann physische oder körperliche Gewalt (violence physique) ohne Weiteres von psychischer Gewalt (violence morale) unterschieden werden. Üblicherweise finden wir auf der einen Seite die Ohrfeige und auf der anderen die Demütigung: Im ersten Fall ist nur der Körper betroffen, im zweiten die Person als Ganzes. In der Praxis ist die Unterscheidung jedoch weniger offensichtlich, als es zunächst den Anschein hat. Die Ohnmacht angesichts exzessiver Gewaltanwendung beinhaltet bereits eine psychische Komponente der Erniedrigung, etwa im Fall des ungerechtfertigten Anlegens von Handschellen. Die Kränkung durch Schikanen und Beleidigungen hat im Gegenzug ebenfalls körperliche Folgen, insbesondere bei Leibesvisitationen bis auf den nackten Körper während des Polizeigewahrsams. Nancy Scheper-Hughes und Philippe Bourgois schreiben: „Gewalt kann nie einzig in körperlichen Begriffen – Kraft, Aggression, Schmerz – gefasst werden. Sie umfasst ebenfalls eine Beeinträchtigung der Person und ihrer Würde sowie des Selbstwertgefühls des Opfers. Die sozialen und kulturellen Dimensionen von Gewalt verleihen dieser ihre Macht und ihre Bedeutung.“[11] Gewalt geht also stets über das hinaus, was sie zu sein scheint. Die obige Unterscheidung ist jedoch insofern sinnvoll, als sie dasjenige abzubilden erlaubt, was normalerweise unsichtbar bleibt. Meist wird ausschließlich die physische Gewalt von Disziplinarkommissionen und Untersuchungsrichtern berücksichtigt. Psychische Gewalt wird hingegen ignoriert. In ihrer Alltäglichkeit bleibt sie unsichtbar, weil sie keine Spuren hinterlässt – jedenfalls keine körperlichen –, keinen Anlass für Strafanzeigen darstellt und nicht bestraft wird. Es handelt sich jedoch sehr wohl um Gewalt insofern, als diese Praktiken die Integrität und die Würde der Menschen verletzen, aber diese Form von Gewalt wird niemals als solche erfasst.[12] Da sie nicht benannt wird, existiert sie gesellschaftlich nicht. Da sie nicht anerkannt wird, bildet sie auch keinen Gegenstand der Rechtsprechung. Dabei ist es diese namenlose und ungesühnte Gewalt, die den Alltag der Jugendlichen und (jungen) Erwachsenen prägt, die in den Hochhaussiedlungen (cités) leben.

Das Verhältnis zwischen dem, was wir also vorläufig als physische Gewalt auf der einen und psychische Gewalt auf der anderen Seite bezeichnen können, ist historisch insofern entstanden, als die Befriedung der modernen Gesellschaften mit der Missbilligung und zunehmenden Bestrafung körperlicher Gewalt einherging und somit der Ausübung psychischer Gewalt, die weniger leicht auszumachen ist und seltener bestraft wird, den Weg ebnete. Letztere wurde so zu einer Art Ersatzgewalt, so wie man es von Ersatzdrogen kennt, die ähnliche Wirkungen erzeugen, ohne jedoch gesetzliche Konsequenzen zu haben. Eine solche Entwicklung ist in den modernen Gesellschaften relativ weit fortgeschritten im Fall der Folter, deren brutalste Formen zunehmend psychologischen Techniken weichen, die weit zerstörerischer sind, sowie der Bestrafungsformen, die nicht mehr auf körperlicher Züchtigung beruhen, sondern auf Inhaftierungs- und Umerziehungsmaßnahmen.[13] Sie betrifft jedoch darüber hinaus auch die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche, in denen Gewalt stattfindet. Freilich geht es hier nicht darum, das Fortbestehen physischer Gewalt zu leugnen, sondern darum, eine Verschiebung zugunsten psychischer Gewalt zu behaupten, deren „Preis-Leistungs-Verhältnis“ für denjenigen, der sie ausübt, wesentlich vorteilhafter ist. Es liegt nahe, dass die Auswirkungen psychischer Gewalt trotz garantierter Straffreiheit schwerwiegender und nachhaltiger sind. Denn während es unter Umständen möglich ist, zugefügte Schläge anhand ihrer körperlichen Auswirkungen nachzuweisen, so ist es weitaus schwieriger zu beweisen, dass erniedrigende oder psychisch verletzende Handlungen verübt wurden: Eine Kommissarin bestätigte mir, dass man bei Verdacht auf Gewalttätigkeiten gegenüber einer festgenommenen Person den Arzt rufe (was nur bedingt zutraf, wie ich feststellen konnte), dieser jedoch körperliche Spuren bescheinige und keine psychischen.

Während meiner Feldforschungen [in der BAC eines Pariser Vorortes, Anm. d. Red.] wurde ich tatsächlich nur selten Zeuge der Ausübung körperlicher Gewalt.[14] Das hat mehrere Ursachen. Zum einen sind solche Fälle sicher nicht allzu häufig, was einen Polizeihauptmeister und Leiter einer Polizeiwache im Übrigen sogar noch erstaunte: „Wenn man sieht, was da läuft, wie man uns anspuckt, Steine nach uns schmeißt und uns beschimpft, wundert es mich, dass es nicht öfter zu Entgleisungen und Fehlverhalten kommt.“ Zum anderen ließ meine Anwesenheit sie noch unwahrscheinlicher werden, und es gab Polizisten, die mir mehrfach mit einem zwinkernden Auge zu verstehen gaben, dass die Betroffenen anderenfalls „eine üble Viertelstunde“ durchgemacht hätten. Wenn dennoch jemand geschlagen wurde, geschah dies außerhalb meines Blickfelds.

So wurden einmal drei junge Männer aufs Revier gebracht, die nach einer Anzeige wegen einer Fahrt im Geländewagen durch einen Park in der Umgebung festgenommen worden waren – zwei Weiße und ein Araber. Letzteren knöpfte sich einer der Polizisten vor, von dem ich wiederholt rassistische und fremdenfeindliche Sprüche gehört hatte. Nachdem er ihn während der Festnahme verbal eingeschüchtert und schließlich sein Schuldeingeständnis erhalten hatte, brachte er ihn in einen leeren Raum des Kommissariats, um ihn zu zwingen, seine weiterhin nicht geständigen Kumpel zu verraten. Sein Kollege folgte ihm und schloss die Tür hinter sich, sodass ich sie nicht begleiten konnte. Vom Flur aus hörte ich den ersten lauthals eine Opernarie schmettern, während der zweite seine Fragen brüllte, wobei dieser Lärm trotz allem das schallende Geräusch der Ohrfeigen und den dumpfen Klang der Schläge nicht gänzlich übertönte.[15] Die beiden Polizisten meinten, ihn misshandeln zu können, nicht nur weil er vom Verdächtigen zum Schuldigen geworden war, sondern auch weil sie aus seiner Akte von früheren Straftaten erfahren hatten, was eine Beschwerde wenig wahrscheinlich und auf jeden Fall wenig glaubwürdig machte. Als zwei Minuten später alle drei aus dem Zimmer kamen, wurde mir klar, dass der Junge, dessen Rötungen im Gesicht die erlittenen Misshandlungen verrieten, seine Freunde nicht beschuldigt hatte. Bei der US-amerikanischen Polizei hat dieses Vorgehen einen Namen: third degree – eine Methode, die darin besteht, von einer in Gewahrsam genommenen Person durch körperliche oder psychische Gewalt ein Geständnis zu erzwingen.[16] Einige wenige Male wurde ich aus der Ferne Zeuge dieser Methode, und zwar seltener im Kommissariat als auf der Straße, bei der Festnahme oder im Streifenwagen auf der Fahrt zur Dienststelle. Ähnlich wie es sich für den Fall der Folter herausgestellt hat, fiel es mir ziemlich schwer zu unterscheiden, was aus dem Wunsch nach Informationen herrührte und was eher einer erzieherischen Maßnahme oder gar einer Form von Rache glich.

Solche brutalen Handlungen kamen mit Sicherheit häufiger vor, als ich es mit eigenen Augen bezeugen konnte. Zumindest schienen die Jugendlichen sie als etwas Alltägliches zu betrachten. Bei einer Umfrage, die ich unter den Schülern einer Klasse im Förderschulbereich einer Sekundarschule in der Vorstadt durchgeführt habe, wussten alle Jungen von ähnlichen Vorfällen zu berichten. Ein Junge maghrebinischer Herkunft erinnerte sich beispielsweise an eine Situation, als die Polizei aufgrund eines Anrufs von Nachbarn, die sich durch Motorradlärm gestört fühlten, in seine Wohnsiedlung gekommen war. Die Beamten, die mit mehreren Streifenwagen angerückt waren, hatten eine Gruppe Jugendlicher ausfindig gemacht, die um ein paar Motorradfahrer herumsaßen. Beim Anblick der Ordnungsmacht waren die Jugendlichen davongestürmt, woraufhin die Polizisten die Verfolgung aufgenommen und dabei ein Gummigeschoss eingesetzt hatten, ohne die Davonlaufenden zu treffen: „Wir saßen da, sehen sie, stehen auf, rennen und: Bamm! Schon ging’s los. Ich war überrascht, dass sie eine Waffe benutzt haben.“ Der Junge hatte Zeit gehabt, sich mit einem Kumpel auf einem Parkplatz zu verstecken, aber sein Zwillingsbruder hatte eine andere Richtung eingeschlagen und war geschnappt worden. Der Junge fügte hinzu: „Sie haben ihn geschlagen und dann wieder laufen gelassen. Das heißt, sie haben ihn mit dem Schlagstock verdroschen und ihm eine reingehauen, er war ganz rot, als ich ihn wiedergesehen habe. Er meinte zu mir: ,Sie haben mich nur geschlagen und mich nicht mal mitgenommen.‘ Er war überrascht.“ Die Praxis der körperlichen Züchtigung, von der die Polizisten oft mit einer gewissen Nostalgie sprechen, schien vor dem Hintergrund der Erzählungen der Schüler sehr aktuell, wobei es – wie im geschilderten Fall – meistens so war, dass der Langsamste oder einer, der einfach besonders viel Pech hatte, für seine schuldigen Kameraden herhalten musste.

Während Szenen brutalen Vorgehens bei meinen Beobachtungen also die Ausnahme bildeten, waren Szenen der Demütigung gang und gäbe. Sie spielten sich täglich ab, auf der Straße bei Personalienüberprüfungen und bei Leibesvisitationen oder beim ungerechtfertigten Anlegen von Handschellen, im Kommissariat während der Vernehmung oder in der Arrestzelle und sogar in dem Fahrzeug, in dem die Festgenommenen wieder zurückgebracht wurden. Es gab ein ganzes Spektrum an Spielarten, das von verletzenden Bemerkungen bis zu rassistischen Beschimpfungen, von offen zur Schau gestellter Verachtung bis zur gezielten Bloßstellung vor den Nachbarn reichte. Jedes Mal ging es darum, ein Verhältnis von Erniedrigung und Kränkung zu schaffen, während die Betroffenen dazu verurteilt waren, sich ohne Widerrede drangsalieren zu lassen, um eine Spirale aus Beschimpfungen und Auflehnung zu verhindern. Die Betroffenen hielten nicht zuletzt deshalb still, weil die Delikte, die sie in Konflikt mit der Polizei gebracht hatten, vergleichsweise harmlos oder nicht nachweisbar waren oder nicht einmal stattgefunden hatten, sodass Aussicht auf eine baldige Freilassung bestand, die durch eine unpassende Reaktion gefährdet gewesen wäre. Dass man sie auch unter solchen Umständen, in denen ihre Unschuld als wahrscheinlich oder im Fall von routinemäßigen Personenkontrollen gar als erwiesen gelten konnte, derart behandelte, ist schon für sich genommen ein deutliches Zeichen für die Veralltäglichung dieser Form von Gewalt.

Die Aggressivität kam häufig in Form von mutmaßlich verletzenden Gesprächsthemen zum Ausdruck, insbesondere mit Blick auf die Arbeitssituation, um bei den Betroffenen Schuldgefühle zu erzeugen und sie zugleich abzuwerten. Zwei Beispiele: Ein Jugendlicher nordafrikanischer Herkunft wird verdächtigt, an einer Schlägerei in seinem Viertel beteiligt gewesen zu sein. Während seiner Festnahme auf der Straße fragt ihn ein Polizist: „Du arbeitest nicht? – Nein, ich bekomm’ Arbeitslosengeld, Monsieur. – Klar, du hängst hier auf unsere Kosten rum. – Aber noch nicht lange, erst vier Monate, Monsieur. Einige sind viel länger arbeitslos, ich kenn’ einen, bei dem sind’s 26 Monate. – Na eben, du wirst auch warten, bis es 26 Monate sind. – Nein, Monsieur, aber wenn Sie glauben, dass es als Araber leicht ist, einen Job zu finden. – Wenn man sucht, findet man auch was. Erzähl keinen Blödsinn!“ Ein Mann, der aus dem subsaharischen Afrika stammt, wurde festgenommen, weil er ein Fahrzeug ohne gültige Versicherung fuhr. Auf dem Rücksitz des Autos, in dem er aufs Revier gebracht wird, fragt ihn ein Beamter: „Hattest du schon mal Probleme mit der Polizei? – Nein. – Pass bloß auf. Wir werden das eh überprüfen (Stille). Wie alt bist du? – Achtundzwanzig. – Arbeitest du? – Nein, ich habe keine Arbeit gefunden. – Bist du verheiratet? – Nein, noch nicht. – (immer verächtlicher:) Merkst du was? Du bist achtundzwanzig, in deinem Alter müsstest du einen Job haben, eine Familie, ein Haus, in Urlaub fahren, ein normales Leben haben. Guck dir doch an, was du aus deinem Leben machst. Versaut hast du’s, dein Leben!“ Da es sich im ersten Fall um einen Angehörigen der arabischen Minderheit und im zweiten Fall um einen afrikanischen Einwanderer handelte und Untersuchungen belegen, dass diese beiden Gruppen auf dem Arbeitsmarkt erheblichen Diskriminierungen ausgesetzt sind und dass die Arbeitslosigkeit zwei- bis dreimal so hoch ist wie unter den Franzosen europäischer Herkunft, konnten derartige Bemerkungen ihr Ziel kaum verfehlen, die Betroffenen in ihrer ohnehin schon ungerechten Lage auch noch mit Herabsetzung und Demütigung zu strafen.

Mitunter nahm die Schikane noch härtere Formen an. Ich erinnere mich noch schmerzlich an einen Jugendlichen maghrebinischer Herkunft, der in einer Zelle mit Wänden aus Plexiglas eingesperrt war, deren Insassen somit von allen Polizisten, die in der Zentrale vorbeikamen, gesehen werden konnten. Ich sehe heute noch sein verzweifeltes Gesicht und höre seinen gellenden Schrei: „Ich geh’ nicht fünf Monate ins Gefängnis! Beim Leben meiner Mutter, ich geh’ da nicht wieder hin, ins Gefängnis!“ Um ihn herum gingen die Polizisten ihren Beschäftigungen nach, die einen blieben gleichgültig, andere lachten und beobachteten von Weitem wieder andere, die näher herangingen, um ihn zu provozieren. Einige schienen irgendwann wütend zu werden. Der junge Mann setzte seine Litaneien fort: „Ich wurde an der Ampel angehalten, ich hab’ nix gemacht, sie halten mich fest und sagen, ich muss ins Gefängnis. Beim Leben meiner Mutter, ich mach’ die fünf Monate nich’! Ich will nicht wieder ins Gefängnis!“ Er gehörte tatsächlich zu jenen, bei denen sich Haft- und Bewährungsstrafen gehäuft hatten, die wiederholt inhaftiert worden waren, die glaubten, ihre Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben und ein normales Leben anfangen zu können, da sie für ihre Fehler bezahlt hätten, und die dann bei einer ganz normalen Kontrolle erfahren, dass die Vollstreckung einer alten Haftstrafe ansteht und sie dadurch in die Gefängniswelt zurückgeworfen werden.[17] Im vorliegenden Fall handelte es sich jedoch nicht um eine zufällige Ausweiskontrolle. Die Polizisten verfügten über eine Liste mit gesuchten Personen und überprüften die Personalien des jungen Mannes, nachdem sie ihn auf einer Kreuzung an der Ampel im Auto erkannt hatten. In seiner durchsichtigen Zelle, in der er schreiend gegen die Scheiben schlug, sah er aus wie ein Tier im Käfig, das der Willkür und den Provokationen der Polizisten ausgeliefert war. Irgendwann betrat der Leiter der Brigade Anti-Criminalité (Spezialeinheit der Police Nationale Française, Anm. d. Ü.) den Raum und baute sich wortlos vor ihm auf, als wolle er ihn verspotten. Der Junge protestierte erneut. Der Polizist betrachtete ihn wenige Schritte entfernt, schweigend und von oben herab, und stachelte ihn mit ironischen Kommentaren an, sobald er sich zu beruhigen schien. Als der Leiter nach einigen Minuten wieder ging, übernahm einer seiner Kollegen und versuchte seinerseits die Verzweiflung des jungen Mannes anzufachen, worauf dieser allerdings kaum reagierte. Verärgert ging der Polizist daraufhin mit einer bedrohlichen Geste auf ihn zu, ebenfalls ohne Erfolg. Später sagte er dann zu mir mit fast bedauerndem Unterton: „Ich war kurz davor, ihn zu schlagen.“ Sein Kollege wandte sich zu mir und ergänzte: „Wenn Sie nicht dagewesen wären…“ Er sprach den Satz nicht zu Ende. Im Grunde hätte, anders als die Polizisten dachten, der körperliche Schmerz dem psychischen kaum noch etwas hinzufügen können. Letzterer hatte längst seinen Höhepunkt erreicht, was vermutlich auch der Grund dafür war, dass der junge Mann die feindselige Präsenz des Polizisten gar nicht zu bemerken schien. Allein durch die Anstachelung mittels Mimik, Gelächter und Empörung erreichten die Polizisten zweifelsohne die von ihnen beabsichtigte Wirkung der Gewalt. Es war eine Gewalt, die über das gebrochene Selbst des Verurteilten hinausging und die für die Polizeiarbeit eine grundlegendere Bedeutung zu haben schien. Im Grunde kannten sie diesen jungen Mann kaum. Er war nicht einmal einer derjenigen, bei denen sie der Gedanke daran, dass sie die Bewährung eines Tages widerrufen könnten, besonders gefreut hätte. Doch die Haftstrafe, die er absitzen sollte, und die Verzweiflung, die diese Aussicht in ihm hervorrief, reichten offensichtlich nicht aus, um sie zufriedenzustellen. In dieser Schikane fanden sie eine Möglichkeit, noch einen draufzusetzen.

Im Gegensatz zur Gewalt, die zwischen Einzelpersonen oder Gruppen zu beobachten ist – seien es Schlägereien auf dem Schulhof, Kämpfe zwischen verfeindeten Gangs oder internationale Konflikte –, zeichnet sich die durch die Polizei ausgeübte Gewalt, ob körperlich oder psychisch, im Allgemeinen durch ein radikales und institutionalisiertes Ungleichgewicht aus: Auf der einen Seite stehen Personen, die nicht nur das legitime Gewaltmonopol hinter sich wissen, sondern unter Berücksichtigung der Umstände auch einzig zu dessen tatsächlicher Anwendung befugt sind; auf der anderen Seite stehen in zweifacher Hinsicht Gefangene, durch den physischen Zwang, den sie erfahren, wie auch durch die latente Bedrohung, der sie ausgesetzt sind für den Fall, dass sie auf die dumme Idee kommen sollten zu widersprechen. Ob eingesperrt, mit Handschellen gefesselt oder bloß von Polizisten umstellt – derjenige, welcher der polizeilichen Macht ausgesetzt ist, befindet sich in einer strukturellen Unterlegenheit. Er hat sich zu unterwerfen, da eine Erwiderung oder ein mögliches Aufbegehren nur zu einer noch stärkeren Unterwerfung führen würden. Die Gewalt ist somit fast immer gänzlich einseitig. Darüber hinaus aber ist sie auch zielgerichtet. Sie wird nicht bei allen eingesetzt. Sie gilt beinahe ausschließlich Personen männlichen Geschlechts, hauptsächlich Jugendlichen aus sozial schwachen Milieus, die in benachteiligten Vierteln wohnen, meistens einen Migrationshintergrund besitzen oder einer Minderheit angehören. Nur in Ausnahmefällen sind Frauen, Ältere, Angehörige der Mittelschicht, Leute aus besseren Wohnlagen oder Personen mit europäischem Aussehen betroffen.

Gleichwohl muss man der Definition der von polizeilicher Gewaltausübung betroffenen Bevölkerung noch ein weiteres Element hinzufügen, wie die eingangs angeführten Beispiele belegen. Es geht um die Überzeugung, einen Schuldigen vor sich zu haben, sowohl bezüglich der Tat, auf die sich die Festnahme gründet, als auch aufgrund zuvor begangener Straftaten, die möglicherweise in der Datenbank der registrierten Straftaten (Système de Traitement des Infractions Constatées, STIC) zu finden waren.[18] In der moralischen Arbeit[19] der Diskreditierung, die stattfindet, um die Gewalt nicht nur möglich, sondern sogar wünschenswert zu machen, ist die Anerkennung der begangenen Straftat sowie der kriminellen Vergangenheit aus der Perspektive der Polizisten ein wesentliches Element. Wer ein „Stück Scheiße“ oder eine „Schwuchtel“ ist – so hörte ich sie zuweilen reden –, kann auch als solche(s) behandelt werden. Wie jedoch deutlich wurde, ist das Unterscheidungsvermögen der Polizeibeamten häufig nur schwach ausgeprägt, und jeder Jugendliche aus den Vorstädten wird, bis zum Beweis des Gegenteils, tendenziell in eine Schublade von „Bastarden“ gesteckt und der Behandlung ausgesetzt, die dafür vorgesehen ist.

Ein beunruhigender Aspekt in den verschiedenen Berichten oder Beobachtungen von Gewalt sind die Emotionen, die damit einhergehen. Der Genuss, der beim Schlagen oder Demütigen eines wehrlosen Menschen empfunden wird, ist kennzeichnend für die beteiligten Beamten (was aber freilich nicht auf alle zutrifft) und zugleich ein Phänomen, das es zu verstehen gilt (und das weit über den Bereich der polizeilichen Ordnungsmacht hinausgeht). In seiner philosophischen Untersuchung exzessiver Gewaltanwendung betont Étienne Balibar, dass man den Begriffen Gewalt und Macht noch einen dritten hinzufügen müsse, nämlich den der Grausamkeit: „[D]er Phänomenologie der Gewalt [muss] nicht nur deren inneres Verhältnis zur Macht einschließen […], sondern auch ihr Verhältnis zur Grausamkeit. Und das ist nicht dasselbe.“[20] Aus soziologischer – und wahrscheinlich auch politischer – Perspektive richtet sich das Forschungsinteresse jedoch nicht auf die psychischen oder anthropologischen Grundlagen des beim Schlagen oder Demütigen eines Gefangenen empfundenen Genusses, sondern auf die Frage, wodurch dies möglich und akzeptabel wird. Es geht nicht darum, moralische Gemeinplätze über den Gewalttrieb zu äußern, sondern darum zu ergründen, wie solche Taten geschehen können, ohne Missbilligung hervorzurufen. Grausamkeit wird durch die Vorstellung von einem grundlegend andersartigen Feind möglich, die sich die Polizei von ihrem Gegenüber macht. Feindschaft reicht da nicht aus, es bedarf zudem einer radikalen Fremdheitskonstruktion: der Andere darf nicht als eine Variante des eigenen Selbst erscheinen. Was die Grausamkeit akzeptabel macht, ist die Konstruktion des Gegenübers als Schuldiger, der verdient, was ihm widerfährt. Die Gewalt muss in dem Bild, das man sich von der Person macht, die sie erleidet, ein Mindestmaß an Rechtfertigung finden können; man lässt den Anderen für seine Tat bezahlen. Das macht man sich auch in der Politik zunutze. Indem die Jugendlichen als „Wilde“ (sauvageons) oder als „Gesindel“ (racaille) beschrieben werden, tragen die Innenminister dazu bei, dass Gewalt möglich und, selbst wenn sie tödliche Folgen haben sollte, akzeptabel wird, indem den Opfern eine Schuld unterstellt wird, auch wenn sie unschuldig sind. Somit hat die Entstehung und Legitimierung von Gewalt eine politische Bedeutung, die über die Polizeiarbeit selbst hinausgeht.

Die Analyse, die ich hier anbiete, unterscheidet sich von jener Herangehensweise, mit der sich die Sozialwissenschaften diesen Fragen üblicherweise nähern. Als Reaktion auf einen Vortrag, den ich auf der Grundlage meiner Untersuchung in einem Forschungsseminar zum Thema Gewalt gehalten hatte, rief eine Soziologin, die nicht über die vorgetragenen Fakten, sondern über meine Lesart dieser Fakten entrüstet war: „Es werden auf den Polizeirevieren in Frankreich aber nicht jeden Tag Menschen umgebracht, es gibt durchaus einige, die lebend wieder rauskommen!“ Ich möchte klarstellen, dass ich nie einen von Polizisten begangenen Mord erwähnt hatte, da ich mich stets an meine ethnographischen Beobachtungen hielt sowie an mein Vorhaben, das Alltägliche der Polizeipraktiken zu beschreiben. Die Bemerkung der Frau und die Emotion, die dabei mitschwang, irritierten mich. Kann man sich mit der Erkenntnis begnügen, dass auf den Polizeirevieren nicht jeden Tag getötet wird? Soll man den Begriff der Gewalt auf ihre extremen körperlichen Ausprägungen oder gar nur auf Mord reduzieren? Die Reaktion auf meine Analyse ist im Kontext eines bedeutenden Moments für die Sozialwissenschaften in Frankreich zu lesen, in dem sich eine Wende von der kritischen Soziologie hin zu einer Soziologie der Kritik vollzog,[21] in dem die Anprangerung einer Interpretation der Anprangerung Platz machte, in dem alles, was die Neutralität des Forschers infrage stellen konnte, mit einem gewissen Misstrauen beäugt wurde. Man war der Ansicht, dass die Sozialwissenschaften zwischen Engagement und Distanzierung im Sinne von Norbert Elias Ersteres zu vermeiden und Zweites anzustreben hätten.[22] In Anbetracht dessen, dass es sich um die Polizei handelte, stellte dieser Balanceakt eine besondere Herausforderung dar: Die reine Anprangerung der Polizeigewalt wäre weniger wert als die Arbeit der Menschenrechtsorganisationen, da der Mehrwert der Forschung wegfiele; die bloße Rekonstruktion der Grammatik der Anprangerung käme dagegen einem Verzicht auf das Nachdenken über die Bedeutung der Gewalt gleich.[23] Im ersten Fall schien die wissenschaftliche Autonomie gegenüber dem politischen Handeln gefährdet; im zweiten Fall schien die wissenschaftliche Arbeit ihres politischen Sinnes beraubt.

Der Grat zwischen diesen beiden Positionen ist schmal. Ich halte ihn dennoch für gangbar, vorausgesetzt, man einigt sich auf zwei Prämissen. Zum einen muss sich die Analyse auf eine ethnographische Untersuchung stützen. Das regelmäßige Aufsuchen der Orte und Personen über einen langen Zeitraum ermöglicht die Einbettung der beobachteten Szenen in ihren Kontext, wohl wissend, dass die Anwesenheit des Beobachters nicht ohne Einfluss auf das Beobachtete bleibt und vor allem die Wahrscheinlichkeit erheblich verringert, dass es zu gewalttätigen Handlungen kommt.[24] Zum anderen muss die Analyse einen Interpretationsrahmen liefern. Die Interaktion zwischen den Polizisten und ihrem Gegenüber reicht nicht aus, um die Gewaltformen verständlich zu machen, wenn man die Bedingungen, unter denen diese möglich werden, und insbesondere die Beziehung zur Macht und die Rechtfertigung der Grausamkeit außer Acht lässt.[25]

Dass die allermeisten Verdächtigen das Revier lebend wieder verlassen, ist zwar beruhigend, doch diese Tatsache muss uns nicht notwendigerweise von der unsichtbaren Gewalt ablenken, die dort zum Alltag gehört. Dass die Mehrheit der Polizisten die meiste Zeit keinen Machtmissbrauch betreibt, ist ebenfalls bemerkenswert, doch es erspart uns nicht automatisch, über diejenigen nachzudenken, die brutal werden oder andere misshandeln, sowie über diejenigen, die diese Szenen beobachten oder davon wissen, ohne zu reagieren. In gewisser Hinsicht hatte meine Kollegin Recht: Wenn der anthropologische Blick aus einer Fähigkeit zum Staunen herrührt, so war ich noch bereit, mich über die Alltäglichkeit der Gewalt zu wundern, mit der die Polizei bestimmte Bevölkerungsgruppen behandelt.

Endnoten

Anmerkung

*Auszug aus Kapitel 4 (Violences) von Fassin, Didier (2011): La force de l‘ordre. Une anthropologie de la police des quartiers. Paris: Seuil. Übersetzt von Soziotext.

Autor_innen

Didier Fassin; Anthropologe und Soziologe

dfassin@ias.edu

Literatur

Balibar, Étienne (2006): Die Gewalt – Grausamkeit und Idealität. In: ders., Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität. Hamburg: Hamburger Edition, 259-280.

Benjamin, Walter (1965): Zur Kritik der Gewalt. In: ders., Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 29-65.

Bittner, Egon (1970): The Functions of the Police in Modern Society. Cambridge/Oelgeschlager: Gunn & Hain Publishers.

Brodeur, Jean-Paul (1994): Police et coercition. In: Revue française de sociologie 35, 457-485.

Elias, Norbert (1976): Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 1 u. 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Elias, Norbert (1983): Engagement und Distanzierung. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Héritier, Françoise (1996): Réflexions pour nourrir la réflexion. In: dies. (Hg.), De la violence I. Paris: Editions Odile Jacob, 11-53.

IGSJ (2009): Evaluation du nombre de peines d’emprisonnement ferme en attente d‘exécution. Paris: Französisches Justizministerium.

Jobard, Fabien (2002): Bavures policières ? La force publique et ses usages. Paris: La Découverte.

Linhardt, Dominique / Bellaing de, Cédric Moreau (2005): Légitime violence? Enquêtes sur la réalité de l‘État démocratique. In: Revue française de science politique 55 (2), 269-298.

Nelson, Jill (2000): Police Brutality. An Anthology (Einleitung). New York: W.W. Norton & Company.

Rejali, Darius (2007): Torture and Democracy. Princeton: Princeton University Press.

Scheper-Hughes, Nancy / Bourgois, Philippe (2004): Making sense of violence. In: dies. (Hg.), Violence in War and Peace. An Anthology. Malden: Blackwell Publishers, 1-31.

Skolnick, Jerome / Fyfe, James (1993): Above the Law. Police and the Excessive Use of Force. New York: The Free Press.

Weber, Max (1988 [1921]): Politik als Beruf. In: Gesammelte Politische Schriften. Tübingen: J.C.B. Mohr, 505-560.

Westley, William (1970 [1950]): Violence and the Police. A Sociological Study of Law, Custom and Morality. Cambridge: MIT Press.

Wihtol de Wenden, Catherine / Body-Gendrot, Sophie (2003): Police et discriminations raciales: le tabou français. Paris: Editions de l‘Atelier.

Worden, Robert (1996): The causes of police brutality. Theory and evidence on police use of force. In: William Geller / Toch, Hans (Hg.), Police Violence. Understanding and Controlling Police Abuse of Force. New Haven: Yale University Press, 23-51.