Über die (Un-)Möglichkeit, die Beziehung zwischen Kolonialität, Urbanität und Sexualität zu thematisieren

Kommentar zu Stephan Lanz’ „Über (Un-) Möglichkeiten, hiesige Stadtforschung zu postkolonialisieren“

Jin Haritaworn

Die Kritik von Stephan Lanz an einer deutschen Stadtforschung, die die Kolonialität nordwesteuropäischer Städte wie Berlin umgeht und an entwicklungsparadigmatischen Vorstellungen von ‚Moderne‘ und ‚Tradition‘ festhält, ist willkommen und an der Zeit. Tatsächlich haben deutsche Stadtforscher_innen einen erheblichen Nachholbedarf in Forschungsfeldern wie Postkolonialität und Dekolonialität, environmental justice und Rassismus und Raum (Razack 2002, Teelucksingh 2002, McKittrick 2006). Insbesondere fehlt bislang ein Konzept städtischer Gerechtigkeit, das Gentrifizierung, Rassismus und Kolonialismus zusammendenkt (Coulthard 2013). Lanz’ Vorschlag, bei den radikalen Methodologien zu beginnen, die sich aus städtischen Kämpfen im globalen Süden ergeben, ist sinnvoll. Er illustriert deren Einfluss anhand zweier Besetzungen öffentlicher Plätze in Berlin im Jahre 2012. Die erste wurde durch Anwohner_innen der Sozialwohnungen am südlichen Kottbusser Tor organisiert und dauert zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung noch an (Kotti & Co 2012), die zweite durch geflüchtete Menschen, die den Oranienplatz besetzten und 2014 polizeilich verdrängt wurden. Letztere Besetzung berief sich direkt auf antikoloniale Diskurse und hob die Kontinuitäten des deutschen Kolonialismus in aktuellen Regimen hervor – von Wirtschaft, Militär und Grenzen bis hin zu Gefängnissen (The Voice 2013). Beide Besetzungen fanden im Herzen Kreuzbergs statt, dem Berliner Stadtteil, dessen rasanter Aufstieg vom ehemaligen ‚Gastarbeiterbezirk‘ zum gentrifizierten ‚Multikulti-Kiez‘ die Überschneidung von Rassismus, Kolonialismus und neoliberaler Stadtpolitik auf besondere Weise nahelegt. In seiner Hervorhebung der sozialen Bewegungen des Südens wandert Lanz auf einem wichtigen Grat: Einerseits benennt er diese als wichtige Inspirationsquelle für radikale Aktionen in Deutschland; andererseits weist er auf die Grenzen dominanter rassisch-nationaler Ideologien hin, die nicht-weiße Subjekte in Deutschland auf den globalen Süden beschränken, indem sie „längst einheimische Nachkommen von Einwander_innen immer wieder zu ‚Fremden‘ machen“ und die Ideologie eines weißen Deutschlands auf diese Art reproduzieren (Lanz, in Anlehnung an Tsianos 2013).

In diesem Beitrag möchte ich auf eine der von Lanz gestellten Fragen eingehen und drei weitere Fragen aufwerfen, die über diese hinausgehen. Erstens: Wie können wir – mit Lanz – das Koloniale auf eine Art untersuchen, die über ein „(bequemes) Verständnis von Postkolonialität als zeitliche Epoche“ hinausgeht (Lanz)? Wie können wir, um das bekannte Argument Stuart Halls zu zitieren (1996), das Koloniale auf eine Weise erfassen, die über eine Teleologie des „Post-“ hinausgeht? Zweitens: Was bedeutet es, sich in einem Land auf das Postkoloniale zu berufen, dessen eigene koloniale Geschichte noch immer erfolgreich unterdrückt wird? Drittens: Inwiefern nehmen auch Queer- sowie andere minorisierte Diskurse häufig an der Logik eines Kapitalismus teil, der von Anfang an ein „racial capitalism“ (Robinson 1983) und ein kolonialer Kapitalismus war (Coulthard 2013)? Und viertens: Wie kann das Einbeziehen bislang ignorierter geografischer Subjekte dazu beitragen, städtische Gerechtigkeit über koloniale Logiken hinauszudenken? Im Folgenden schlage ich vor, dass die kognitiven Landkarten von Queers of Colour, die bislang nicht von der Stadtforschung wahrgenommen werden, eine wichtige Grundlage für die Erfassung des Verhältnisses zwischen Urbanität und Kolonialität bieten.

Die Benennung des Kolonialen im deutschen Kontext ist gerade deswegen so wichtig – und so schwierig –, weil sie uns dazu zwingt, Rassismus jenseits seiner dominanten 1933-1945-Historiographie und in Kontinuität mit dem deutschen Kolonialismus und dem Hier und Jetzt zu untersuchen. Eine Untersuchung jener räumlichen Techniken, die auf die Einsperrung, Deportierung, Ausweisung und Verdrängung rassifizierter Körper abzielen, im Zusammenhang mit Genealogien der Kontrolle kolonisierter Subjekte in Afrika und dem Pazifik, steht bislang noch aus (El-Tayeb 1999, Barskanmaz 2011, Samour 2012, Sailiata 2014). Des Weiteren bleibt zu erkunden, wie räumliche Paradigmen nationale und kontinentale Grenzen überschreiten: Zum einen finden sie ihren Weg aus den Siedlerkolonien (insbesondere den USA als dem Zentrum des neuen Imperiums) ins alte Imperium zurück, zum anderen speist Europa nach wie vor die Kolonisierung Nordamerikas als nie versiegende Quelle kolonialer Ideologien sowie – was nicht zu unterschätzen ist – von Siedler_innen.

Kaum ein anderer Text aus Deutschland stellt diese praktischen, theoretischen und politischen Herausforderungen so trefflich dar wie das Khalass!!! We’re vex! Manifest (2013). Verfasst wurde der Text von Aktivist_innen, die sich selbst als „queer_trans*_inter*_Schwarz_Muslim*_Arab_Rromni*ja_mixedrace_Mizrahi_Refugee_Native_Kurdisch_Armenisch“ beschreiben. Das Manifest thematisiert Rassismus in queeren Szenen und deren Teilnahme an der Gentrifizierung Kreuzbergs und Neuköllns (Haritaworn 2009). Es wirft wichtige Fragen auf, die an Queer-of-Colour-Küchentischen in Berlin bereits seit Jahren diskutiert werden, bislang aber selten ein breiteres Publikum erreichen. Die Autor_innen gehen über eine Kritik an entwicklungsparadigmatischen Vorstellungen der modernen Stadt und ihren „vormodernen“ Anderen hinaus.[1] Darüber hinaus aber macht Khalass!!! We’re vex! Queers of Colour als geografische Subjekte sichtbar, die wichtige Beiträge zu Kämpfen für städtische Gerechtigkeit zu machen haben, z. B. in Bereichen wie Antirassismus, Antigentrifizierung und Widerstand gegen Polizeigewalt (vgl. dazu Haritaworn 2009; 2015).

„Uns geht es jetzt darum unsere Strukturen zu stärken und wir wollen von Euch dabei nicht gestört werden. Kommt nicht in unsere Communities um die Communities kaputt zu machen! Unsere Realitäten sind nicht Eure Realität! Zu unseren Strukturen gehören unsere Bezirke, unsere Viertel, in denen wir uns vor rassistischen Übergriffen geschützt fühlen. Ihr denkt nicht daran, dass Ihr für uns eine Gefahr darstellt oder, dass Ihr Teil des Problems sein könntet. Ihr redet die ganze Zeit davon, wovor Ihr Euch beim Umzug des Schwuz [eine seit langem bestehende, auf schwule Männer ausgerichtete Bar] nach Neukölln fürchtet, aber habt Ihr Euch schon mal Gedanken gemacht, wovor sich die Schwarzen und PoC [People of Colour] in Neukölln fürchten? Mieten gehen hoch, Polizeipräsenz wird noch weiter erhöht, betrunkene Partygäste pinkeln in Hauseingänge. Und die Neonazis sind nicht mehr weit, ob mit oder ohne Glatze. Unsere Räume werden zu Euren Müllhalden, zu Euren unbewohnten Billigmietefantasien. Ihr bezeichnet Euch mit Euren bourgeoisen Hausprojekten als „Pioniere“ und bemerkt noch nicht mal Eure koloniale Sprache, Eure Zivilisationsmission und dass Ihr Räume für andere weiße Siedler*innen vorbereitet. Was meint Ihr wie [Berlin-] Kreuzberg vor dreißig Jahren aussah? Arm, heruntergekommen, am Rand von Westberlin. Genau deswegen haben Vermieter*innen zugelassen, dass Schwarze und PoC dort wohnen. Euer Gedächtnis ist erstaunlich schlecht. Fällt Euch gar nicht auf, dass in Euren Bioläden und queeren Bars keine Schwarzen Nachbarn und Nachbarn of Color sind? Oder ist es Euch sogar lieber? Hört auf Geld in Anti-Homophobieprojekte […] zu investieren, kümmert Euch um die Homophobie und Transphobie in der weißen Gesellschaft!“ (Kalass!!! We’re vex! Manifest 2013)

Das Manifest verweist auf eine neue kritische Masse an Queers of Colour, die bereit sind, Rassismus und Gentrifizierung zu bekämpfen, auch wenn sie selten den Status einer nach außen hin sichtbaren Community erlangen. Diese im Entstehen begriffenen Queer-of-Colour-Narrative stellen koloniale Konzepte von Raum, Gewalt und Sicherheit in Frage, die der Territorialisierung einer singulären Homo-, Queer- oder auch Trans-Community dienen. Des Weiteren ermöglichen sie es uns zu fragen, inwiefern auch minorisierte Diskurse zu kolonial-kapitalistischen Logiken beitragen. So werden Rassismus und Kolonialismus in Diskussionen über queeren Raum zumeist umgangen oder wiederholt. Ein Beispiel hierfür ist Manuel Castells’ (1983) berühmte Studie des Castros, dem Schwulenviertel von San Francisco, die für globale Debatten zu queerem Raum nach wie vor prägend ist. Castells feiert die überlegenen räumlichen Kapazitäten weißer schwuler Männer und stellt sie den defizitären rassifizierten Bevölkerungsgruppen gegenüber, die im Zuge queerer Stadtteilbildung verdrängt werden. In Richard Floridas (2002) Konzept der kreativen Stadt, dessen Einfluss auf neoliberale Stadtpolitik enorm ist, werden diese Ideen institutionalisiert. Hier tauchen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transmenschen (LSBT) in siedlerkolonialer Manier als „Pioniere“ auf, die in Territorien vordringen, welche bislang als ungentrifizierbar galten.

Die binäre Gegenüberstellung von sexualisierten und rassifizierten Minderheiten nimmt im neuen Hasskriminalitäts-Diskurs oft einen offen feindseligen Ton an. Rassifizierte Subjekte, die in queer besiedelten Gebieten verweilen, werden hier direkt als gewalttätig, homophob, hasserfüllt, kriminell und überwachungsbedürftig beschrieben (Hanhardt 2008, Haritaworn 2009). Ein akademisches Beispiel für einen derart rassifizierten Anti-Gewalt-Diskurs war der Urban Laboratory Workshop „Backlash? The resurgence of homophobia in contemporary cities“, der 2010 am University College London organisiert wurde. Der Titel des Workshops zitierte eine Moralpanik über gefährliche ‚muslimische‘ Orte, die zu jener Zeit Ost-London ergriffen hatte. Diese Panik gipfelte im East End Gay Pride, einer Pinkwashing Demo, die von der rechtsextremen English Defence League organisiert wurde, und zwar mit starker queer-aktivistischer Beteiligung vor Ort (vgl. Decolonize Queer 2011). In der Einladung hieß es neutraler: „In letzter Zeit haben Angriffe in London und anderen Städten Homophobie als Teil des städtischen Lebens zum Vorschein kommen lassen – neben anderen Formen der Hasskriminalität und sozialen und kulturellen Grenzziehungen.“ Auf dem Programm vertreten waren mehrere queere Akademiker_innen und Aktivist_innen sowie ein Sprecher von der London Metropolitan Police (UCL 2010).

Im Gegensatz hierzu machen die kognitiven Landkarten antirassistischer Queers of Colour erkennbar, wie LSBT-Subjekte mit weißen und Mittelklasse-Privilegien längst Einzug in die neoliberale Stadt halten (Manalansan 2005, Hanhardt 2008, El-Tayeb 2012). Auch helfen sie uns zu verstehen, wie sexuell und geschlechtlich minorisierte Subjekte sehr unterschiedlich von Gentrifizierung und Polizierung betroffen sind. Von den zahlreichen nützlichen Analysen, die das Khalass!!! We’re vex! Manifest anbietet, möchte ich hier seine Kritik an der kolonialen Figur des queeren Pioniers herausgreifen. Das nonchalante Auftauchen dieser Gestalt in der deutschen Anti-Gentrifizierungs-Debatte sollte dem Manifest zufolge eine schrille Konfrontation mit der verleugneten Geschichte des deutschen Kolonialismus provozieren: „Ihr bezeichnet Euch mit Euren bourgeoisen Hausprojekten als ‚Pioniere‘ und bemerkt noch nicht mal Eure koloniale Sprache...“ Neben Afrika und dem Pazifik schließt diese Geschichte auch die (tatsächliche und symbolische) Beteiligung Deutscher an der Besiedlung Nordamerikas mit ein. Dort ist der Pionier – in Anlehnung an das Niederländische oft synonym als ‚Autochtoner‘ bezeichnet – eine zentrale Gestalt im genozidalen Drama des ‚wilden Westen‘. Bemerkenswert ist, wie diese siedlerkolonialen Figuren im Anti-Gentrifizierungs-Diskurs jener, die in Stadteilen wie Kreuzberg und Neukölln oft selbst als Gentrifizierende ankamen, zu positiven Selbstbeschreibungen werden (z. B. Trudelfisch 2010). Wie das Khalass!!! We’re vex! Manifest feststellt, geschieht dies ohne eine Spur von Ironie.[2]

Dies zwingt uns zur Konfrontation mit der Kolonialität von Gentrifizierungs- und Anti-Gentrifizierungs-Diskursen, deren globalisierte Landschaften austauschbare Bevölkerungsgruppen evozieren, die es jeweils zu räumen, zu assimilieren oder zu regenerieren gilt. Neben der ausstehenden Auseinandersetzung mit Queers of Colour und anderen bislang ignorierten geografischen Subjekten kann selbst ein genaueres Studium der Texte des Gentrifizierungsforschers Neil Smith, dessen Einfluss in der deutschen Anti-Gentrifizierungs-Bewegung enorm ist, hier Anstöße bieten. In Smiths (1996) Analyse der Gentrifizierung der Lower East Side in New York, einer vormals Latin@-Gegend in Manhattan, findet das Koloniale eine kurze aber beachtenswerte Erwähnung. Smith beschreibt, wie Gentrifizierende oftmals analog als ‚urbane Pioniere‘ dargestellt werden, die in gefährliche unzivilisierte Welten vordringen, „where, in the words of Star Trek, no (white) man has ever gone before“ (Smith 1996: 11). Dabei läuft Smith selbst Gefahr, den Genozid und die Verdrängung Indigener von ihrem Land auf eine Metapher zu reduzieren, die ansonsten der Vergangenheit angehört (Tuck/Yang 2012). Dennoch macht er Gentrifizierung als koloniales Paradigma von Raum erkenntlich, demzufolge Subjekte, die als untergeordnet rassifiziert sind, durch jene ersetzt, die als übergeordnet rassifiziert sind.

Am deutlichsten wird dieser Prozess in der Arbeit Indigener Theoretiker_innen, die Verdrängungsprozesse der Vergangenheit mit denen der Gegenwart verbinden. Glen Coulthard (2013) beschreibt die Gentrifizierung kanadischer Innenstädte wie der Downtown Eastside in Vancouver in Anlehnung an die koloniale Ideologie des terra nullius als urbs nullius. So werden viele Indigene Menschen, die zunächst von europäischen Siedler_innen in Reservaten segregiert wurden, im Zuge von Ressourcenausbeutung und anderen kolonialen Politiken zur Migration in die Städte gezwungen, von wo sie im Zuge von Gentrifizierungsprozessen erneut verdrängt werden. Gentrifizierung ist also nicht außerhalb der Architektur eines Kolonialismus zu denken, der – wie Thobani (2014) eindrucksvoll zeigt – weder abgeschlossen noch auf die Siedlerkolonien beschränkt ist.

Sicher ist die Verbindung von Gentrifizierung und Kolonialismus in siedlerkolonialen Kontexten am augenfälligsten. Lanz’ Argument, dass Ansätze, die im globalen Süden entstanden sind, uns einen guten Blick auch auf städtische Machtbeziehungen in Deutschland ermöglichen, ist meines Erachtens auf Indigene Ansätze aus den Siedlerkolonien im globalen Norden auszuweiten. Für das alte Imperium – welches mittlerweile oftmals Empfänger statt Produzent sozialer, wirtschaftlicher und räumlicher Paradigmen ist – stellen sich zweierlei Fragen. Erstens: Wie prägen koloniale Phantasien und Technologien die (kolonialen) Subjektivitäten jener, die niemals fortgegangen sind? Und zweitens: Wie kehren diese Phantasien und Technologien ins alte Imperium zurück – und wie verhalten sie sich dort in Bezug auf lokale Machtverhältnisse? Wie finden Raumdiskurse also ihren Weg (zurück) in Kontexte wie Deutschland, in denen jegliche Beteiligung an kolonialen Projekten abgestritten wird – sowohl in den Amerikas als auch in Australien, wo Deutsche Siedler_innen waren und sind; in Asien, das von Deutschen begierig konsumiert wird (in Form von Tourismus, Auswanderung und kolonialen Abenteuergeschichten); und nicht zuletzt in Afrika und dem Pazifik, wo Deutsche direkt als Kolonisator_innen aufgetreten sind (El-Tayeb 1999, Sailiata 2014)?

Um Lanz’ Frage leicht zu variieren: Es scheint zu früh, die deutsche Stadt – und damit auch ihre Erforschung – zu postkolonialisieren. Im Gegenteil müssen wir diese, wie Noa Ha (2014) auch kürzlich schrieb, erst in ihrer Kolonialität untersuchen. Einen guten Einstiegspunkt, der auch für meine Arbeit über queere Gentrifizierung in Berlin ergiebig ist (Haritaworn 2015), liefert uns Sherene Razack (2002). Razack lenkt unsere Aufmerksamkeit erstens auf die Segregation ‚degenerierter‘ Räume wie der Innenstadt, dem Gefängnis und der Anstalt, die mit Verbrechen, Unruhe und Störung in Verbindung gebracht werden, weg von den ‚respektablen‘ Räumen der ‚anständigen‘ weißen Mittelklasse. Zweitens beschreibt sie diese Segregation des Raums als konstitutiv für die Segregation von Geschlecht. Weiße Maskulinitäten und Femininitäten erringen ihren normativen Status durch Grenzüberschreitungen zwischen ‚respektablen‘ Räumen, in denen Weiße leben, und ‚degenerierten‘ Räumen, in denen People of Colour und Indigene leben. Gerade weißen Frauen boten die Kolonien oft eine Möglichkeit, den strikten Geschlechtervorstellungen Europas zu entkommen.

In meinem Buch Queer Lovers and Hateful Others (2015) untersuche ich einen ähnlichen Prozess – ich bezeichne diesen als „queere Regenerierung“ – im Hinblick auf die Verortungen weißer Queers in Kreuzberg und Neukölln, den ‚degenerierten‘ Gegenden der Berliner Innenstadt. Im Gegensatz zu den von Razack beschriebenen normativen Geschlechtsidentitäten zwischen ‚respektablen‘ und ‚degenerierten‘ Räumen wirken queere Grenzüberschreitungen nicht automatisch respektabilisierend. Dennoch erfahren selbst LSBT-Subjekte Schutz und Legitimierung als Übergangserscheinungen in im Übergang begriffenen Gegenden – als Pioniere, die diese ‚erschließen‘ und sie somit gentrifizierbar machen. Queers of Colour – von den Autor_innen des Khalass!!! We’re vex! Manifests zu den Teilnehmenden an Berliner Küchentischen, die ich für mein Buch interviewt habe – sind bislang allein darin, diese Prozesse in ihrer Kolonialität zu benennen. Sie zeigen Zusammenhänge auf zwischen scheinbar zusammenhanglosen „queeren Regenerierungen“ – von der neoliberalen Stadt bis hin zur neuen Sichtbarkeit von LSBT-Lebensweisen. Queers of Colour als geografische Subjekte zu behandeln, ermöglicht es uns somit, die Verdrängung und Enteignung rassifizierter Körper und das Auftauchen erstmals wertvoller queerer Subjekte – die gleichzeitige Konstituierung vormals unerwünschter Subjekte und vormals unerwünschter Räume – in derselben Landschaft zu untersuchen. Die hierbei entstehenden kognitiven Landkarten erlauben es uns nicht nur, Urbanität und Kolonialität endlich zusammenzudenken. In der Tat weisen sie den Weg zu anderen Methoden der Verortung, welche Welten machen, die nicht auf Privatisierung, Sicherheit und Verdrängung basieren.

Endnoten

Autor_innen

Jin Haritaworn arbeitet zu Umweltstudien, Gender, race, Queer-of-Colour-Aktivismus, urban justice, Kriminalisierung, Gewalt, Affekt, Biopolitik, Nekropolitik, Soziologie und Cultural Studies.

haritawo@yorku.ca

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