Wir überwachen uns

Wie die Sicherheit durch die Digitalisierung immer tiefer in den Alltag eingreift und warum uns das nicht interessiert

Martin Schinagl

Eine Gesellschaft, deren ideelle Grundlage der Liberalismus ist und die demnach die Aufrechterhaltung von Privatheit und Öffentlichkeit als zentrale Logik in sich trägt, müsste von dem, was der NSA- und BND-Spionage-Skandal zutage gefördert haben, zutiefst in ihrem Selbstverständnis erschüttert sein. Das Ausmaß und die Intensität, mit der der staatlich legitimierte und geförderte Überwachungsapparat in die privaten (digitalisierten) Sphären der Menschen eindringt, geht weit über das hinaus, was mit liberalen Kategorien zu rechtfertigen wäre. Es scheint, als wenn unter der Flagge der Generalprävention von Terror und Verbrechen die Bürger_innen selbst zur vermeintlichen Gefahrenquelle der Gesellschaftsordnung würden, ihr Verhalten nunmehr in bislang unbekannter Weise überwacht und ausgewertet werden kann und muss. Diese Entwicklung wird lediglich mit einem in den Feuilletons bereits viel zitierten Schulterzucken zur Kenntnis genommen. Doch spiegelt dies tatsächlich die Veränderungen im Verhältnis von Sicherheitsarbeit und Mensch wider? Wo das Gefahrenpotenzial nicht mehr in einem klar definierbaren (Staats-)Feind zu erkennen ist, verschiebt es sich direkt hinein in das Subjekt, wo es nunmehr verortet wird. Das Subjekt war und ist Ziel von Überwachung. Aber mit einer zu beobachtenden zunehmenden Kommodifizierung von Sicherheit, das heißt ihrer Umwandlung in eine konsumierbare Ware, wird der Mensch auch als Verbraucher und Produzent dieser Sicherheit adressiert. Wenn die Gesellschaft bisher noch nie die Art der Überwachung bekommen hat, die sie verdiente, dann trifft dies spätestens jetzt zu – aber auch nur, weil die Digitalisierung zu einer ambivalenten Einbindung in die Abhängigkeits-, Belohnungs- und Bestrafungssysteme der Netzwelt führt.

Umfassende Überwachung durch umfassende Kollaboration

Sie! Ja, Sie da! Haben Sie Lust, mal richtig auf Verbrecherjagd zu gehen, für Ordnung und Ruhe zu sorgen? Stellen Sie sich vor: Während Sie am Schreibtisch vor dem Laptop eine Schüssel Müsli verzehren, können Sie mit Ihrem Klick helfen, dass Immigranten beim Grenzübertritt geschnappt und direkt wieder in dahin zurückgeschickt werden, wo sie herkamen!

Wer meint, dass solche Szenarien unwahrscheinlich sind, der oder die irrt, denn in den USA gibt es so etwas schon. Seit 2007 ist im Bundesstaat Texas das Unternehmen BlueServo mit der Überwachung von Teilen der texanisch-mexikanischen Grenze beauftragt.[1] Dessen Internetseite erlaubt Menschen aus aller Welt den Zugriff auf die Lifebilder einer Reihe von Kameras, die auf unterschiedliche Grenzübergangspunkte gerichtet sind. Weit mehr als 120.000 Personen haben sich seither auf der Seite registriert. Mittels einer Alarmfunktion sollen Mitglieder der ‚Community‘ die Grenzschützer sofort benachrichtigen, sobald „Auffälligkeiten“, vermeintlicher Drogenhandel oder illegalisierte Grenzübertritte gesichtet werden (vgl. Abb. 1).

Abb. 1 Ausschnitt
der Internetseite von
BlueServo
Abb. 1 Ausschnitt der Internetseite von BlueServo

Von hier aus kann auf verschiedene Überwachungskameras zugegriffen werden. Liegt das Interesse eher auf der Beobachtung von Drogenhandel, Kriminalität oder illegaler Grenzübertritte? Wählen Sie aus! Wenn Ihnen der Appell an Rechtschaffenheit und Nationalismus nicht ausreicht, gibt es noch weitere Optionen, die Sie interessieren könnten, zum Beispiel angeboten von InternetEyes:

Watch CCTV, help prevent crime and claim rewards. Our bank of businesses needs an extra pair of eyes. Crime is rife, and retailers don’t have time to watch their CCTV all day. So here’s the idea: join our viewer community for a small registration fee and you can watch when you like, for as long as you like whilst alerting suspicious behaviour. You’ll be helping society catch criminals and in return we will reward our most vigilant viewers with £10 for every positive alert sent.[2]

Ähnlich wie bei dem Grenzüberwachungsprojekt von BlueServo konnten hier bis vor Kurzem noch Internetnutzer_innen nach einer Registrierung in Echtzeit auf die Überwachungsbilder vier zufällig zugeteilter und alle 20 Minuten wechselnder Kameras verschiedener Supermärkte zugreifen. Läden, die diese Technik nutzten, machten an den Eingängen darauf aufmerksam, dass die Räumlichkeiten durchgängig von verschiedenen Menschen beobachtet werden. Diese konnten, wenn sie Ladendiebstähle oder sonstiges ‚deviantes Verhalten‘ entdeckten, eine Art Alarm auslösen und im selben Moment die Ladenbesitzer_innen durch eine Kurznachricht darüber direkt verständigen. Bewerteten die Ladenbesitzer_innen diese Intervention als hilfreich oder „positiv“, erhielten die Internetdedektiv_innen 10 britische Pfund pro „erfolgreichen“ Alarm und wurden zusätzlich mit dem Gefühl belohnt, „der Gesellschaft geholfen zu haben, Kriminelle zu fangen“.

Freunde und Helfer der Polizei

Wie auch in der vordigitalen Welt basiert die klassische Polizeiarbeit, die Kriminalitätsverfolgung und der Erhalt der Inneren Sicherheit, noch heute maßgeblich auf der Mithilfe und Informationsbereitschaft der Bevölkerung. Es wurde schon immer versucht, diese über finanzielle Anreize und Belohnungssysteme beziehungsweise Zwang und Drohungen oder einen Appell an bürgerliches Pflichtgefühl und Rechtschaffenheit einzubinden. Aber inzwischen geht es weit darüber hinaus. Anders als bei InternetEyes, wo sich die Nutzer_innen noch auf eine finanzielle Belohnung freuen durften, stellt die ‚Community‘ heute meistens ohne ersichtliche Entschädigung Informationen bereit und ihre Freizeit in den Dienst von Polizei und Überwachung. Der weltweite mehr oder weniger freie Zugriff auf Überwachungskameras über das Internet erweitert deren panoptische Eigenschaft um das Merkmal einer unerschöpflich großen Masse an (willigen) Aufseher_innen. Wie Foucault (1994) beschrieben hat, verfügt ein Panoptikum über die besondere Fähigkeit, soziale Normen durchzusetzen, weil die Menschen allein aufgrund der Möglichkeit, dass sie beobachtet werden, gewisse als gesellschaftlich unerwünscht geltende Verhaltensweisen vermeiden.

Auf einmal lassen sich sogar traditionell nationalstaatliche Kernaufgaben wie die der Grenzüberwachung zumindest teilweise an Privatpersonen delegieren. Es kommt zu einer Privatisierung von Sicherheitsarbeit. Sicherlich ist BlueServo kein Prototyp dafür, wie der Grenzschutz in Zukunft organisiert werden wird, aber es ist ein anschauliches Beispiel, an dem sich der Wandel von Überwachung und die neue Qualität von Sicherheitsarbeit ablesen lassen. In der Tat sind solche Formen von ‚Überwachung 2.0‘ in Deutschland noch unbekannt. Aber auch die deutsche Polizei ist in sozialen Netzwerken präsent und buhlt bereits um die Mithilfe der Internetnutzer_innen.[3] Dennoch fallen die Bemühungen in diese Richtung hierzulande noch eher zaghaft aus. Die Haltung zu Überwachung und privater Unterstützung der Sicherheitsarbeit wirkt distanzierter und kritischer als in den angelsächsischen Ländern. Das mag in den unterschiedlichen historisch gewachsenen gesellschaftlichen Kontexten der USA und Großbritanniens begründet liegen. Dass es in Deutschland etwa zumindest zeitweise eine vergleichsweise starke Bewegung für das Recht auf informelle Selbstbestimmung gab, hat nicht zuletzt mit bestimmten negativen Erfahrungen mit staatlicher Überwachung (Beispiel: Gestapo und Stasi und die damit verbundenen ‚Denunziationskulturen‘) zu tun.

Überwachung und Sicherheit: Just neoliberalize it!

Es ist das neoliberale Paradox, das überall zu beobachten ist: Zunächst sieht es so aus, als träte der Staat immer deutlicher als Schützer von Ordnung und Sicherheit hervor. Bei näherer Betrachtung aber sorgen Bürgerpolizeien, Neighborhood Watches, kommerzielle Security-Firmen, zu quasi-polizeilichen Aufgaben verpflichtete Hartz-IV-Empfänger_innen, mit privaten Sicherheits- und Grenzschutzdiensten kooperierende, transnational vernetzte Polizeien (wie bspw. die Agentur Frontex, die mit Sicherung der EU-Außengrenzen beauftragt ist) und als neue Partner des Geheimdienstes auftretende Internetkonzerne für eine zunehmende Auflösung des nationalstaatlichen Gewaltmonopols. In ihrer Gleichzeitigkeit erscheinen diese Phänomene als widersprüchlich: Vor dem Hintergrund eines dominanter werdenden Sicherheitsdispositivs werden staatliche Kernkompetenzen wie beispielsweise die Gewährleistung der inneren Sicherheit immer mehr – entsprechend der neoliberalen Rationalität, die mehr Effizienz anstrebt – ‚ausgehöhlt‘. Denn während spätestens seit ‚9/11‘ Sicherheit als Selbstzweck zum neuen Primat staatlichen Handelns avancierte, greifen kapitalistische Verwertungs- und Steuerungslogiken zunehmend auf den politischen Bereich über. So ist es auch kein Zufall, dass der Beginn der Privatisierung und Kommodifizierung der Sicherheitsgewährung zeitlich zusammenfällt mit dem weltweiten Siegeszug des Neoliberalismus, der in den 1970er Jahren einsetzte (vgl. Rigakos 2007: 42 ff.). Dies führte zu einer neuen „Warenförmigkeit vormals öffentlicher Dienstleistungen und Produkte“ (Eick et al. 2007: 10).

Im engeren Marx‘schen Sinne handelt es sich bei der Sicherheits-, Überwachungs- und Polizeiarbeit nicht um produktive Arbeit, da keine greifbaren Güter zum Tausch angeboten werden (vgl. ebd.). Und dennoch verweisen die Veränderungen in diesem Sektor auf eine zunehmende ‚Konsumfähigkeit‘ von Sicherheit. „Die Sicherheitswirtschaft leistet mit circa 250.000 Mitarbeitern einen unverzichtbaren Beitrag für die Innere Sicherheit Deutschlands. Sie erwirtschaftete 2011 in den Bereichen Sicherheitsdienstleistungen und Sicherheitstechnik über elf Milliarden Euro Umsatz“, heißt es auf der offiziellen Seite des Bundesverbands der Sicherheitswirtschaft.[4] Es steigen auch in Deutschland sowohl die Nachfrage als auch die Angebote im Bereich Sicherheit und Sicherheitsdienste. Eine unüberschaubare Zahl an privaten Ausbildungsbetrieben sowie zertifizierten Schulen und Sicherheitsunternehmen – der Bundesverband der Sicherheitswirtschaft spricht von 3.800 Unternehmen – sind Beleg für die wirtschaftliche Bedeutung und Dynamik der Branche. Hinzu kommen weitere Firmen, die für die Ausstattung dieser Unternehmen oder von Privatpersonen mit Überwachungskameras, Alarmanlagen, Schlagstöcken, Pfefferspray und Gasmasken sorgen. Sicherheitsarbeit wird zusehends warenförmig organisiert, das heißt, auch Sicherheit wird zunehmend als etwas gesehen, das nach dem Angebot-Nachfrage-Schema mittels ‚konsumierbarer‘ Produkte befriedigt werden muss. Wie auch in anderen Bereichen lassen sich nun auch im Feld der ‚Produktion‘ von Sicherheit neue Formen der Beteiligung von privaten Akteuren am Wertschöpfungsprozess feststellen.

In der Arbeitswelt existieren schon seit Jahrzehnten ähnliche Konzepte. Dort wird vom „unternehmerischen Selbst“ oder vom „Prosumenten“ gesprochen. Was dort Einzug gehalten hat, ist nach den Soziolog_innen Luc Boltanski und Ève Chiapello Der Neue Geist des Kapitalismus (1999). Er bringt im Gewand des Postfordismus nicht nur in der Arbeitswelt alte Gewissheiten durcheinander, wie etwa eine klare Trennung von Arbeit und Freizeit sowie zwischen Fremd- und Selbstbestimmung. Die Übertragung betriebswirtschaftlicher Logik und Instrumente auf Bereiche, die traditionell eher staatlich organisiert waren (u. a. die Verwaltung sowie das Bildungs- oder Gesundheitswesen), die zunehmende Kommerzialisierung der Sicherheit sowie die tendenzielle „‚Durchstaatlichung‘ zivilgesellschaftlicher Akteure“ (Eick 2007: 63) sind somit Teil einer „neoliberalen Gouvernementalität“. Ein zunehmender Teil der Sicherheitsaufgaben soll immer mehr durch ein neues Arrangement an Selbsttechniken übernommen werden. Das muss nicht einmal bemerkt werden. Es lässt sich beobachten, dass sich verstärkt zivilgesellschaftliche Sicherheitsakteure, darunter Nonprofit-Organisationen, Bürgerwehren, Präventionsräte, private Unternehmen, ‚besorgte Anwohner_innen‘ und freiwillige Polizeidienste, formieren, die sich für die Produktion von Sicherheit verantwortlich fühlen (vgl. ebd.: 57; Tabelle 1). Dem zusehends individualisierten Bedürfnis nach Sicherheit steht eine Zunahme an bürgerschaftlichem und individuellem Engagement entgegen, das neue Formen von Diensten und Angeboten hervorbringt.

Kollaboration 2.0 – vom Nehmen und Geben von Informationen

Es gibt über die oben genannten Beispiele hinaus eine ganz Menge weiterer Optionen der Zusammenarbeit im Internet. Das Web 2.0 schafft Möglichkeiten, Individuen aktiv an der Produktion von Sicherheit zu beteiligen. Das Internet und andere Formen weitreichender Digitalisierung bieten als historisch neuartige Technologie des sozialen Miteinanders eine riesige Spielwiese für die Anwendung neuer Sicherheits- und Überwachungstechniken. So existieren inzwischen etwa Apps für Smartphones, die das Kartieren von Straftaten und Angsträumen ermöglichen.[5] Seit März 2014 etwa kann man sich über die Anwendung ,WegeHeld‘ gegen Verkehrssünder_innen wehren, indem man den Standort falsch geparkter Autos weitergibt und diese dann auf einer Karte öffentlich sichtbar eingetragen werden.[6] Auch die Berliner Polizei ist daran interessiert, ihre Online-Präsenz auszubauen. Mit dem informellen Straftaten-Ticker auf Facebook und einem eigenen Twitter-Account, der auch zur Ansprache von Demonstrationsteilnehmer_innen genutzt wird, werden die Kommunikationskanäle stetig erweitert – wobei hierbei (noch) nicht wirklich von crowdsourcing die Rede sein kann, bei der eine Internet-Community aktiv zur Mitarbeit aufgefordert und eingebunden wird.

Die Informationsbeschaffung zum Zweck der Verbrechensbekämpfung und -vorbeugung setzt zwar auf das Wissen vieler, aber nur ein kleiner Teil der Informationen ist bislang das Ergebnis einer aktiven Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden mit den Internetnutzer_innen. Die Erstellung von individuellen Bewegungsprofilen und Kontaktnetzen über die Auswertung von sozialen Netzwerken, GPS-Daten, Funkzellen und Internetverbindungen bedarf keiner aktiven Mitarbeit, keines Mitwissens oder eines individuellen Einverständnisses. Die Berliner Polizei verschickt zunehmend sogenannte stille SMS; mehrere Hunderttausend waren es allein im vergangenen Jahr. Mit ihnen lassen sich unbemerkt Handynutzer_innen orten. Darüber hinaus investieren der Bund und die Europäische Union seit Kurzem massiv in Projekte zur Erforschung automatisierter Analyseprogramme, die zur Verbrechens- und Terrorismusprävention auf die aggregierten Daten sozialer Netzwerke, so auch Twitter, Suchmaschinen, YouTube und Smartphones zugreifen sollen können. Insgesamt geht es nicht mehr nur um die Verfolgung von Kriminalität, sondern um die Kontrolle von Bewegungen und Absichten im Dienste der Sicherheit.

Die aktive und offene Zusammenarbeit zwischen Sicherheitsbehörden und privaten Akteuren in einer digitalisierten Gesellschaft erscheint als eine interessante Option, verblasst aber angesichts dessen, was seit dem vergangenen Jahr über die Praktiken der Geheimdienste und der ‚Internet-Oligarchie‘ bekannt geworden ist beziehungsweise vorher schon latent bekannt war. Was sich hier offenbart, ist eine neue Ära der Überwachung, die geprägt ist von einem neuen Verständnis dessen, was die Privatsphäre und die Sphären des Staates und der Wirtschaft ausmacht. Dies hat sich tief in die digitalen und alltäglichen Verhaltensweisen eingeschrieben. Shoshana Zuboff, Wirtschaftswissenschaftlerin und ehemalige Professorin an der Harvard-Universität, erkennt darin den Anbruch eines neuen Zeitalters, in dem Informationen zur wichtigsten Währung werden und Internetnutzer_innen als Informationsressource einen ökonomischen Wert zugeschrieben bekommen. In einem kommerzialisierten Internet wird der Mensch mit all seinen digitalisierten Lebenswelten, sozialen Netzwerken, Kontobewegungen, GPS-Daten und Suchmaschineneingaben zu einer gewinnbringenden Datenquelle. Diesem ‚digitalen Surrogat‘ wird zunehmend ein eigenständiger Wert beigemessen.[7] Dabei werde die Überwachung zu einem wichtigen Stützpfeiler dieser Art von Wirtschaftssystem. Zuboff zeigt sich beunruhigt: „Der staatliche Sicherheitsapparat und private Internetfirmen haben ein gemeinsames Interesse: Sie wollen die Kontrolle über unendlich große Datenmengen ausüben.” (zit. nach Gaertner 2013)

Der NSA-Skandal oder wohin führt die Digitalisierung?

Der Skandal um die Praktiken der US-amerikanischen National Security Agency (NSA), die Enthüllungen durch Whistleblower Edward Snowden und die Diskussionen um Big Data vermitteln eine vage Vorstellung davon, welche technischen Überwachungsmöglichkeiten inzwischen existieren und wie diese angewendet werden. Die staatlichen Sicherheitsdienste kooperieren mit den marktbeherrschenden Internet-Giganten Facebook, Google, Yahoo & Co., die den Zugriff auf jene sensiblen und privaten Daten ermöglichen, die die Internetnutzer_innen entweder bereitwillig oder widerwillig oder einfach nur aus Ignoranz zur Verfügung stellen. So veranschaulicht Georg Seeßlen (2014) am Beispiel des Internetdating und entsprechenden Portalen, wie stark diese „neuen sozialen Maschinen“ zu unserer Konditionierung in der Kontrollgesellschaft beitragen.

Diese sicherheitspolitischen Eingriffe sind in der Lage, unser Denken und unser Handeln auf radikale Weise zu beeinflussen. Gleichzeitig sind wir ein integraler Teil des Systems, auf dem sie basieren. Das Sicherheitsdispositiv lenkt unser Handeln, und wir handeln in dessen Sinne. So gesehen richtet es sich nicht gegen das Subjekt an sich, sondern es ist zwangsläufig auf unser Mitwirken angewiesen. Dass Sicherheit zum bestimmenden Dispositiv für die Politik geworden ist, bedeutet, dass Sicherheit der Antrieb und der Vorwand ist, um auf globaler Ebene Kriege zu legitimieren, Staatschefs abzuhören und überall, sei es auf Bahnhöfen oder öffentlichen Plätzen, Überwachungskameras zu installieren, um der angeblich allgegenwärtigen Terrorgefahr zu begegnen. Auf der Klaviatur der Sicherheitspolitik findet sich eine Reihe neuer Tasten: Vorratsdatenspeicherung, biometrische Reisepässe, Überwachungsdrohnen, Gendatenbanken, das Sammeln von Datensätzen von Flugpassagieren, Kameras mit integrierter Gesichtserkennung, Bundestrojaner, RFID-Chips und eine zunehmende Vernetzung von Sicherheitsdiensten, Polizeien und Konzernen. Hinzu kommt die millionenfache Datensammlung und Aufzeichnung von Telefongesprächen, E-Mail-Kontakten und des SMS-Verkehrs sowie die automatisierte Auswertung von Textinhalten – und damit die Möglichkeit einer allumfassenden Rekonstruktion des ‚digitalen Fußabdrucks‘ von uns allen.

Das Feld der Überwachung und Sicherheitspolitik befindet sich zweifelsohne in einem radikalen Wandel. Konsequent zu Ende gedacht, läuft die aktuelle Entwicklung, die von staatlichen Stellen und Konzernen gemeinsam vorangetrieben wird, auf eine totale Überwachung und Kontrolle hinaus. Welche Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Subjekt zu, das im Zuge einer fortschreitenden Entstaatlichung und Privatisierung von ehemals öffentlichen Aufgaben zunehmend in den Mittelpunkt zu geraten scheint? Die meisten Nutzer_innen des Internets wissen über die Möglichkeiten und Gefahren dieses Mediums Bescheid. Allerdings reagieren sie auf die Auflösung des informationellen Selbstbestimmungsrechts mit einem kampflosen Klicken und disziplinieren sich mithilfe von Do-it-yourself-Überwachung und Mitteln der Selbstkontrolle unbeirrt weiter. Sicherheit und Überwachung sind integraler Bestandteil einer neuen Normalität geworden, innerhalb derer sich unser Leben bewegt. Davon ist nicht nur staatliches, sondern auch das individuelle Handeln betroffen. Darin unterscheidet sich das Zeitalter von Big Data von den Techniken und Möglichkeiten anderer Überwachungssysteme wie beispielsweise dem der Stasi in der ehemaligen DDR oder George Orwells Vision von 1984. Die Überwachten sind aktiver Teil der Überwachungsstrukturen geworden; sie sehen keine Möglichkeit, dagegen aufzubegehren, und haben auch nicht den Willen dazu.

Kein kommender Aufstand

Die verschiedenen Formen der Kollaboration mit dem Sicherheitsapparat und die umfassende Durchsetzung kapitalistischer Verwertungsmechanismen, basierend auf den Logiken des Neoliberalismus (Eigenverantwortung und Eigeninitiative, Selbstkontrolle und Selbstausbeutung), funktionieren in ihrem Zusammenwirken deshalb so gut, weil sie einander bedingen und in einer gegenseitigen Abhängigkeit stehen. Innerhalb der digitalisierten „Transparenzgesellschaft“ (Han 2012) wirkt der Zwang, alles von sich preisgeben zu müssen. Es fällt überaus schwer, sich außerhalb von diesen Spielregeln zu bewegen. Die Ausweitung des Sicherheitsdispositivs auf alle erfassbaren und quantifizierbaren Lebensbereiche ist tendenziell total. Zusätzlich erfährt das Dispositiv noch Unterstützung dadurch, dass die digitale Welt und das virtuelle Netz als eine private Sphäre behandelt werden und sich in ihnen bewegt wird wie im eigenen Wohnzimmer. Dabei ist das Internet alles andere als ein ‚privater Raum‘. Die tief verankerte Vorstellung von öffentlicher und privater Sphäre greift hier nicht.

Alle sensiblen Informationen – auch diejenigen, von denen wir uns nicht bewusst sind, dass wir sie über unser Surfverhalten, unsere Eingaben in Suchmaschinen oder unsere Kontoführungen hinterlassen – können zu verwertbaren und wertvollen Ressourcen werden beziehungsweise werden bereits als solche gesammelt und wahrgenommen. Der postmoderne Mensch wird Teil einer komplexen Überwachungsmaschinerie und will beziehungsweise kann doch nicht auf Smartphone, Dating-Profile, Kreditkarten, soziale Netzwerke, Navigationssysteme, PayBack- und Krankenkassenkarten verzichten. Gibt es überhaupt Möglichkeiten, sich über eine müde Empörung hinaus dem neuen Geist der Sicherheit zu widersetzen? Inwieweit können sich Internetguerilla, Hacker_innen und Pirat_innen dagegen wehren?

Die digitalen Verbindungen zu kappen, wäre ein Ansatz, dem oben beschriebenen Dilemma zu entgehen. Doch angesichts einer weitreichenden Vernetzung und deren Bedeutung für den Alltag erscheint ein Rückzug aus dieser Welt doch als ein überaus schmerzhafter Schritt. Diese Art der Entsagung oder individuellen „(Er-)lösung“ befreit auch nicht von den Übeln des Systems, sondern erinnert mehr an religiöse Praktiken, mit dem man dem Bösen in der Welt begegnen will. Was jedoch gebraucht wird, sind grundlegende gesellschaftliche Veränderungen, die nur kollektiv zu erreichen sind. Das Internet, so der aktuelle Spielstand, verwirklicht nicht die anarchische Utopie unkontrollierbarer Anonymität. Denn es kann „nicht als autonome technologische Setzung mit gesellschaftsverändernder Potenz erklärt werden, sondern nur als sozialtechnologisches Moment an den historischen Grenzen des Kapitalismus“ (Kurz 2012: 71). Dass die Digitalisierung ihren Preis hat, jenseits aller Versprechungen in Bezug auf mehr ‚Partizipation‘ und gesteigerte Effizienz, und dass das historisch gewachsene Internet keine neutrale Technologie ist, das lässt sich nicht zuletzt aus den Überwachungspraktiken der Geheimdienste schließen.

Endnoten

Autor_innen

Martin Schinagl; Europäische Ethnologie, Soziologie, Humangeographie

martin.schinagl@hotmail.com

Literatur

Boltanski, Luc / Chiapello, Ève (1999): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.

Eick, Volker (2007): „Krauts and Crowds“: Bericht vom Rand der neoliberalen Dienstleistungsperipherie. In: Volker Eick / Jens Sambale / Eric Töpfer (Hg.), Kontrollierte Urbanität. Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik. Bielefeld: Transcript Verlag, 55-82.

Eick, Volker / Sambale, Jens / Töpfer, Eric (Hg.) (2007): Kontrollierte Urbanität. Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik. Bielefeld: Transcript Verlag.

Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.

Gaertner, Joachim (2013): Wehrt Euch. Die Wissenschaftlerin Shoshana Zuboff ruft zum Widerstand gegen den digitalen Überwachungsstaat auf! http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/br/2013/10202013-Shoshana-Zuboff-100.html (letzter Zugriff am 31.10.2013).

Han, Byung-Chul (2012): Transparenzgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz.

Hoffmann, Maren (2014): Analyse von Facebook und Co.. Suchmaschine erstellt Ranking von Hotelgästen. http://www.spiegel.de/reise/aktuell/digitales-gaesteprofil-fuer-hoteliers-durch-reputami-a-986040.html (letzter Zugriff am 25.8.2014).

Kurz, Robert (2012): Kulturindustrie im 21. Jahrhundert. Zur Aktualität des Konzepts von Adorno und Horkheimer. In: EXIT! Krise und Kritik der Warengesellschaft 9/2012, 59-100.

Rigakos, George S. (2007): Polizei konsumieren: Beobachtungen aus Kanada. In: Volker Eick / Jens Sambale / Eric Töpfer (Hg.), Kontrollierte Urbanität. Zur Neoliberalisierung städtischer Sicherheitspolitik. Bielefeld: Transcript Verlag, 39-54.

Seeßlen, Georg (2014): Die Liebe im digitalen Zeitalter. Wie das Internetdating die Bedingungen der Paarbildung verändert (erster Teil). In: konkret. Politik & Kultur, 6/2014, 44-48.