Was ist das X im Postmigrantischen?

Paul Mecheril

Der Ausdruck ‚postmigrantisch‘ – so mein Verständnis als jemand, der hin und wieder Texte zu ‚postmigrantischer Gesellschaft‘ liest oder ‚postmigrantische Theaterstücke‘ sieht und hört – schließt an eine bestimmte Weise der Verwendung und des Gebrauchs des Präfixes ‚post‘ an, wie sie in der Rede über beispielsweise Postfeminismus, Poststrukturalismus, Postkommunismus oder Postkolonialismus deutlich wird. So unterschiedlich diese Redeweisen sind und so unterschiedlich auch das Spektrum des Gebrauchs jedes einzelnen Post-Wortes ist, so unzweideutig ist jedoch, dass Post-X – nur dies begründet das P-Präfix – in einem bestimmten Verhältnis zu X steht: ‚nach X‘. Dieses ‚nach X‘ weist hierbei sowohl ein empirisches als auch ein politisch-normatives Moment auf. So meint Postkolonialismus das, was historisch nach dem Zusammenbruch nicht nur einzelner kolonialer Regime, sondern der Legitimität des Kolonialismus überhaupt beobachtbar war und ist, und zugleich von diesen kolonialen Strukturen in Sprache, Recht, Identität, Politik und Ökonomie vermittelt wird. Darüber hinaus artikuliert sich im Gebrauch des Wortes Postkolonialismus aber auch eine Kritik an kolonial-imperialen Überlegenheitspraxen; Postkolonialismus ist immer auch ein politisch-normativer Einsatz für das Erkennen von durch koloniale Muster vermittelten Herrschaftsstrukturen, ein Engagement für ihre Schwächung und ihre Überwindung.

Hierbei findet sich das empirische und politisch-normative Moment in der Rede von ‚nach X‘ in den bekannten ‚Post-Wendungen‘ in allemal ungleicher (und insofern je untersuchenswerter) Weise. Das programmatisch-normative Moment in der Verwendung des Ausdrucks Postnationalsozialismus hat selbstverständlich eine andere Kraft und Bedeutung als in jener von Postfeminismus oder Postmoderne. Und dennoch scheint es berechtigt, in jeder Rede von Post-X nicht allein ein empirisches Statement im Hinblick auf die Schwäche, das Ende oder die Transformation von X zu erkennen, sondern auch eine normative Distanzierung von X (etwa: Bestärkung des Regimes der Zweigeschlechtlichkeit in und durch feministische(n) Positionen).

Was also, so will ich hier fragen, hat es mit dem empirischen und normativen Status des X im Postmigrantischen auf sich? Ist das Migrantische empirisch zu und am Ende? Und/oder: Ist das Migrantische etwas, was mit guten Gründen überwunden, mindestens transformiert werden sollte? Die Leserin ahnt schon: Ich beantworte beide Fragen mit Nein – was folgenreich ist, läuft meine Überlegung doch darauf hinaus, auf den Ausdruck ‚postmigrantisch‘ zu verzichten. Ich denke nämlich, dass es in der gegenwärtigen Situation nicht um eine Absetzbewegung vom Migrantischen, sondern von bestimmten einflussreichen politischen, diskursiven und kulturellen Reglementierungen migrationsgesellschaftlicher Phänomene (bzw. des Migrantischen) gehen sollte. Der Ausdruck ‚postmigrantisch‘ distanziert sich in meinem Verständnis gewissermaßen vom falschen Objekt.

Hiermit meine ich aber nicht, dass die (migrations-)gesellschaftliche Diagnose und der politische migrationsgesellschaftliche Einsatz, die sich mit dem Zeichen des Postmigrantischen verbinden, nicht einsichtig seien.

Ganz im Gegenteil. Die Kritik ist meines Erachtens zutreffend, aber ich verstehe sie eher als Beiträge zur Auseinandersetzung um die Frage, welche Gruppen wie und mit welchen Interessen ihre Version migrationsgesellschaftlicher Wirklichkeit hegemonial werden lassen, und denke, dass Kritik eine falsche Richtung einschlägt, wenn sie danach trachtet, eine Distanz zum Migrantischen zu gewinnen. Es geht um die politische, kulturelle, epistemische Besetzung des Migrantischen/des Migrationsgesellschaftlichen, nicht um seine Überwindung.

Vielleicht ist es überzeugend zu sagen, dass die Verwendungsweisen und Verwendungskontexte des Postmigrantischen trotz aller Diversität vier grundlegende Kritikpunkte an der Art und Weise kennzeichnen, wie in einseitigen Verengungen Migration thematisiert wird:

Diese viergliedrig wiedergegebene Kritik, die sich meiner Wahrnehmung nach nicht allein, aber auch in der analytisch-normativen – d. h. erkenntnispolitischen – Praxis artikuliert, die mit dem Ausdruck postmigrantisch verbunden ist, ist überzeugend und wichtig. Die spielerische, ironische, zum Teil abfällige Art, mit welcher jene Positionen in den Blick geraten, die an dem kritisierten gesellschaftlichen Regulationszusammenhang festhalten, macht Stärke und Attraktivität der postmigrantischen Kritik aus. Die an andere kritische Analysen anschließende, diese bündelnde und ihnen wenn auch kein Gesicht, so doch einen Namen verleihende Kritik im Zeichen des Postmigrantischen ist überzeugend, ich zumindest stimme ihr zu.

Ich würde diese Kritik aber nicht ‚postmigrantisch‘ nennen. Diese Bezeichnungspraxis ist nicht nur irreführend, sondern auch gefährlich. Irreführend daran ist die Suggestion, migrantische Phänomene gehörten empirisch eher einer nach wie vor zwar wirksamen, aber eben vergangenen Vergangenheit an; gefährlich ist die normative Botschaft, das Migrantische sei etwas, von dem sich abzusetzen angeraten sei. Ohne hier eine Distinktionspraxis zu vermuten, in der sich unter der Hand die kosmopolitische, bürgerlich-akademische Metropostmigrantin selbst zum Maß der Dinge macht, scheint mir die Gefahr einer Überblendung bedeutsam. Denn der Kampf beispielsweise gegen die Defizitzuschreibung oder gegen Integrationszumutungen war immer schon Bestandteil der migrationsgesellschaftlichen – wir können auch sagen migrantischen – Realität, so wie im Übrigen auch beispielsweise die komplizenhafte Anerkennung der Defizitzuschreibung oder die Zustimmung zu Integrationszumutungen Kennzeichen gegenwärtiger (post-?)migrantischer Verhältnisse ist. Prozesse der Migration gehen mit grundlegenden Wandlungsprozessen einher, die nicht allein spezifische gesellschaftliche Bereiche, sondern vielmehr Strukturen und Prozesse gesellschaftlicher Verhältnisse im Ganzen betreffen. Die durch Migrationsphänomene angestoßenen Prozesse der Pluralisierung und der Vereinseitigung, der Differenzierung und der Entdifferenzierung, der Segregation und der Vermischung des Sozialen sind und waren schon immer vielfältig, nie nur auf einen Typus (etwa Emigration/Immigration) beschränkt und nie allein aus einer Perspektive (etwa der der klassischen Integrationsforschung) vollständig erfassbar. Dies ist sicher kein exklusives Kennzeichen gegenwärtiger migrationsgesellschaftlicher Verhältnisse. Migration ist für mich eine Perspektive, mit der soziale Phänomene und Kontexte erfasst werden, für die die Überschreitung politischer und symbolischer Grenzen natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit durch Menschen, Artefakte und Praxisformen konstitutiv oder zumindest kennzeichnend ist: Übersetzung oder Vermischung als Folge von Wanderungen, Entstehung von Zwischenwelten und hybriden Identitäten, Phänomene der Zuschreibung von Fremdheit, Strukturen und Prozesse des Rassismus oder auch die Erschaffung neuer Formen von Ethnizität und vieles andere mehr – all dies gehört zur migrationsgesellschaftlichen Realität, ist adressiert und sollte in den Blick genommen werden, wenn wir von Migration sprechen. In der Bezeichnung ‚postmigrantisch‘ wird nun der irrige Eindruck erweckt, diese Phänomene und angemessene Formen seiner Darstellung und Vertretung kämen erst mit der postmigrantischen Wende ins Spiel. Gefährlich ist dieser irrige Eindruck, weil er, wie es Sprachwendungen nun mal an sich haben, produktiv wirkt und vielleicht paradoxerweise das Bild der Schmuddeligkeit des Migrantischen bestätigt, das in Deutschland zumindest lange Zeit gesellschaftlich vorherrschend war und mittlerweile einem spezifischen Schmuddelbild gewichen ist: Schmuddelig sind nicht mehr alle Migrant_innen, sondern nur noch diejenigen, die nutzlos sind. In der Distanzierung und der Absetzbewegung des Postmigrantischen von ihrem unbenannten X wiederholt sich die Abfälligkeit der sich als nichtmigrantisch imaginierenden, symbolischen Mehrheit gegenüber dem schmuddeligen Migrantischen.

Autor_innen

Paul Mecheril ist Erziehungswissenschaftler. Er arbeitet zu Migration, Zugehörigkeiten, Bildung sowie sozialen Differenz- und Dominanzverhältnissen.

paul.mecheril@uni-oldenburg.de