Dass politischer Protest zu ‚Rechtsverstößen‘ führen kann, ist nichts Neues. Protestierende besetzen mitunter Plätze und Häuser, leisten Widerstand gegen die Staatsgewalt oder verstoßen gegen ein polizeilich verhängtes Aufenthaltsverbot. Auch bei den diversen Protesten, die in der jüngsten Vergangenheit die mediale Aufmerksamkeit auf sich zogen – ob im Gezi-Park, auf dem Kiewer Maidan-Platz, in Sarajevo oder rund um die Rote Flora in Hamburg –, ist es zu solchen ‚Rechtsverstößen‘ gekommen.
Der Grund, warum man das Wort ‚Rechtsverstöße‘ dabei besser in Anführungszeichen setzt, hängt – ganz abgesehen von der sozialen Konstruiertheit des Begriffs – eng mit der öffentlichen Deutung und Wahrnehmung des Protests selbst zusammen. Denn in der medialen Rezeption hierzulande wurden beispielsweise die Proteste in Istanbul, Kiew oder Sarajevo nicht genuin als ‚Rechtsverstöße‘ bewertet, sondern als Akte des zivilen Ungehorsams, die im Geiste einer demokratischen Verfassung stehen, zur Demokratisierung der Demokratie beitragen oder gar Teil des Kampfes zur Durchsetzung der Demokratie sind.
Auf der anderen Seite hingegen standen die Proteste in Hamburg. Den ‚Rechtsverstößen‘ dort sprach man eine sinnvolle politische beziehungsweise demokratische Bedeutung ab und deutete sie vorrangig als ‚linke Krawallmacherei‘. Richard Wagner (2014) ging in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gar so weit, zu behaupten, dass die in Hamburg zeitweise zum Symbol gewordene Klobürste[1] in der Tat die geeignetste Versinnbildlichung der hiesigen Polizeiarbeit sei. Und im konservativen parteipolitischen Lager stand unter anderem ein ‚Abiturverbot‘ für Protestierende als disziplinarische Maßnahme und ‚Lösungsstrategie‘ hoch im Kurs (Hamburger Morgenpost, 22.12.2013).
Gegen eine solche Einteilung und Lesart versuche ich im Folgenden die These zu erläutern, dass auch radikalere Formen von Protest und Kritik an der bestehenden Gesellschaft und herrschenden Politik notwendiger Bestandteil des demokratischen Miteinanders sind. Radikale Formen von Protest sind als Akte des zivilen Ungehorsams zu interpretieren, weil sie moderne Demokratien repolitisieren. Eine liberal-demokratische Sichtweise auf Protest und zivilen Ungehorsam, wie sie in der medialen Rezeption anzutreffen ist, greift hier zu kurz. Wie ist das zu verstehen?
Sieht man von Wagners extremer Position und semantisch höchst fragwürdiger Ausdrucksweise einmal ab, so lassen sich zwei Kriterien benennen, die die gängige Einschätzung in den Medien, die hier kurz skizziert worden ist, anzuleiten scheinen: zum einen die Form des Protestes – inwiefern diese angemessen ist und sich an bestehende Regeln und Gesetze hält; zum anderen die Ziele des Protestes – inwiefern er dazu dient, demokratische und verfassungsmäßig verbriefte Rechte, die von der Regierung nicht ausreichend beachtet oder gar gebrochen werden, einzuklagen. Mit dieser Einschätzung findet man sich in guter Gesellschaft. Kein geringerer als John Rawls, der große US-amerikanische Philosoph des 20. Jahrhunderts, legt in seinen Überlegungen zum zivilen Ungehorsam exakt diese Maßstäbe an (vgl. Rawls 1998: 421). Diese Maßstäbe erwachsen aus einer liberalen Grundhaltung und gehen entsprechend davon aus, dass je gerechter eine Gesellschaftsordnung ist (das heißt: je mehr sie an demokratischen Werten realisiert hat und an justiziellen Einspruchsmöglichkeiten bereithält), desto weniger gerechtfertigt sind kollektive politische ‚Rechtsverstöße‘. In einer vollends gerechten Gesellschaft verliere der zivile Ungehorsam seine Rechtfertigbarkeit (ebd.: 399). Mit dieser liberalen Grundüberzeugung lassen sich dann auch die unterschiedlichen Einschätzungen von Protesten in den Medien erklären: Denn was in ‚defizitären‘ Demokratien der Türkei, der Ukraine oder Bosnien-Herzegowinas wohlwollend betrachtet wird, ist in Deutschland noch lange nicht erlaubt.
Doch so einfach ist es nicht. Politischer Protest in modernen Demokratien lässt sich mit einer solch liberalen Sichtweise nur schwer entschlüsseln und mit einer demokratischen Grundordnung in Einklang bringen. Ein genauerer Blick auf aktuelle politische Protestbewegungen in Deutschland macht zum einen deutlich, dass es vielen dieser Bewegungen mit ihren Protestpraktiken weniger um das Einklagen von Rechten oder um Korrekturen an der Regierungspolitik geht. So stellen die Proteste von Blockupy etwa die neoliberale Grundorientierung des europäischen Finanzsystems infrage, während es Aktivist_innen des Flüchtlingscamps in Berlin mit ihren Forderungen um eine grundsätzliche Reformierung des Konzepts der nationalen Zugehörigkeit und eine grundlegende Staatskritik ging. Viele Gruppierungen rund um die Rote Flora vertreten ähnliche Positionen und Forderungen und kombinieren diese häufig noch mit einer grundlegenden Kapitalismuskritik. Kurzum: Diese Bewegungen stehen für tiefgreifende politische Veränderungen und alternative Lebensweisen. Man mag diese grundlegende Kritik vielleicht inhaltlich nicht teilen; um diesen Protest jedoch verstehen und demokratietheoretisch einordnen zu können, ist es von zentraler Bedeutung, seine genuin politische Dimension zu erfassen. Tut man dies nicht und kriminalisiert stattdessen kurzerhand radikalere Formen von Protest, entpolitisiert man die Demokratie.
Ein erster Hinweis auf eine solche politische Dimension ist, dass es sich bei diesen Protesten um kollektive Akte des politischen Widerspruchs handelt, die im öffentlichen Raum stattfinden und sich an eine politische Öffentlichkeit richten. Dass dafür die Form des zivilen Ungehorsams gewählt wird, ist nicht unerheblich. Denn dies kann als Indiz dafür betrachtet werden, dass eine bedeutende Anzahl von (zumeist jungen) Personen von den Beteiligungsangeboten moderner Demokratien nicht erreicht wird, oder mehr noch: sich von dem existierenden Spektrum öffentlich-politischer Meinungen nicht wirklich repräsentiert fühlt oder gar an der Lebendigkeit der politisch-demokratischen Institutionen und Verfahren zweifelt. Aus dieser Perspektive erscheinen gemeinschaftlich begangenen ‚Rechtsverstöße‘ oder besser: Protestpraktiken in einem anderen Licht. Man erkennt in ihnen auch einen Beitrag zur Repolitisierung moderner demokratischer Ordnungen – also auch der bundesrepublikanischen. Inwiefern Repolitisierung? Aus demokratietheoretischer Sicht sind meiner Ansicht nach drei Aspekte ausschlaggebend: Zuallererst wird mittels des Protestes der Versuch unternommen, neu zu bestimmen, wer, wann, wo und wie sprechen darf. Auf diese Weise realisiert man das „Beteiligungsversprechen“ (Buchstein/Jörke 2003: 488) von demokratischen Gesellschaften. Dass man dabei, wie im Fall der Hamburger Proteste, ein Übereinkommen mit der Regierung ablehnt, hat Gründe. Ein ganz wesentlicher Grund ist sicherlich, dass es den Protestierenden nicht um die Verwirklichung irgendeines konkreten Rechts geht. Ihnen geht es um ihren direkten Ausdruck, um politische Expressivität.[2] Wenn beispielsweise die Bewegung rund um die Rote Flora fordert, dass diese besetzt bleiben soll, dann heißt das, dass man das Haus nicht geschenkt oder rechtlich übertragen haben will. Es geht um den Akt des Besetzens und die Praktik des Besetzthaltens. In diesem Akt und in dieser Praktik wird der grundlegende Widerspruch zur kapitalistischen Logik und den liberalen Eigentumsvorstellungen zum Ausdruck gebracht. Mit einem liberalen Politikverständnis – man betreibt Politik, um Interessen zu realisieren und Rechte durchzusetzen – lässt sich diese politische Praktik kaum entschlüsseln. Denn sie mündet nicht in einer Forderung, der innerhalb der politisch-rechtlichen Grundordnung einfach nachgekommen werden kann. Die Forderung lebt und entfaltet ihre politische Symbolik überhaupt erst im Widerspruch zur bürgerlich-liberalen Grundordnung.
Indem man sich mittels des Protests als ‚politische Mitsprecher_innen‘ etabliert, verweist man – zweitens – auch auf die Möglichkeit, den Status quo anders zu beschreiben. Das heißt, man wendet sich gegen eine Gegenwartsbeschreibung, die festlegen möchte, was als politisches Problem zu gelten hat und was dementsprechend eine praktikable oder nicht praktikable Antwort auf ‚dieses Problem‘ ist. Gegen den Trend in modernen Demokratien, politische Meinungs- und Entscheidungsfindung aus dem Parlament heraus auf für die Öffentlichkeit schwer zugängliche ‚Expertengremien‘ oder Institutionen zu übertragen, trägt der Protest hier den Streit auf die Straße und macht ihn sichtbar. Wenn der Kern der Demokratie die öffentliche Repräsentation politischer Konflikte ist, dann gilt es die Sichtbarmachung dieses Streites auch ein Stück weit anzuerkennen. Denn dadurch wird öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt, werden Themen mit politischer Bedeutung versehen und Bürger_innen zum politischen Nachdenken herausgefordert. Es werden nicht berücksichtigte Optionen deutlich gemacht, es wird ‚das Gemachte‘ an der Politik aufgedeckt und herausgestellt, wer mögliche Gewinner und Verlierer von politischen Entscheidungen sind. Damit betont der Protest einen zentralen Charakterzug politischer Gemeinwesen, der im Alltag moderner Demokratien aus dem Bewusstsein zu schwinden droht: die Alternativität politischer Entscheidungen.
Drittens handelt es sich beim Protest um eine gemeinschaftliche politische Praxis. Das ist insofern besonders hervorzuheben, als Protest jene seltenen Räume und Arenen in modernen Demokratien etabliert und bewahrt, in denen Menschen noch politische Fragen diskutieren, sich organisieren, Momente von Gemeinsamkeit und Solidarität erfahren können. Dadurch wenden sich Protestbewegungen explizit und auf der Grundlage lebensweltlicher sozialer Praktiken auch gegen die Transformation von demokratischer Politik in Verwaltung, Beratung und Management.
Allerdings erschöpft sich demokratische Politik nicht allein in der Sichtbarmachung des politischen Konflikts. Demokratische Politik verlangt auch eine Verständigung (nicht Konsensfindung oder Problemlösung) über den Konflikt. Exakt aus diesem Grund darf eine politische Protestbewegung das Postulat der Verständigung nicht auf Dauer aufkündigen, wenn sie ihren freiheitlich-emanzipatorischen Gehalt behalten will. Mit ‚auf Dauer‘ meine ich, dass Protestbewegungen stets eine konfrontative, mitunter auch gewaltsame Seite haben, denn – darauf hat Robin Celikates (2013: 225) zurecht hingewiesen: Ohne faktische Konfrontation kann Protest seine symbolische Bedeutung häufig gar nicht ausbilden. Wenn man auf einem öffentlichen Platz ein Camp errichten oder in einem Gebäude ein autonomes Zentrum erhalten will, von dem eine gewisse politische Symbolik ausgehen soll, dann muss man diesen Platz und dieses Gebäude auch verteidigen. Anderenfalls bleibt es bei einer leeren und wirkungslosen Willensbekundung. Damit rechtfertigt man nicht den militanten Irrglauben, der uns aus Pamphleten wie „Irgendwann werden wir schießen müssen“ entgegenschlägt und wo für den Einsatz von „Hand- und Schnellfeuerwaffen“ plädiert wird – ein Pamphlet, das nach den Ausschreitungen in Hamburg im Dezember von einer Gruppe mit dem Namen „Das unverbesserliche Kollektiv“ (2013) veröffentlicht wurde. Die Überzeugung, dass Protest mitunter nicht ohne faktische Konfrontation auskommt, speist sich lediglich aus dem Zweifel am Goodwill und an der unmittelbaren Kooperationsbereitschaft der Regierenden.
Wenn jedoch die Konfrontation das alleinige Moment der Bewegung darstellt und der verständigungsorientierte Umgang mit dem politischen Gegner nicht zum politischen Repertoire gehört, dann wird sie über kurz oder lang einen guten Teil ihres emanzipatorischen Gehalts verlieren. Aus welchem Grund? Ohne Austausch und Irritationen tendieren die diskursiven Praktiken im Inneren der Protestbewegung dazu, eine absolute Gegnerschaft zum politischen Establishment herauszubilden und zu zementieren. Aus einem agonistischen Antagonismus droht eine Freund-Feind-Beziehung zu werden (vgl. Mouffe 2007: 30ff.).[3] Dabei werden die reflexiven demokratischen Praktiken im Inneren von Protestbewegungen unterminiert; aus Diskussion und Debatte wird angewandte Ideologie; es dominieren Plattitüden, Stereotypen und ‚Halbwissen‘, die im Dienste der Selbstvergewisserung stehen, anstatt zur Ausbildung politischer Urteilskraft beizutragen. Hinzu kommt, dass so eine politische Haltung zustande kommt, die möglicherweise berechtigte Einwände, Kompromisse oder Alternativvorschläge der Gegenseite gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen kann. Streit, Diskurs und Debatte werden dann nicht nur unnötig, sondern auch unmöglich. Statt durch Protest zu einem öffentlichen Diskurs und zur politischen Bewusstseinsbildung beizutragen, droht weit eher die Eskalation des Konflikts.
Auch Protestbewegungen in modernen Demokratien haben eine gewisse politische Verantwortung zu übernehmen – nicht zuletzt auch deshalb, weil die ihnen zugrunde liegenden Praktiken sich der demokratischen Erfahrung verdanken. Eine wahrlich demokratische politische Ordnung zeichnet sich nämlich nicht zuletzt durch ihren ‚Ermöglichungscharakter‘ aus, das heißt, dass sie radikalen Protest als Akte der Repolitisierung und damit des zivilen Ungehorsam deuten kann und zulässt. Dies ist insofern von fundamentaler Bedeutung, als in Demokratien politischer Protest nicht prinzipiell zur großen Heldentat werden muss, nicht prinzipiell zu einer Frage von Leben oder Tod. Genau unter diesem Vorzeichen aber steht Protest meist in Diktaturen, autoritären oder gar totalitären Regimen. Hier steht zu befürchten, dass jeder politische Protest mit Gewalt und Terror erstickt wird. Dass dem so ist, macht den radikalen Protest in Demokratien jedoch nicht weniger legitim. Die beschriebene Repolitisierung durch radikalen Protest bestätigt nur den spezifischen Unterschied zwischen autoritären und demokratischen Gesellschaften. Gerade weil radikaler politischer Protest in vielerlei Hinsicht moderne Demokratien repolitisiert und ein Bestandteil des demokratischen Zusammenlebens ist, ist er im Geiste einer demokratischen Verfassung und folglich auch als ziviler Ungehorsam zu verstehen.
Christian Volk; Politische Theorie und Ideengeschichte (Politikwissenschaft)
volkch@uni-trier.de
Buchstein, Hubertus / Jörke, Dirk (2003): Das Unbehagen an der Demokratietheorie. In: Leviathan 31, 470-495.
Celikates, Robin (2013): Ziviler Ungehorsam zwischen Gewaltfreiheit und Gewalt. In: Franziska Martinsen / Oliver Flügel-Martinsen (Hg.), Gewaltbefragungen. Beiträge zur Politischen Philosophie der Gewalt. Bielefeld: Transcript Verlag, 215-229.
Das unverbesserliche Kollektiv (2013): Irgendwann werden wir schießen müssen. https://linksunten.indymedia.org/node/102039 (letzter Zugriff am 10.8.2014).
Heinemann, Christoph / Iksanov, Anastasia / Bromberg, Wiebke (2013): Die Schlacht um die Schanze. http://www.mopo.de/polizei/4700-randalierer--3168-polizisten-die-schlacht-um-die-schanze,7730198,25708136,item,2.html (letzter Zugriff am 10.8.2014).
Mouffe, Chantal (2007): Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.
Rawls, John (1998): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.
Volk, Christian (2013): Zwischen Entpolitisierung und Radikalisierung. Zur Theorie von Demokratie & Politik in Zeiten des Widerstands. In: Politische Vierteljahresschrift 1/2013, 75-110.
Wagner, Richard (2014): Mit der Klobürste. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.1.2014. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/hamburg-mit-der-klobuerste-12748725.html (letzter Zugriff am 16.6.2014).