Postkoloniale Schlüsselkategorien und translokale Theoriebildung

Kommentar zu Stephan Lanz’ „Über (Un-)Möglichkeiten, hiesige Stadtforschung zu postkolonialisieren“

Shadia Husseini de Araújo

Wissensproduktion zu postkolonialisieren, ist eine Herausforderung, der sich die akademische Welt seit geraumer Zeit stellen muss. Dabei geht es im Wesentlichen um die Dekonstruktion eurozentristischer Wissensproduktion, um die Enthüllung ungleicher Machtverhältnisse, die ihr zugrunde liegen, sowie um die Suche nach Alternativen, die zu ihrer Dezentrierung beitragen. In seinem Artikel „Über (Un-)Möglichkeiten, hiesige Stadtforschung zu postkolonialisieren“ diskutiert Stephan Lanz, inwieweit diese Herausforderung in der Stadtforschung in Angriff genommen wird. Überzeugend legt der Autor dar, dass es nicht nur darum geht, der postkolonialen Kritik Rechnung zu tragen, sondern auch darum, Erklärungsansätze für neue urbane Prozesse, Phänomene und Entwicklungen zu finden, die mit einem euro-, west-, oder nordzentristischen Blick kaum einzufangen sind. In Ergänzung zu bestehenden Ansätzen schlägt er anhand von konkreten Beispielen zwei „mögliche Routen einer postkolonial informierten Stadtforschung“ (S. 79) vor: erstens eine Anwendung von „Theorien aus dem Süden in der Stadt des globalen Nordens“ (ebd.), zweitens eine experimentelle sowie translokal und transnational vergleichende Stadtforschung. Ich habe diesen Beitrag mit viel Gewinn gelesen und möchte mit ein paar kritischen Gedanken zur konstruktiven Weiterentwicklung vor allem der ersten Route beitragen.

Wie in der postkolonialen Theorie üblich, arbeitet Lanz an vielen Stellen seines Textes mit Dichotomien wie ‚Westen vs. Rest‘ und ‚Norden vs. Süden‘, stets mit dem Verweis, sie als diskursiv konstituiert und relational zu verstehen, aber ohne sie groß zu definieren. Es muss nicht immer alles aufs Neue definiert und gesagt werden, aber wenn für ‚Theorien des Südens‘ plädiert wird (Lanz’ erste Route), ist meines Erachtens eine kurze Reflexion darüber wichtig, was ‚Norden‘ und ‚Süden‘ in diesem Zusammenhang ausmacht.

Mit Stuart Hall lassen sich ‚Norden‘ und ‚Süden‘ als postkoloniale Schlüsselkategorien verstehen, das heißt sie „wurden einer tiefen und gründlichen Kritik unterzogen, die ihre angeblich vorgängigen und fundierten Annahmen als eine Reihe diskursiver Effekte dekuvrierte“ (2002: 239). Als äußerst machtvolle eurozentristische Konstruktionen, die (post-)koloniale gesellschaftliche Strukturen reproduzieren, galt und gilt es, sie zu überwinden, jedoch nicht im Sinne einer „Streichung“, denn sie bleiben weiterhin wichtige „Instrumente und Werkzeuge, mit denen die Gegenwart reflektiert werden kann – unter der Voraussetzung, dass sie in ihrer dekonstruierten Form verwendet werden“ (ebd.).

Mit der Dekonstruktion von ‚Norden‘ und ‚Süden‘ durch und innerhalb des Diskurses der postkolonialen Kritik erfolgte eine Umdeutung: Während im modernisierungstheoretischen Diskurs etwa der ‚Norden‘ für Fortschritt, Entwicklung und Moderne steht, wird er im Diskurs der postkolonialen Kritik zum Inbild von Hegemonie, Gewalt und Ausbeutung. Der ‚Süden‘ wird entsprechend zum Ausgebeuteten, zum Marginalisierten, der ein Recht auf Eigenbestimmung und Widerstand hat, der einer eigenen Moderne folgt und dem Sichtbarkeit verschafft werden muss. Insbesondere wenn es um die Produktion von Wissen geht, werden ‚Norden‘ und ‚Süden‘ diese Attribute zugeschrieben. Paulin Hountondji (2009; 1990) wirft dem ‚Norden‘ beispielsweise epistemologische Gewalt vor und fordert den ‚Süden‘ auf, eigene Epistemologien zu produzieren. Auch Raewyn Connell (2007), Jean und John Comaroff (2011), Boaventura de Sousa Santos (2014) und viele andere plädieren vermehrt für ‚Theorien des Südens‘. In diesem Sinne sind ‚Norden‘ und ‚Süden‘ – dekonstruiert und umgedeutet – auch für den postkolonialen Diskurs eine äußerst machtvolle Dichotomie. Als strategische Essentialismen (Spivak 1987) verwendet, schaffen sie Legitimität und Raum für Perspektiven und Wissensproduktion des sogenannten Südens.

Aber einmal abgesehen davon, dass viele der Autor_innen, die für ‚Epistemologien‘ oder ‚Theorien aus dem Süden‘ plädieren, oft nicht definieren, was sie jeweils unter ‚Süden‘ verstehen, oder Definitionen vom ‚Süden‘ vornehmen, die sie in ihren Argumentationsgängen nicht aufrechterhalten können (ein Vorwurf, der beispielsweise Comaroff/Comaroff (2011) gemacht wurde), muss diskutiert werden, inwieweit ein Weiterdenken in den Kategorien ‚Norden‘ vs. ‚Süden‘ überhaupt sinnvoll ist. Wie Lanz selbst schreibt, kann es beim Plädoyer für ‚Theorien aus dem Süden‘ nicht darum gehen, „einen hierarchischen Dualismus durch sein Gegenteil abzulösen“ (S. 79). Aber ist die Gefahr, genau dies zu tun, wenn weiter in den Kategorien ‚Norden‘ und ‚Süden‘ gedacht wird, nicht einfach viel zu groß? Verfehlt ein Weiterdenken in diesen Kategorien dann nicht auch das politische Projekt der postkolonialen Kritik, in dem es um die Dezentrierung der (euro-, nord- oder westzentristischen) Wissensproduktion geht (nicht aber um eine alternative Zentrierung)?

Das Problematische an der Rede von ‚Theorien aus dem Süden‘ ist, dass sie suggeriert, Theorien aus dem ‚Süden‘ seien per se anders als die aus dem ‚Norden‘ – so, als bestünde ein gegenseitiges Ausschlussverhältnis. Aber diese Idee ist nicht haltbar, wenn wir davon ausgehen, dass kultureller Austausch für die Wissensproduktion wichtig ist und schon immer wichtig war; wenn wir anerkennen, dass Europas ‚Moderne‘ auch auf ‚nichtwestlichem‘ und ‚nichtnördlichem‘ Wissen aufbaut (al-Khalili 2011, Watt 2004, Hobson 2004); wenn wir von der Hegemonialität des vermeintlich ‚westlichen Wissens‘ ausgehen, das fast überall gelernt werden muss und somit die lokale Produktion von Wissen nicht homogenisiert, aber oft auf jeweils spezifische Weisen mitbeeinflusst (Hountondji 2009).

Wenn wir von all dem ausgehen, dann haben Theorien vielmehr Entstehungsgeschichten, die auf zu komplexe Weise mit ‚Süden‘ und ‚Norden‘ verwoben sind, als dass sie sich eindeutig der einen oder anderen Kategorie zuordnen ließen. Diese Auffassung bestätigt sich oft beim genaueren Hinsehen auf konkrete Beispiele. So zeugen die Ansätze, die Lanz als ‚Theorien des Südens‘ anführt – zum Beispiel cosmopolitanism from below (Appadurai 2011; 2001), political society (Chatterjee 2004), Straßenpolitik (Bayat 2012) –, unter anderem durch Rückbezüge auf Konzepte Foucaults oder Gramscis ebenfalls von Entstehungsgeschichten zwischen Nord und Süd. Darüber hinaus sprechen auch die Autoren selbst (Appadurai, Chatterjee und Bayat) nicht von marginalisierten, sondern von privilegierten Positionen in der ‚westlichen‘ Wissenschaftswelt und blicken (zumindest unter anderem) von dort aus auf die Städte des ‚Südens‘. Inwiefern können die Theorien also ausschließlich südlich sein? Weil sie am Beispiel südlicher Städte (im geografischen Sinne) und am Beispiel armer oder marginalisierter Bevölkerungsgruppen entwickelt worden sind? Wohl kaum, denn das wurde auch schon von eurozentristischen Positionen aus gemacht.

Diese Kritik ist nicht neu. Warum wird trotz aller Kritik gerne das Label ‚südlich‘ verwendet? Weil es im Sinne des strategischen Essentialismus nützlich ist. Es nützt vor allem denjenigen, die sich im postkolonialen Diskurs positionieren und für ‚den Süden‘ sprechen können (oder zumindest meinen, dies tun zu können). Dann ist das Label nützlich und kann dazu beitragen, Dinge mit ‚anderen‘ Augen zu betrachten. Dies gilt jedoch nicht immer, vor allem nicht außerhalb des Diskurses der postkolonialen Kritik, und vor allem nicht dort, wo der Begriff ‚Süden‘ nicht in der dekonstruierten Form verwendet wird und – neben vielen anderen Dingen – zumindest Spuren des modernisierungstheoretischen Diskurses und damit Konnotationen wie Stagnation, Rückschritt oder Unterentwicklung in sich trägt. Was ist, wenn Wissenschaftler_innen aus dem sogenannten Süden genau aus diesem Grund nicht ständig mit dem Begriff ‚Süden‘ gelabelt werden wollen?

An anderer Stelle habe ich gemeinsam mit Philippe Kersting versucht, über unsere Feldforschungserfahrungen im sogenannten Süden (d. h. konkret Vale do Ribeira, Brasilien, und Zentrales Hügelland, Ruanda) zu reflektieren (Husseini de Araújo/Kersting 2012). Von postkolonialer Theorie und Ansätzen der Postdevelopment Studies ‚geschult‘, zogen wir los, und zwar mit vielen Kategorien der postkolonialen Theorie im Gepäck – darunter ‚Süden‘ und ‚globaler Süden‘, ‚Subalterne‘, ‚Marginalisierte‘ und ‚Andere‘ –, die dazu beitragen sollten, „die Sichtweise der Betroffenen im Süden […] zum Ausgangspunkt [der Forschung] zu machen“ (Ziai 2006: 215) und eben nicht die der vermeintlichen Expert_innen aus dem Norden.

In zwei ganz unterschiedlichen Forschungskontexten und Projekten, die nichts miteinander verbindet außer das von außen aufgedrückte Label ‚Süden‘, mussten wir feststellen, dass wir mit diesen Kategorien der postkolonialen Theorie nicht weit kommen: nicht nur, weil es schwer ist, zu definieren, wo genau der (globale) Süden anfängt und wo er aufhört, nicht nur, weil diese Kategorien viel zu undifferenziert sind und gleichzeitig für viele Ideen, Subjekte, Bewegungen und Institutionen keinen Platz haben, sondern auch, weil diejenigen aus dem sogenannten Süden, mit denen wir zusammengearbeitet haben (und bis heute zusammenarbeiten) – Kolleg_innen, Student_innen, Mitarbeiter_inenn von NGOs, Aktivist_innen in politischen und religiösen Bewegungen, Kleinbäuer_innen –, wahrscheinlich entsetzt gewesen wären, hätten wir sie, ihre Arbeit oder das Wissen, das sie produzieren, als „südlich“ oder gar als „subaltern“ angesprochen. In diesen Kontexten der Zusammenarbeit hätte ‚südlich‘, wenn auch ungewollt, eine Abwertung bedeutet und vielleicht nichts anderes zum Ausdruck gebracht als das, was wir eigentlich überwinden wollen: euro-, west- oder nordzentristisches Denken. Vor allem, wenn ‚Süden‘ eine Fremdzuschreibung bleibt, mit der ‚andere‘ Wissenschaftler_innen, ‚anderes‘ Wissen und ‚andere‘ Theorien von privilegierten Positionen aus angesprochen werden, ist der Begriff (immer noch) problematisch.

Vor diesem Hintergrund würde ich es vermeiden, generell für eine Anwendung von „Theorien aus dem Süden in den Städten des Nordens“ zu plädieren. Meiner Ansicht nach kann das gleiche Anliegen auch in weniger belastete Konzepte gefasst werden (oder wird es dann weniger sexy?). Was Lanz doch zeigt, ist, inwieweit sich Theorien, die am Beispiel urbaner Konstellationen in den Städten Indiens und des Nahen Ostens entwickelt wurden, sinnvoll für (neue) städtische Phänomene in Berlin anwenden lassen. In diesen Ansatz würde ich eine translokale Perspektive hineinlesen, die mit einem euro-, west- oder nordzentristischen Verständnis von globaler urbaner Entwicklung bricht und sowohl die Vielfalt als auch die Ungleichheit globaler urbaner Prozesse betont, die auf spezifische Weisen (neue) „cross-territorial linkages and flows“ (Freitag/von Oppen 2010: 1) hervorbringen. Da Lanz’ zweiter Punkt („Trans…: Eine experimentell vergleichende Stadtforschung“) auf empirischer und forschungspraktischer Ebene genau in diese Richtung geht, ließe sich überlegen, ob es nicht möglich wäre, sich analog dazu für eine translokale Theoriebildung einzusetzen – eine Theoriebildung, die nicht nur voraussetzt, dass die Produktion von Theorie ‚woanders‘ berücksichtigt wird, sondern diese zu einem zentralen Bestandteil macht.

Autor_innen

Shadia Husseini de Araújo ist Geografin und arbeitet zu postkolonialer Theorie, Migration, Islam in Brasilien und Postneoliberalismus in Lateinamerika.

shadiah@unb.br

Literatur

Al-Khalili, Jim (2011): Im Haus der Weisheit. Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.

Appadurai, Arjun (2001): Deep democracy. Urban governmentality and the horizon of politics. In: Environment & Urbanization 13/2, 23-44.

Appadurai, Arjun (2011): Cosmopolitanism from below. Some ethical lessons from the slums of Mumbai. Johannesburg Workshop of Theory and Criticism. The Salon 4. http://jwtc.org.za/volume_4/arjun_appadurai.htm (letzter Zugriff am 1.2.2015).

Bayat, Asef (2012): Leben als Politik. Wie ganz normale Leute den Nahen Osten verändern. Berlin: Assoziation A.

Chatterjee, Partha (2004): The Politics of the Governed. Reflections on Popular Politics in Most of the World. New York: Columbia University Press.

Comaroff, Jean / Comaroff John (2011): Theory from the South. Or, How Euro-America Is Evolving Toward Africa. Boulder: Paradigm Publishers.

Connell, Raewyn (2007): Southern Theory. Social Science and the Global Dynamics of Knowledge. Cambridge: Polity Press.

Freitag, Ulrike / von Oppen, Achim (2010): Introduction. “Translocality” – an approach to connection and transfer in area studies. In: dies. (Hg.): Translocality. The Study of Globalising Processes from a Southern Perspective. Brill: Leiden, 1-24.

Hall, Stuart (2002): Wann gab es das „Postkoloniale“? Denken an der Grenze. In: Shalini Randeria / Sebastian Conrad (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Frankfurt am Main/New York: Campus, 219-247.

Hobson, John M. (2004): The Eastern Origins of Western Civilisation. Cambridge: Cambridge University Press.

Hountondji, Paulin J. (1990): Scientific dependence in Africa today. In: Research in African Literatures 21/3, 5-15.

Hountondji, Paulin J. (2009): Knowledge of Africa, knowledge by Africans. Two perspectives on African studies. In: RCCS Annual Review 1, 1-11.

Husseini de Araújo, Shadia / Kersting, Philippe (2012): Welche Praxis nach der postkolonialen Kritik? Human- und physisch-geographische Feldforschung aus übersetzungstheoretischer Perspektive. In: Geographica Helvetica 67, 139-145.

Santos, Boaventura de Sousa (2014): Epistemologies of the South. Justice Against Epistemicide. Boulder: Paradigm Publishers.

Spivak, Gayatri C. (1987): In Other Worlds. Essays in Cultural Politics. New York/London: Routledge.

Watt, William Montgomery (2004): The Influence of Islam on Medieval Europe. Edinburgh: Edinburgh University Press.

Ziai, Aram (2006): Post-Development. Ideologiekritik in der Entwicklungstheorie. In: Politische Vierteljahresschrift 47/2, 193-218.