Im Treibhaus wächst der Eigensinn. Methode(n), Migration und Widerstand

Olaf Tietje

Studien zu Migration scheinen in den Sozialwissenschaften oftmals vor allem die „Inkorporation“ (Levitt/Glick Schiller 2004: 1002, Übers. OT) der Migrant_innen in neue Länder zu rekonstruieren: Bewegungen werden zielorientiert und einseitig gerichtet gelesen. Anschließend an derartige Vorannahmen bleiben Analysen oftmals einem gewissen methodologischen Nationalismus verhaftet (vgl. Amelina 2010, Levitt/Glick Schiller 2004). Eigensinnige Praktiken und widerständige Handlungen bleiben beziehungsweise werden in der Folge derart homogenisierender Perspektiven zumindest in Teilen unsichtbar. Ebenso bleiben Beweglichkeiten, flexible Positionierungen sowie subversive Praktiken innerhalb von Macht- und Herrschaftsverhältnissen relativ unbeleuchtet.

Ausgehend von der Forschung zu meinem Dissertationsprojekt untersucht dieser Artikel Beweglichkeiten und die mit diesen verbundenen methodologischen Möglichkeiten in der andalusischen Stadt Almería und dem an ihr symbolisch festgemachten Regime der europäischen Migrationskontrolle. Dabei werde ich vor allem der Frage nachgehen, welche methodischen Voraussetzungen notwendig sind, um (unsichtbare) eigensinnige Praktiken und Widerstände rekonstruieren zu können. Dieses werde ich exemplarisch an der Besetzung einer Finca in Almería im Mai 2013 durch die dort irregulär beschäftigten marokkanischen Arbeiter_innen darstellen. Als eigensinnige Praktiken verstehe ich insbesondere solche, die in gewisser Weise dissident sind und etwas zur als normal verstandenen Ordnung Verschobenes entstehen lassen können, ohne dabei frei von strukturellen Komponenten oder eben auch Zwängen zu sein (vgl. Tietje 2015).

Flexibilität und Beweglichkeit

Die Grenze der EU schließt in der andalusischen Stadt Almería mit dem Mittelmeer an. Wegen der relativen Nähe zur spanischen Enklave Melilla auf dem afrikanischen Kontinent (ca. 190 km über das Mittelmeer) befindet sich die Stadt in einer landwirtschaftlich geprägten Region direkt an einer stark frequentierten Migrationsroute in die EU und aus ihr heraus. Infolge der intensivierten Gemüseproduktion im Anschluss an globalisierte Absatzstrukturen benötigten die Produzent_innen in den letzten Jahrzehnten immer mehr flexible und vor allem ‚billige‘ Arbeitskräfte (vgl. Hartkemeyer 2007: 92 f., Tietje 2015). Mit dem Ende des Franquismus 1975 und dem Beitritt Spaniens zur EU 1986 stieg die Zahl der Migrant_innen vor allem aus Marokko in der Provinz deutlich an. Viele von ihnen begannen in der regionalen Landwirtschaft zu arbeiten (vgl. Hartkemeyer 2007: 96 f., Tietje 2015). Gegenwärtig arbeiten in der Provinz Almería in den 40.000 ha Treibhäusern beinahe ausschließlich Migrant_innen – viele von ihnen ohne gültige Papiere für die EU oder eine entsprechende Arbeitserlaubnis (vgl. Hartkemeyer 2007: 100, Tietje 2015).

Methode und Flüchtigkeiten – methodologische Flüchtigkeiten?

In diesem Grenzraum, in welchem die industrialisierte landwirtschaftliche Produktion eine der hauptsächlichen Bezugsmöglichkeiten von Lohnarbeit ist, werden verschiedene Konzepte von Flexibilität, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zu ausschlaggebenden Faktoren für die Konstruktion des Forschungsfeldes – ebenso wie auch Flüchtigkeiten. Mit ‚Flüchtigkeiten‘ sollen an dieser Stelle vor allem die Schwierigkeiten thematisiert werden, die eine geografische Isolierung von Forschungsfeldern mit sich bringt (vgl. Marcus 1986: 178). Durch eine solche geraten nämlich andere räumliche und/oder zeitliche Zusammenhänge aus dem Blick.

Rekonstruktionen im Kontext irregulärer Arbeit und der ‚Illegalisierung‘ von Menschen vorzunehmen, bedeutet in einem Kontext zu forschen, der sich genau diesem weitestgehend entziehen will – und es eben auch können muss (vgl. Karakayali 2010: 266). Wissen über ein flüchtiges „soziales Feld“ (Levitt/Glick Schiller 2004: 1009, Übers. OT) zu erzeugen, heißt auch, eine methodologische Herangehensweise zu entwickeln, die unsichtbare Aspekte rekonstruieren kann (vgl. Star 1991: 265 ff.). Entsprechend gilt es diese Flüchtigkeiten zunächst zu akzeptieren und im Weiteren nachzuzeichnen, um sie aufnehmen zu können. Im Kontext irregulärer Arbeit sind die Verhältnisse, in denen die jeweilige Lohnarbeit stattfindet, dementsprechend nicht bloß undokumentiert, sondern in der Folge auch unsicher, unsichtbar und zugleich flexibel – ohne wirklich beliebig zu sein (vgl. Mezzadra 2007: 183). Ausgehend von diesen Annahmen wird deutlich, dass weder die geografische Begrenzung des Forschungsfeldes (etwa als Stadt an der Grenze) noch seine zeitliche Begrenzung einen zufriedenstellenden Rahmen liefert. Die Thematiken halten nicht an und setzen aus, beziehungsweise werden an dem einen Ort sichtbar. Sie sind beweglich, bleiben es und bezogen auf Widerstände oder Eigensinnigkeiten gilt es, sich von den Akteur_innen und Aktanten an die (flüchtigen) Bruchlinien heranführen zu lassen (vgl. Hess/Tsianos 2010, Stephenson/Papadopoulos 2006, grundlegend Strauss/Corbin 1996).

Für das Beispiel der Besetzung, als ein möglicher Bruch, bedeutete das etwa, dass ich gemeinsam mit einem Gewerkschafter der SOC/SAT[2] aus Almería zu einer von marokkanischen Arbeiter_innen besetzten Finca im Umland der Stadt fuhr. Diese hatten sich dort als Jornaler@s sin Patrón (Tagelöhner_innen ohne Chef) zusammengeschlossen und die selbstorganisierte Bewirtschaftung eines Teilbereichs der Finca eingeleitet. Der Besitzer dieser Finca war über Nacht verschwunden und hatte den ausstehenden Lohn der Arbeiter_innen von teilweise über acht Jahren mitgenommen. Die Jornaler@s sin Patrón sahen in der Besetzung die einzige Möglichkeit, zumindest an Teile ihres Lohnes zu gelangen. Im Verlauf der Besetzung verloren immer mehr Arbeiter_innen das Vertrauen in diese, beziehungsweise waren gezwungen sich an anderen Orten nach einer Lohnarbeit umzusehen. Bis schließlich nach etwa einem Jahr die Stadt die Wasserversorgung der Finca einstellte und damit das Projekt zumindest derzeit keine Perspektive mehr hat.

Um bei der Rekonstruktion dieser Brüche beweglich bleiben zu können, sind die in der Grounded Theory entwickelten Instrumente des andauernden Vergleichens und damit verbunden des offenen, axialen und selektiven Kodierens von besonderer Relevanz (vgl. Strauss/Corbin 1996). Wissen, Bedeutungen und Wahrheit entstehen durch Handeln in Interaktionen. Sie werden nicht von den Forscher_innen im Feld gefunden, sondern aktiv von ihnen mit hergestellt (vgl. Strauss/Corbin 1996: 8, Wagels 2013: 80). Basierend auf diesen Annahmen bilden nicht Theorien die Grundlage der Datenkonstruktion und Wissensrekonstruktionen, sondern die Daten bilden die Grundlage von Theoretisierungen. Durch ein solchermaßen bewegliches Vorgehen lassen sich an den Stellen, an welchen „bereits viel Wissen – in Form von Kategorien und Abstraktionen – besteht“ (Wagels 2013: 81), Konzepte und Konstruktionen immer wieder neu kritisch hinterfragen. Auf diese Weise es möglich, auf Unsichtbarkeiten zu verweisen (vgl. Star 1991: 277ff.). Um erneut zur besagten Finca zurückzukehren, gilt es, nicht nur auf die vom Produzenten im Stich gelassenen, zum Teil illegalisierten und ausgebeuteten Migrant_innen zu fokussieren, sondern auch auf die Jornaler@s sin Patrón zu blicken, die auf der Suche nach Handlungsoptionen eigensinnig agierten.

Wollen wir als Forscher_innen methodische Ausschlüsse hinterfragen, unter anderem auch, um von dieser Warte aus widerständige Praktiken in einem Kontext kontrollierender Regierung zu rekonstruieren, sind die traditionellen Möglichkeiten der Feldforschung begrenzt (vgl. Marcus 1995: 96). Im Zusammenhang mit Migration wird so häufig auf als ‚kulturell‘ beschriebene Aspekte fokussiert. Gruppen werden gebildet, es wird homogenisiert und z.T. noch immer zumindest vordergründig viktimisiert (vgl. Hess/Tsianos 2010: 259). Die Akteur_innen im Forschungsfeld werden oftmals als isolierte Phänomene betrachtet (vgl. Levitt/Glick Schiller 2004: 1003, Marcus 1986: 168, 178, Nadai/Maeder 2005: 9).

Diesem Vorgehen stelle ich zwei grundlegende Aspekte gegenüber: Erstens soll es nicht darum gehen, geschlossene, als homogen und isoliert verstandene ‚kulturelle‘ Zusammenhänge zu konstruieren (vgl. Amelina 2010: 5ff., Marcus 1995: 96f.). Das Konzept des sozialen Feldes, wie es Peggy Levitt und Nina Glick Schiller skizzieren, liefert hier eine Folie. Ein solches Feld beschreiben sie als „Zusammenstellung multipler, miteinander verzahnter Netzwerke sozialer Beziehungen, über die Ideen, Praktiken und Ressourcen ungleichmäßig ausgetauscht, organisiert und transformiert werden” (Levitt/Glick Schiller 2004: 1009, Übers. OT). Dementsprechend geht es nicht darum, die verschiedenen Praktiken und Lebensweisen von Menschen in einem wie auch immer eingegrenzten Rahmen als ‚kulturell‘ zu konstruieren, sondern eben diese vielfältigen und differierenden Positionen zu rekonstruieren (vgl. Nadai/Maeder 2005: 22). Zweitens ist es – auch im Zusammenhang von Ausbeutung im Kontext neoliberaler ‚Optimierung‘ industrieller Produktion – stark vereinfachend, lediglich auf viktimisierende Lesarten von Situationen zu fokussieren (vgl. Hess/Tsianos 2010: 247, Marcus 1986: 168). Vielmehr soll es mit dem Rückgriff auf die Praxis des andauernden Hinterfragens auch möglich sein, die eigensinnigen und widerständigen Praktiken der Landarbeiter_innen zu rekonstruieren (vgl. Hess et al. 2014: 14).

Vor diesem Hintergrund erscheint die Multi-Sited-Ethnography (MSE), wie sie von George E. Marcus 1995 zur Diskussion gestellt wurde, als eine erfolgversprechende Möglichkeit, den Bewegungen im Feld sowohl physisch als auch semantisch zu folgen (vgl. Marcus 1995: 106). Die MSE verlangt die privilegierte Position einer ethnographischen Perspektive zu hinterfragen und den Focus auf andere, ebenfalls rekonstruierbare Wissens- und Bedeutungsproduktionen jenseits der subordinierenden, zu lenken (vgl. Marcus 1995: 101). Es gilt eine wissenschaftliche Perspektive „von unten“ (Haraway 1995: 83) einzunehmen, aber auch intersektionale Verschränkungen in den Fokus zu rücken: mensch ist nicht nur Landarbeiter_in, Frau oder Migrant_in. Dergestalt verweist eine intersektionale Lesart auf die verschiedenen Dimensionen von Wissens- und Bedeutungsproduktionen (vgl. Klinger/Knapp 2008).

Die methodologische Notwendigkeit, sich mit unterschiedlichen sites (Orten) auseinanderzusetzen und diese in die Forschung mit einzubeziehen, bedeutet laut Marcus, sich darauf einzulassen, den Spuren des Forschungsinteresses zu folgen und sich unter Umständen mit den Menschen, Dingen, Geschichten, Biographien, Metaphern oder – wie für das Beispiel der besetzten Finca – den Konflikten zu bewegen (vgl. Marcus 1995: 106 ff.). Diese sites bieten hierbei eine Möglichkeit, Grenzen oder zumindest begrenzende Punkte von Forschungsfeldern auszumachen, die in globalisierten Kontexten extrem ausfasern (vgl. Nadai/Maeder 2005: 10). Unter diesen Voraussetzungen ist das Forschungsfeld als eine Sammlung von Praktiken in unterschiedlichen und komplex miteinander verbundenen Orten zu lesen (vgl. Nadai/Maeder 2005: 11). Dennoch können auch hier schwerlich alle möglichen Orte in die Analysen aufgenommen werden, unter anderem da mensch wahrscheinlich nicht auf alle aufmerksam (gemacht) werden wird.

Entsprechend dieser Bewegungen werden sozialräumliche Perspektiven in der vorgeschlagenen Praxis der Forschung offensichtlich. Zugleich wird ebenfalls die Verknüpfung mit den von Anselm Strauss vorgeschlagenen ‚sozialen Welten’ und ‚Arenen’ deutlich. Die von ihm als kleinste soziale Einheiten bezeichneten kollektiven Akteur_innen (‚soziale Welten’), etwa die Jornaler@s sin Patrón, agieren innerhalb sozialer Arenen in Aushandlungs- und Konfliktprozessen (vgl. Strauss 1978). Entgegen einer positivistisch zugespitzten Lesart der Grounded Theory, welche eine gewisse Linearität normativer Erwartungen bezogen auf solche Produktionen zum Ausdruck bringt (vgl. Clarke 2012: 75 f.), soll daran anschließend von sozialer Positionalität und einer eher kartographischen Metapher ausgegangen werden (vgl. Clarke 2012: 76). Die von Georg E. Marcus in der MSE erfolgte Aufforderung, den Forschungsinteressen zu folgen (vgl. Marcus 1995: 106 ff.), klingt nach und nimmt – indem nicht-menschliche Aspekte (Aktanten) einbezogen werden (vgl. Clarke 2012: 101 ff.) – an der relationalen Produktion von verschiedenen Räumen und Orten teil (vgl. Massey 1985: 12, Massey 1996: 80). Im Kontext der Finca ist hier zwischen den Treibhäusern zu unterscheiden, die von unorganisierten Arbeiter_innen und jenen, die selbstorganisiert von den Jornaler@s sin Patrón bewirtschaftet wurden. Ebenso gilt es zu rekonstruieren, welcher Raum durch die Verschiebung von den Arbeiter_innen zu den Jornaler@s sin Patrón sichtbar wird und die Frage zu stellen, welche möglichen Auswirkungen diese erzeugt. So bleiben zwar die Aktanten wie auch die Akteur_innen im Wesentlichen dieselben, es verändern sich aber in Teilen die sozialen Beziehungen, Praktiken und in Folge die Symboliken der Räume.

Die von Adele Clarke als ‚Postmodernisierung‘ der Grounded Theory entworfene Situationsanalyse steht in direktem Bezug zu diesen Produktionen (vgl. Clarke 2012) und fokussiert das Situative an Prozessen und Situationen, um auf diese Weise mithilfe von maps[3] eine intensivere Analyse, eine weiterführende ‚Öffnung‘ der Daten zu erreichen (vgl. Clarke 2012: 121). Ein entscheidender Teil dieser maps ist es, „Informationen, Annahmen und so weiter offenzulegen“ (Clarke 2012: 123) und auf diese Weise die unsichtbaren Aspekte, die Leerstellen, sprachlosen Diskurse und flüchtigen Praktiken zu rekonstruieren beziehungsweise überhaupt auf jene Positionen in der Forschung zu stoßen (vgl. Clarke 2012: 124).

Mapping Resistance

Adele Clarke schlägt drei Haupttypen des mappings vor. Erstens die „Situations-Maps“ (Clarke 2012: 124): Diese funktionieren zunächst als Strategie der Rekonstruktion von forschungsrelevanten Elementen und anschließend den Beziehungen zwischen diesen Elementen des Forschungsfeldes. Zweitens die maps von sozialen Welten/Arenen, mittels derer die „kollektiven Verpflichtungen, Beziehungen und Handelsschauplätze“ (Clarke 2012: 124) analysiert werden. Und drittens die „Positions-Maps“ (Clarke 2012: 124). Letztere beschreibt sie als eine Strategie, mit welcher Diskurse auf eine vereinfachte grafische Darstellung gebracht werden können, vor allem auch, um die „nicht zur Sprache gebrachten Positionen“ (Clarke 2012: 124, kursiv original) rekonstruieren zu können. Diesen drei Mapping-Strategien können – ganz im Sinne der Grounded Theory – unterschiedliche Arten von Daten als Ausgangslage dienen (vgl. Clarke 2012: 124). Meiner Forschung in Almería etwa liegen teilnehmende Beobachtungen, narrative Interviews und Expert_inneninterviews zugrunde. Es wäre aber auch leicht möglich, andere Praktiken zur Konstruktion der Daten in das Verfahren zu integrieren.

Im folgenden Teil dieses Beitrags möchte ich ausschnitthaft eine Möglichkeit darstellen, die drei vorgestellten methodologischen Ansätze der Grounded Theory, MSE und Situationsanalyse zu verknüpfen. Für die Situations-Maps wurde intendiert, alle „analytisch relevanten menschlichen und nicht-menschlichen, materiellen und symbolischen/diskursiven Elemente“ (Clarke 2012: 125) einer bestimmten Situation in eine map aufzunehmen. Für die Situation der Besetzung einer Finca im Mai 2013 in der Provinz Almería waren das unter anderem die Arbeiter_innen, der Produzent, Gewerkschaften, das Rote Kreuz, Treibhäuser, Verträge, Vertrauen, der Lohn sowie einige andere mehr (vgl. weiter unten Abb.1 und Abb.2).

Im nächsten Schritt wurden dann die Beziehungen der Aktanten und Akteur_innen zueinander rekonstruiert (vgl. Clarke 2012: 140 f.), wie beispielhaft in Abbildung 1 zentralisiert für die Arbeiter_innen als Linien dargestellt. Diese Analysen können dann etwa dadurch erweitert werden, dass weitere Beziehungen fokussiert werden. So wurde in Abbildung 2 beispielhaft die relationale Analyse auf die Jornaler@s sin Patrón zentralisiert, die zwar personell für die Situation beinahe deckungsgleich mit den Arbeiter_innen sind, für den Kontext aber eine andere Bedeutung erfahren. Dieses sollte für alle in der map enthaltenen Elemente durchgeführt werden und dabei so intensiv, wie es nützlich erscheint (vgl. Clarke 2012: 141). Folglich stellen die Abbildungen 1 und 2 keine Ergebnisse, sondern lediglich veranschaulichende Ausschnitte aus dem Prozess der Rekonstruktion dar. Ebenfalls sind die relationalen Situations-Maps – wie aus den vorherigen Ausführungen deutlich wird – lediglich einer von mehreren Auswertungsschritten, die immer wieder aufeinander und auf die Daten zurückbezogen werden müssen.

Die relationalen Analysen der maps haben so in der unterschiedlichen Fokussierung von Abbildung 1 zu Abbildung 2 die Ambivalenz von ‚Sprechen‘ und ‚Nicht-Sprechen‘ besonders deutlich hervorgehoben. Ebenso werden durch den verschobenen Fokus variierende Beziehungen von ‚Sichtbarkeit‘ und ‚Unsichtbarkeit‘ mit den jeweiligen Akteur_innen und Aktanten lesbar. Dieses Vorgehen ermöglicht bspw. Unsichtbarkeit als diskursives Element illegalisierter Arbeiter_innen als direkten Widerspruch zur medienwirksam inszenierten Besetzung der Finca durch die Gruppe Jornaler@s sin Patrón in Zusammenarbeit mit der radikalen Gewerkschaft SOC/SAT zu lesen. Die Besetzung der Finca und die mit ihr verbundenen eigensinnigen Praktiken der Arbeiter_innen – bezogen auf die Aneignung von Raum, Produktionsbedingungen und damit verbunden der Produktion einer Sprecher_innenposition – produziert(e) Sichtbarkeit.

Abb. 1 Relationale Analyse einer Situations-Map: Arbeiter_innen (Quelle: Eigene Daten).
Abb. 1 Relationale Analyse einer Situations-Map: Arbeiter_innen (Quelle: Eigene Daten).
Abb. 2 Relationale Analyse einer Situations-Map: Jornaler@s sin Patrón (Quelle: Eigene Daten).
Abb. 2 Relationale Analyse einer Situations-Map: Jornaler@s sin Patrón (Quelle: Eigene Daten).

Die Methode der MSE sah in diesem Zusammenhang vor, dem konkreten Konflikt zu folgen (vgl. Marcus 1995: 110). Dementsprechend habe ich auf der besetzten Finca Interviews und teilnehmende Beobachtungen durchgeführt, welche wiederum für die Rekonstruktion der Situation eine spezielle Bedeutung produzieren konnten. Weitere sites waren unter anderem Gewerkschaftsbüros und Beratungsgespräche der SOC/SAT in Almería, El Ejido, San Isidro und Nijar, sowie Wohnzusammenhänge der Arbeiter_innen und andere Fincas. Aber auch einzelne Arbeiter_innen, ihre Lebensgeschichten, die Geschichte der SOC/SAT und der Migration nach Almería beziehungsweise ins ‚Plastikmeer‘: Sites sind nicht bloß physisch, sondern auch semantisch zu lesen. Zur Analyse der auf diese Weise produzierten Daten bot die Grounded Theory Werkzeuge an. Vermittelt durch die Situationsanalyse und die Forschungspraxis der maps ließen sich anschließend Zwischenräume lesen, welche in den Positionen jenseits von Identitätspolitiken rekonstruierbar waren (vgl. Clarke 2012: 166): Mit der Besetzung öffnete sich zum Beispiel ein solcher Zwischenraum, der auf der einen Seite die Ausmaße der Ausbeutung verdeutlicht, auf der anderen Seite aber auch auf eigensinnige Praktiken verweist. Weiter entwickelten sich mit und aus der Besetzung Dynamiken und Verbindungen in der als ‚Meer aus Plastik‘ bezeichneten Umgebung Almerías (wie auch in der Stadt selbst), die sich sowohl zeitlich als auch örtlich weit auseinander bewegen und auf die Brüche in der andauernden (Re-)Produktion viktimisierender Erzählungen über migrantische Arbeiter_innen verwiesen.

In sozialen Räumen werden Anforderungen produziert, die von den Akteur_innen in einer Stadt Bewegungen verlangen. In Almería etwa verändert die Grenze der EU andauernd ihre Gestalt, wird unklarer und unsichtbarer, ohne dass dadurch ihre Auswirkungen indifferenter würden. Als Forschungsfeld lässt sich die Stadt bezogen auf Migration und die Arbeit der Migrant_innen weder räumlich noch zeitlich klar eingrenzen und verweist immer wieder auf Leerstellen und Zwischenräume, die aktivistisch gefüllt werden können und eigensinnigen Praktiken Raum bieten.

Nicht zuletzt verlangt das vorgeschlagene Vorgehen die zumindest zeitweilige physische Anwesenheit der Forscher_in im jeweiligen Kontext, um die Bewegungen zu erfahren – beziehungsweise selbst an deren Produktion mitzuwirken (vgl. Marcus 1995: 113, Nadai/Maeder 2005: 21ff., Wacquant 2014: 98). Im Anschluss an diese soziologisch-ethnographische Position ermöglicht die Reflexion der Forscher_in unter Anderem der im Forschungskontext entgegengebrachten Anti-, Em- und Sympathien die wichtige Möglichkeit, eigene Vorstellungen kritisch zu hinterfragen. Im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Betroffenheiten, Ängsten, vorgefassten Vorstellungen und Irritationen (vgl. Wacquant 2014: 96f.) bietet sich die Chance, eine Brille abzulegen: In den Treibhäusern rund um und in der Stadt Almería wächst nicht nur Gemüse.

Endnoten

Autor_innen

Olaf Tietje ist Soziologe. Er forscht u. a. zu Migration, Geschlecht, Grenzen und Gewerkschaften.

Olaf.Tietje@uni-kassel.de

Literatur

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