Eine polizeiliche ‚Moral‘ der Demütigung. Nebeneffekte der ‚Kriminalitätsbekämpfung‘ in einem französischen Vorort

Mélina Germes

Im Anschluss an eine langfristige ethnographische Beobachtung der Arbeit einer Brigade Anti-Criminalité (Einheit zur Kriminalitätsbekämpfung; im Folgenden: BAC) in einem Pariser Vorort zwischen 2005 und 2007 hat der Anthropologe Didier Fassin im Jahr 2011 das Buch La force de l‘ordre. Une anthropologie de la police des quartiers veröffentlicht, das zu einem Meilenstein in der französischen Polizeiforschung geworden ist und einen wichtigen Beitrag auch zur öffentlichen Debatte geleistet hat. Diese Debatte um das Polizieren der ,Viertel‘[1] beschäftigt sich mit den diskursiven, organisatorischen und alltagsweltlichen Hintergründen der Polizeiarbeitum wiederholte Identitätskontrollen, ethnischen Diskriminierung und exzessiver Gewaltanwendung zu beschreiben und einzuordnen. Ziel der Untersuchung Fassins in Kontext dieser Debatte ist es, die Polizeiarbeit in den ,Vierteln‘ zu begleiten, zu hinterfragen sowie zu erklären, was diese Polizeiarbeit über die französische Gesellschaft aussagt. Der für dieses Heft von s u b \ u r b a n übersetzte Auszug aus dem vierten Kapitel seines Buches reflektiert den Begriff von ,Gewalt‘ (zu weiteren Begriffserläuterung vgl. den Textauszug von Fassin) in Bezug auf die Polizeiarbeit und unterscheidet zwischen physischer, körperlicher Gewalt und unsichtbaren Formen von psychischer und verbaler Gewalt.

Als wichtiger Vertreter der französischsprachigen anthropologie politique et morale hat sich Didier Fassin bisher vor allem Fragestellungen um die Postkolonialität und den Staat interessiert, die oft mit Rassifizierung, Diskriminierung und Gewalt zu tun haben. Sein Ansatz verknüpft ethnographische Methoden mit kritischen Distanzierung. Nachdem er sich mit Fragen der Gesundheit, des Gefängnisses und der Ungleichheiten beschäftigt hat, widmet er sich in dieser Arbeit der Polizei. Er sieht sich selbst nicht als Polizeiforscher, da diese Positionierung seiner Meinung nach das Risiko birgt, eine Befangenheit gegenüber der Institution zu entwickeln, die der Notwendigkeit entgegensteht, Zugang zum beforschten Feld dauerhaft gewährt zu bekommen (vgl. Monjardet 2005).

1. Die ,moralische Ökonomie‘ als anthropologisches Konzept

Der Autor möchte die Polizei ethnographisch und kritisch erforschen. Fassin schlägt einen mittleren Weg zwischen Kritik „unbewusster“ Machtverhältnisse und „einfacher Wiedergabe der Wahrheiten“ der Akteur_innen vor, der über die Opposition von kritischer Soziologie (nach Bourdieu) und Soziologie der Kritik (nach Boltanski) hinausgeht. Seine Positionierung balanciert auf der Schwelle zwischen einer ethnographischen Nähe, dem Verständnis für die Beforschten und ihrer Moral und gleichzeitig eine anthropologische Distanz, die den historischen und strukturellen Rahmen der Handlungen reflektiert (Fassin 2011).

Zentral für seinen Ansatz ist das Konzept der ,moralischen Ökonomie‘. In Anlehnung an E. P. Thompson und weitere daran anschließende Arbeiten hat er ein Konzept erarbeitet, das es ermöglicht, die Konstruiertheit (und daher Situiertheit) der Gefühle und Werte jeder gesellschaftlichen Gruppe, seien es ,Unterdrückte‘ oder die ,Herrschenden‘, nicht normativ zu erfassen. Mit moralischer Ökonomie meint er „die Produktion, die Verteilung, die Zirkulation und die Nutzung von moralischen Gefühlen, von Emotionen und Werten, von Normen und Pflichten“ (Fassin 2009: 1257; Übers. d. A.). In Bezug auf die Polizeiarbeit geht es um die ,moralische Ökonomie‘ einer besonderen Berufsgruppe unr ihres Agierens in den Arbeitervierteln. Dieses Konzept erlaubt es, „[polizeiliche] Handlungen, die viele als deviant, pervers oder ganz einfach illegitim oder illegal beschreiben würden, in den Augen der Ausführenden [der Polizist_innen] mit einer tragfähigen Begründung zu versehen“ (Fassin 2013a: 106).

Didier Fassin begründet seine Untersuchung damit, dass es an ethnographischen Beobachtungen und Analysen der Interaktion von Polizist_innen und Bewohner_innen in sozial benachteiligten Stadtvierteln mangele. Mit einer ethnographischen, sogenannte „nicht teilnehmenden“ Beobachtung der Arbeit einer Pariser BAC möchte den Autor einen anderen Zugang zu Polizeiarbeit in den Vierteln anbieten. Mit diesem soll eine Kluft in der französischen Gesellschaft überbrückt werden, nämlich die zwischen den Lebenserfahrungen von Menschen aus den ‚Vierteln‘ und denen der Mehrheitsgesellschaft. Diese Kluft ist Fassin zufolge so groß, dass die Mehrheitsgesellschaft sie kaum wahrnimmt (Fassin 2013b). Es bedarf daher, um überhaupt eine Verständigung möglich zu machen, des Engagements im Sinne einer ,öffentlichen Soziologie‘ (in Anlehnung an die public sociology von M. Burawoy). Der Fokus des Autors liegt nicht auf Aufständen oder größeren Ereignissen, in denen die sogenannten schlechten Beziehungen zwischen Polizei und Bewohner_innen der Viertel, insbesondere mit jungen Männern aus an Äußerlichkeiten erkennbaren Minderheiten, mit aller Deutlichkeit zutage treten. Sein ethnographischer Blick weist Alltagsereignissen eine besonders wichtige Stellung zu, mit denen Interpretationen, Narrative und das Handeln verschiedener Akteur_innen erklärt werden können. Sein Fokus liegt auf der Erforschung und Erklärung der Rolle der Polizei in den Vierteln, in denen er an der Seite der Polizist_innen präsent ist. Fassin interessiert sich für die Position der sich im Einsatz befindlichen Streifenpolizist_innen, dafür, was rund um sie herum passiert, wie sie mit wem interagieren, also für ihre alltäglichen Berufserfahrungen. Somit möchte er die „Alterität [zwischen Forscher_in und Beforschten] reduzieren“, um die Handlungen und die ihnen zugrunde liegenden Motive zu erfassen.

2. Die Polizei und die Produktion von Problemvierteln

Nach Fassin sind die die ,Problemviertel‘ durch Abschottung, sozialen Abstieg, Ausgrenzung und Segregation gekennzeichnet. Die Bevölkerung der abgelegenen Großwohnsiedlungen, in denen der Anteil an ausländischen und nicht europäischstämmigen Personen überdurchschnittlich hoch ist, leidet unter erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligungen. Dabei handelt es um eine ,Welt‘, die vielen Polizist_innen, insbesondere wenn sie ihre erste Stelle als ,Ordnungshüter‘ antreten und dazu noch aus der Mittelschicht und/oder der französischen Provinz kommen, oftmals völlig unbekannt ist und die sie kaum verstehen können (vgl. hierzu ausführlicher Kapitel 1 des Buches von Fassin). Die Beamten machen die Bewohner_innen – und insbesondere die Jugendlichen – für ihre Lage häufig persönlich verantwortlich, ohne die Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt, die teilweise fortbestehenden postkolonialen Verhältnisse und die anhaltende ,Krise‘, kurz die strukturellen Ungleichheiten und Machtverhältnisse, zu berücksichtigen. Im Gegenteil: Sie werden als Argumente genutzt, um die Bewohner_innen der Viertel zu demütigen.

Aus der Sicht einer Stadtforschung, die sich für die Produktion von Raum interessiert, leistet Fassins Studie einen interessanten Beitrag. Es ist mehrfach gezeigt worden, dass sich der Staat und die Politik aktiv an der Herstellung von ,Problemvierteln‘ beteiligen. Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass auch das Polizieren der ,Viertel‘ zur Produktion ,gefährlicher Vorstädte‘ beiträgt. Dies hat eine lange Geschichte: Ärmere Stadtviertel und ihre marginalisierten beziehungsweise unerwünschten Bewohner_innen werden mit Abweichungen von einer bestimmten Ordnung assoziiert und als ,Bedrohung‘ behandelt, die polizeiliche Maßnahmen erfordert. Häufig werden Polizeieinsätze von Kriegsrhetoriken begleitet. Schon seit dem 19. Jahrhundert sind polizeiliche Überwachungen von Arbeitervierteln und damit verbundene Repressionen Bestandteil des städtischen Regierens, wobei das Ausmaß der Repression gegen jene Bevölkerungsgruppen heute am stärksten ist, die als ,Ausländer_innen‘, ,Farbige‘ oder Muslime/Muslima identifiziert werden. Die gegenwärtige Zunahme von polizeilichen Maßnahmen im Zuge einer immer repressiveren Strafverfolgung und Sicherheitspolitik geht auf die Kriminalisierung von Ordnungswidrigkeiten und die verstärkte Kontrolle ,gefährlicher Stadtteile‘ zurück. Das governing through crime trägt zu einer polizeilichen Sonderbehandlung dieser Orte bei. In Frankreich verdeutlichen diese die geheimdienstliche Überwachung durch eine Geheimdiensteinheit (unités violences urbaines, die Einsätze von BAC (Police Nationale) und PSIG (Einsatzkommandos der Gendarmerie Nationale), das sogenannte Community Policing (1997-2002) sowie zwei aufeinanderfolgende zonierte Einheiten (UTEQ 2007-2012, ZSP ab 2012).

Die Forschung von Fassin zeigt, dass nicht nur die medialen und politischen Diskurse und Maßnahmen, sondern auch alltägliche Praktiken und die Polizeiarbeit maßgeblich an der Konstruktion der Vierteln als ,gefährliche Orte‘ beteiligt sind. Die ,Problemviertel‘ werden für die BAC zum (polizeilichen) ‚Jagdrevier‘ umgedeutet; gestützt durch verschiedene Erzählungen, die die alltäglichen Demütigungen der Bewohner_innen rechtfertigen (siehe unten). Die Problemviertel sind also nicht nur die Kulisse, sondern bedeutender Teil einer psychischen, aber auch politischen Gewalt.

3. Die Arbeit der Brigades Anti-Criminalité

Die in der Studie untersuchten Brigades Anti-Criminalité (BAC) sind 1994 gegründeten Spezialeinheiten der französischen Streifenpolizei, die einen besonderen Status haben. Ihre offizielle Aufgabe ist es, in Zivil auf Streife zu gehen, um Straftäter_innen in flagranti zu ertappen. Tatsächlich aber dienen sie dazu, Kontrolle, Repression und Abschreckung in als ,gefährlich‘ geltenden Stadträume zu verbreiten. Polizist_innen (meistens Männer)[2] treten diesen Einheiten durch Kooptation[3] bei: daher sind Entscheidende Kriterien der Auswahl neuer Mitglieder für die Einheit ein Hang zu Aufgebrachtheit und Machtdemonstration sowie eine Auffassung von der Polizeiarbeit als einer ‚Jagd‘ auf Kriminelle (vgl. Kapitel 1). Didier Fassin zeigt jedoch, wie der Alltag der BAC auf der Straße aus langen Wartezeiten, ziellosem Umherfahren, Langeweile und verpassten Gelegenheiten der Festnahme besteht. Er zeigt den Unnutzen und die Nebeneffekte der Patrouille und der leistungsorientierten Evaluationen der Polizeiarbeit (vgl. Kapitel 2): Um quantitative Vorgaben zu erreichen, würden intensiv (meist nicht legale) Identitätskontrollen durchgeführt, in der Hoffnung, Anzeigen wegen kleinerer Rauschgiftdelikte oder Verstößen gegen das Aufenthaltsrecht stellen zu können.

Die Interaktionen zwischen Polizei und Bewohner_innen werden ausführlich beschrieben und es wird gezeigt, wie Rassifizierungen und Zuschreibungen (etwa die Zugehörigkeit zu einem Viertel) maßgeblichen Einfluss darauf haben, ob und wie etwa Identitätskontrollen stattfinden (vgl. Kapitel 3). So drückt der in dieser speziellen Polizeieinheit gängige Begriff bâtard (Bastard) eine Art Vorverurteilung und eine systematische Verachtung gegenüber jungen Männern aus sichtbaren Minderheiten und benachteiligten sozialen Gruppen aus.

Obwohl Fassin ein paar Fällen von Polizeigewalt erwähnt, vertritt er die Position, dass das Hauptproblem der Polizeiarbeit in den ,Problemvierteln‘ nicht in dramatischen Übergriffen, das heißt in Gewalt, die körperliche Spuren hinterlässt, bestehe, sondern in einer Form von Gewalt, die nirgendwo Erwähnung finde und unsichtbar sei, und zwar Demütigungen. Davon und von unmittelbarer Polizeigewalt betroffen seien fast ausschließlich junge Männer, die als nichteuropäisch identifiziert werden (vgl. hierzu den übersetzten Text). Durchgehend wird im Buch die Aufmerksamkeit auf die zahlreichen rassistischen Äußerungen und diskriminierenden Praktiken der beobachteten BAC gelenkt . Ethnische Merkmale sind nur ein Kriterium bei ihrer Verdachtsbildung – hinzu kommen andere wie Alter und Geschlecht sowie kontextabhängige Phänomene (wie Ort, Zeit, Geschehenisse). Fassin plädiert dafür, zwischen Rassismus (als Ideologie) und Diskriminierung (als Praxis) zu unterscheiden (vgl. Kapitel 5). Da sie jedoch eng miteinander verbunden seien, sollten sie auf der Makroebene analysiert werden. Von entscheidender Bedeutung seien verschiedene Formen des ,institutionellen Rassismus‘.

4. Vom Politischen und Moralischen

Fassin kommt in seiner Studie einer speziellen BAC-Einheit zu dem Ergebnis, dass deren Missbrauch polizeilicher Befugnisse darin besteht, bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten in den sogenannten Problemvierteln junge Männer aus sichtbaren Minderheiten gezielt zu demütigen. Fassins Beobachtungen sind also nicht auf die gesamte französische Polizei übertragbar, sondern beschränken sich auf die BAC-Einheiten..

Auf der Grundlage seiner Beobachtungen spricht der Autor von einer Art kollektiven rechtsextremen Radikalisierung der von ihm begleiteten BAC-Einheit.[4] Durch die spezifische Rekrutierungspraxis und den Umstand, dass Polizisten, die sich mit dieser rechten Kultur unwohl fühlten, lieber die Einheit wechselten als dagegen vorzugehen, werde dieser Effekt noch verstärkt. Nicht spezifisch für BAC-Einheiten ist ihre Abhängigkeit von politischen Vorgaben (vgl. Kapitel 6). In Frankreich ist die Police Nationale direkt dem Innenministerium unterstellt und hat keinen Rechenschaftspflicht gegenüber den Kommunen und den lokalen Behörden. Immer wieder kommt es zur einer Instrumentalisierung der Polizei und der Konflikte in den Vorstädten durch die nationale Politik. Die sogenannte politique du chiffre bestimmt, wie viele von welchen Delikten registriert und aufgeklärt werden müssen, wie viele Festnahmen stattfinden sollen und wie viele Strafanzeigen zu stellen sind. Entscheidend ist, dass man in der Öffentlichkeit nachweisen kann, wie entschlossen die Regierung gegen Kriminalität durchgreift und wie effektiv die staatlichen Institutionen dabei sind, die Banlieues wieder ‚zurückzuerobern’. Die ‚Ergebnisse’ der Polizei werden zu Messinstrumenten für den Erfolg einer Regierung. Mit welchen Methoden die Leistungsziele erreicht werden, spielt dabei kaum eine Rolle. Vorgesetzte und auch die Regierung haben kein Interesse daran, Polizeigewalt und Übergriffe zu einem Thema zu machen. Vielmehr gesteht man den BAC-Einheiten einen erheblichen Ermessensspielraum zu, was die Interpretation einer Situation und die Wahl der Mittel angeht. Sie können sich darauf verlassen, im Falle von irregulären oder illegalen Handlungen nicht bestraft zu werden,[5] nicht zuletzt auch deswegen, weil sie es mit einer mehrfach stigmatisierten ,Klientel‘ zu tun haben. Das ist ein Vorteil für sogenannte adventure cops, die der Justiz zuvorkommen möchten, indem vermeintliche Verdächtige von ihnen mit Demütigungen und Gewalt ‚bestraft‘ werden.

Diese Erklärung reicht nicht aus, um verständlich zu machen, wie der polizeiliche rechtsstaatlichen Ethos mit Polizeipraktiken vereinbar ist, die für bestimmte Bewohner_innen und in bestimmten Vierteln die Rechtsprechung und den Vollzug der Strafe zu ersetzen versuchen. Die wiederholte und für die Beamten folgenlose Ausübung von psychischer und physischer Gewalt durch die BAC erklärt Fassin durch deren besondere ,moralische Ökonomie‘. Sie besteht aus zwei Elementen. Erstens kommen in Bezug auf die Bewohner_innen Rassifizierungen, Kriminalisierungen, weitere Prozesse der Gruppen- und Klassenzuschreibungen sowie Repräsentationen des Raumes zum Einsatz, um Orte und soziale Gruppen zu differenzieren und somit eine andere ,moralische Ökonomie‘ hervorzurufen. Je nach ,moralischer Ökonomie‘ werden ,unmoralische Taten‘ in manchen Kontexten als ,moralisch‘ verstanden. Damit können die verächtlichen und demütigenden Handlungen der BAC-Einheit erklärt werden. Zweitens, in Bezug auf die Justiz und die Strafverfolgung beobachtet Fassin in der BAC einen Rechtsbegriff, der über den Rechtsprinzipien der Justiz steht und ein starkes Ressentiment gegenüber der Justiz als Institution. Somit sind die willkürlichen Demütigungen mit Sinn versehen: Es geht darum, eine erfolglose Justiz zu ersetzen, in dem auch ohne Verdacht auf Straftaten rachsüchtige Bestrafungen erteilt werden. Es geht darum, Druck auf bestimmte Stadtviertel auszuüben und dort wieder die Kontrolle herzustellen, indem die dort wohnenden Menschen ,bestraft‘ werden (vgl. Kapitel 7).

Fassin betont jedoch mehrmals, wie groß die Unterschiede zwischen den einzelnen BAC-Polizisten und deren beruflichem Ethos sind. Nicht alle beteiligten sich gleichermaßen an demütigenden Praktiken. Ein starker Loyalitäts- und Konformitätsdruck verhindere jedoch die Einnahme von kritischen Positionen.

5. Nationaler Kontext und politisches Projekt

Die Stärke von Fassins Studie ist die lange Zeit der Beobachtung und Interaktion mit einer BAC-Einheit; diese wird ergänzt durch Gespräche mit Vorgesetzten bis hinein ins Innenministerium und durch Treffen mit Jugendlichen und Sozialarbeiter_innen in verschiedenen Heimen und Schulen. Die Tatsache, dass die Studie auf eine BAC-Einheit begrenzt blieb – die Bemühungen des Autors um die Erlaubnis für eine ergänzende Studie scheiterten –, hat zu Diskussionen über die Generalisierbarkeit ihrer Ergebnisse geführt. Fabien Jobard (2011) behauptet, dass weder die Besonderheit noch die Beispielhaftigkeit dieser BAC-Einheit auf der Basis von Fassins Studie eingeschätzt werden können. Diese Vorwürfe werfen auch die Frage danach auf, welche Faktoren Fassin bei den Interpretations- und Erklärungsversuchen seines Untersuchungsgegenstands miteinbezogen hat. Dabei fällt auf, dass er sehr wohl die nationale Ebene berücksichtigt (die Bedeutung der dort lancierten Sicherheitsdiskurse, die Polizeihierarchien mit dem Innenministerium als oberstem Dienstherren etc.), während er zwei weitere Ebenen vernachlässigt. Das ist zum einen die Ebene der Stadtpolitik, der kommunalen Verwaltung und ihre Akteur_innen, die von andere Arbeiten betont wird, insbesondere im Rahmen der neuen Dispositive der lokalen Sicherheit (z. B. die CLSPD, Contrats Locaux de Sécurité et de Prévention de la Délinquance; vgl. hierzu Bonelli 2008). Diese Verflechtungen sind wichtig, um die Besonderheiten der Fallstudie wie die rechtsextreme Kultur in der Einheit, das regelmäßige Fehlverhalten einzelner Polizisten oder terrorisierende Einsätze in Jugendheimen und deren lokale Akzeptanz zu erklären – auch außerhalb des polizeilichen Apparates bei den anderen öffentlichen Akteure. Das ,Viertel‘ erscheint bei Fassin aber seltsam losgelöst von der Kommunalpolitik und der lokalen Verwaltung zu sein. Zum anderen wird auch der inter- oder supranationalen Ebene zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt: Es gibt eine lange Geschichte und teilweise Zuspitzung des punitive policing über den französischen Fall hinaus. Zwar zitiert Fassin oft Arbeiten, welche die nordamerikanische Polizei zum Gegenstand haben, die ihm sowohl als Inspiration gelten (so hat die Polizeiforschung in den USA eine lange Tradition) als auch dazu dienen, die Besonderheiten des französischen politischen-administrativen Systems zu beschreiben und hervorzuheben. Die Tatsache, dass in Ländern mit einem unterschiedlichen Verständnis von Demokratie und ihrer Durchsetzung ähnliche Fälle von polizeilicher Gewalt und Demütigungen in ,Problemvierteln‘ zu beobachten sind, wird jedoch nicht reflektiert. Man könnte die These aufstellen, dass es stadträumlich differenzierte ,moralische Ökonomien‘ bei speziellen Polizeieinheiten gibt, die eventuell auf die gleichen supranationalen und neoliberalen Praktiken des Regierens der Stadt durch punitive policing zurückzuführen sind (trotz institutioneller Unterschiede zwischen den Ländern).

Die Erklärung der lokalen Fallstudie durch primär nationale Bezüge und die Betonung französischer Besonderheiten kann aber als konsistent mit dem wissenschaftlichen Projekt der public sociology und ihren Adressat_innen (die öffentliche Meinung, staatliche Akteur_innen) verstanden werden. Dies unterschätzt aber einerseits den Handlungsspielraum lokaler Akteurskonstellationen (was klären könnte, inwiefern die beobachtete BAC einzigartig ist) und andererseits die Bündnisse, die auf der internationalen (z. B. europäischen) Ebene politischen Aktivismus z. B. gegen Überwachungsgesetzte oder für die Anerkennung polizeilicher Diskriminierung betreiben. Daher ist das Problem dieser Studie weniger ihre (nicht) Generalisierbarkeit, da der Autor sich den Beschränkungen seines methodischen Vorgehens durchaus bewusst ist, sondern die Vernachlässigung des Lokalen und der internationalen Erfahrungen bei der Kontextualisierung des Untersuchungsgegenstands als Teil des städtischen Regierens.

Endnoten

Autor_innen

Mélina Germes; Geographin, mit Schwerpunkt auf Polizeiforschung und Sicherheitspolitiken, in Frankreich und Deutschland.

melina.germes@cnrs.fr

Literatur

Bonelli, Laurent (2008): La France a peur. Une histoire sociale de l´ „insécurité”. Paris: La Découverte.

Fassin, Didier (2009): Les économies morales revisitées. In: Annales. Histoire, Sciences Sociales 64/6, 1237-1266.

Fassin, Didier (2011): Une science sociale critique peut-elle être utile? In: Tracés 09, 199-211.

Fassin, Didier (2013a): Die moralische Arbeit der Polizei. In: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 10/1, 102-110.

Fassin, Didier (2013b): Why ethnography matters. On anthropology and its publics. In: Cultural Anthropology 28/4, 621-646.

Germes, Mélina / Tijé-Dra, Andreas (2012): Banlieue, in: Nadine Marquardt / Verena Schreiber (Hg.), Ortsregister. Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart. Bielefeld: Transkript Verlag, 32-38.

Jobard, Fabien (2011): Anthropologie de la matraque. Recension de „La force de l’ordre”. In: La vie des idées. http://www.laviedesidees.fr/Anthropologie-de-la-matraque.html (letzter Zugriff am 7.8.2014).

Jobard, Fabien (2012): Propositions on the theory of policing. In: Champ pénal/Penal Field IX. http://champpenal.revues.org/8298 (letzter Zugriff am 1.9.2014).

Monjardet, Dominique (2005): Gibier de recherche, la police et le projet de connaître. In: Criminologie, 38/2, 13-27.