Pluralistisches Theoretisieren der Stadt und ihrer Verknüpfungen mit dem Kolonialen. Replik

Stephan Lanz

Die Kommentare zu meinem Beitrag unterscheiden sich in ihren Fokussen und ihrem Gestus sehr deutlich, alle vier problematisieren aber spezifische Aspekte des Theoretisierens der Stadt im Verhältnis zum Kolonialen. Meine Replik greift daher die theoretischen Argumentationslinien der Kommentare auf – zum einen, um auf erhobene Kritiken zu antworten, zum anderen, um diese dafür zu nutzen, eine im Text zu kurz gekommene Debatte über theoretische Fragen bezogen auf das Ziel einer Postkolonialisierung der Stadtforschung zu vertiefen.

Die interessante Frage, die Goonewardenas Kommentar aus meiner Sicht aufwirft, ist, warum der Autor seine Kritik nicht aus einer ernsthaften Debatte meiner Argumentation entfalten zu können glaubt, sondern nur mithilfe einer herablassend formulierten Polemik und eines Großtheorie-Bombasts, dessen flächendeckendes Big-Name-Dropping ziemlich eindrucksvoll ist – was wiederum mit der theoretischen Position des Autors verknüpft sein könnte. Das ziemlich komplizierte Unterfangen, in einem kurzen Text so viele schillernde Namen sinnvoll unterzubringen und sich zugleich mit einer konkreten Argumentation zu beschäftigen, ist hier wohl gescheitert.

In der Art und Weise, wie Goonewardena zunächst einen Popanz errichtet – die Postmoderne –, um dann mit größtmöglicher Wucht auf ihn einzuschlagen, wirkt der Text seltsam aus der Zeit gefallen. Sein Gestus erinnert an fruchtlose Debatten der 1990er Jahre, in denen sich marxistische und poststrukturalistische Autor_innen oft gegenseitig unter Generalverdacht stellten und polemisch aufeinander losgingen, anstatt sich tatsächlich mit den jeweiligen Positionen auseinanderzusetzen. Dabei geraten die eigentlichen Punkte schnell aus dem Blickfeld. So argumentiere ich an keiner Stelle für ein „Projekt der Differenz“ (die Goonewardena anscheinend mit Pluralität verwechselt), für eine „Ersetzung der Kritik der politischen Ökonomie mithilfe sogenannter ‚kultureller Studien‘“ oder gar für so etwas Abstruses wie einen Standpunkt „gegen eine böse Abstraktion namens Modernität, Europa oder den Westen“. Bezeichnenderweise ignoriert Goonewardena auch, dass Theoretiker wie Bayat, Mignolo, Appadurai, Gidwani, Chatterjee oder Isin, von deren Konzepten ich hauptsächlich Gebrauch mache, identitätspolitischer Positionen völlig unverdächtig sind. Goonewardena bastelt sich seinen Popanz aus zwei mehrfach angeführten Fragmenten des Textes zusammen. Das erste besteht aus der mit Chakrabarty erhobenen Forderung, die Partialität der Wahrheitsansprüche des westlichen Wissens über die Stadt offenzulegen (was gibt es daran zu kritisieren?). Das zweite rekurriert auf meine Kritik an einer Tendenz polit-ökonomischer Ansätze, die Heterogenität des Urbanen zu ausschließlich unter kapitalistische Logiken zu subsummieren und dadurch Versuche zu marginalisieren, „to grapple the notions of urban life itself“ (Simone 2011: 355, vgl. Amin/Thrift 2002).

Keineswegs ist daraus abzuleiten, dass ich marxistische Ansätze generell ablehne, wie Goonewardena unterstellt. Vielmehr reihen sich meine Vorschläge in gegenwärtige Anstrengungen ein, in den urban studies einen „theoretischen Pluralismus“ (Mayer/Künkel 2012: 9) zu etablieren. [1] Unter anderem soll dieser die „überholte Kluft zwischen politischer Ökonomie und Poststrukturalismus“ (ebd.) oder die Kluft zwischen kritischer Stadttheorie und assemblage urbanism (bspw. Robinson 2011, McFarlane 2011) überwinden helfen. Jamie Peck (2015: 179) konstatierte jüngst aus einer polit-ökonomischen Perspektive in einer bemerkenswert unpolemischen und produktiven Auseinandersetzung mit nichtmarxistischen Ansätzen: „Es wäre hilfreich anzuerkennen, dass urbane politische Ökonomie und postkolonialer Urbanismus keine inkommensurablen Räume eines Wettbewerbs besetzen, der auf ein Nullsummenspiel hinausläuft“. Auch er plädiert für einen „konstruktiven Dialog“ zwischen diesen „theoretischen Traditionen“ (ebd.: 160) und für eine „pluralistischere Kultur urbaner Theorie“ (ebd.: 162). Ein notwendiges und für beide Schulen gemeinsam mögliches Vorhaben sieht er in einer „theoretischen Rekonstruktion“ (ebd.: 163), bei der neue Geografien urbaner Theorieproduktion zu etablieren wären.

Bezeichnenderweise wird die Argumentation in den wenigen Sätzen, in denen Goonewardena auf meine empirischen Beispiele für mögliche Routen einer postkolonialen Stadtforschung eingeht, so trostlos, dass man ihm mit Marx (1978: 5) entgegnen möchte: „Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis isoliert, ist eine rein scholastische Frage“. Bezogen auf das erste Beispiel fällt ihm lediglich die absurde Kritik ein, dass ich den Kampf der Flüchtlinge in Kreuzberg nur deshalb als postkolonial bezeichnen würde, weil der Staat deren Taktik nicht gutheißt. Zum einen verpasse ich diesem Kampf aber überhaupt kein postkoloniales Label, sondern plädiere dafür, ihn mithilfe von Ansätzen zu untersuchen, die uns ihr politisches Handeln als acts of citizenship und ihren ‚Kosmopolitismus als Politik‘ verstehen lassen. Zum anderen sind es die Refugee-Aktivist_innen selbst, die etwa unter dem Slogan „We are here because you destroy our countries“ ihre Kämpfe in koloniale Zusammenhänge stellen und gleiche Rechte mit dem systematischen Verweis auf (neo-)koloniale Unterwerfungs- und Ausbeutungsmuster einfordern (vgl. auch Haritaworns Kommentar). Goonewardenas Aussage, da könne man ja allen antisystemischen Aufständen zum Beispiel von Buddha, Spartacus oder Jesus ein postkoloniales Label anhängen, ist hier schlicht zynisch.

Als Begründung für seine Überzeugung, dass marxistische Stadtforschung auch die Bedeutung von Religion in der Stadt angemessen erforscht (hat), führt er zu guter Letzt ausgerechnet Mike Davis’ Aufsatz „Planet of slums“ (2004) an. Das ist angesichts der fundamentalen Kritiken an Davis (z. B. Angotti 2006, Cunningham 2007, Pithouse 2008) und des Themas der hier geführten Debatte durchaus erstaunlich. Davis übernimmt nämlich in dem Aufsatz sowie in seinem Buch desselben Titels (2006) zunächst den Begriff des Slums ohne jegliche Reflexion der damit verbundenen rassifizierenden und stigmatisierenden Bedeutungen, die Staatsinstanzen stets eine Legitimation dafür lieferten, als Slums markierte Nachbarschaften zu zerstören oder polizeilich zu ‚pazifizieren‘. Schon das führt zu der Frage, ob hier jene Tendenz marxistischer Ansätze durchschlägt, wenig sensibel für Effekte von Rassismus und dominanzgesellschaftlichen Repräsentationsformen zu sein. Davis’ Blick auf den ‚Slum‘ ist eine reine Außenperspektive. Sichtweisen von Bewohner_innen kommen gar nicht vor, die Positionen von lokalen Intellektuellen kaum, reichlich übernimmt er dagegen Aussagen von Organisationen wie der United States Agency of International Development. Weitgehend blind ist Davis jedenfalls für progressive urbane Bewegungen. Sein Buch strotzt vor Rassismen und apokalyptische Metaphern charakterisieren die ‚Slums‘ als urbane Manifestationen des Conrad’schen ‚Herz der Finsternis‘. In dem Aufsatz von 2004 behandelt Davis das Thema Religion ausführlicher. Dazu stellt Angotti (2006: 962) zu Recht fest: „Glücklicherweise ließ er den letzten Abschnitt seines Artikels weg, der die städtischen Armen als unterwürfige Subjekte evangelikaler Religion darstellte; allerdings erscheinen sie im Buch immer noch als atomisierte, apolitische Massen“. Es bleibt zu hoffen, dass das nicht alles ist, was die marxistische Stadtforschung in Bezug auf Religion zu „emanzipatorischen Bestrebungen der Verdammten dieser Erde“ (Goonewardena) zu bieten hat.

Jenseits der Davis’schen Version von Religion als Opium für die Armen teile ich aber Goonewardenas Hinweis, dass eine „vielfältige Tradition schöpferischer marxistischer Tätigkeit im Bereich der Religion in aller Welt“ existiert, mit der es sich auseinanderzusetzen gilt, wenn man urbane Manifestationen davon betrachtet. Dies geschah bei dem Projekt „Global Prayers“ (und das thematisiert mein Text tatsächlich nicht) auf verschiedenen Ebenen. Klaus Ronneberger (2013: 142) etwa stellte mit Ernst Bloch heraus, dass Marx die Religion nicht nur als „Einschläferungs-Opiat“, sondern auch als eine Quelle der Revolte verhandelt hat. Auf dieser Basis lieferten der islamische Marxist Ali Shariati (etwa für die dokumentarische Videoinstallation „on the set of 1978 ff“ von Sandra Schäfer) und Befreiungstheologen wie Enrique Dussel, der bei einem Global-Prayers-Kongress sprach, wichtige Anregungen (vgl. Dussel 2012, Huffschmid 2014). Das Projekt brachte außerdem Fallstudien hervor, die aus einer polit-ökonomischen Perspektive religiöse gated communities in Lagos und Istanbul untersuchten (etwa Ukah 2014). Den Beobachtungen, dass die im globalen urbanen Raum boomenden ‚unternehmerischen Religionen‘ selbst von neoliberalen Selbst- und Herrschaftstechniken durchzogen sind und mit „hybriden Formationen“ eines „neoliberalen Urbanismus“ (Brenner et al. 2010) interagieren, widmen sich vier aus dem Projekt hervorgegangene Aufsätze (zurzeit im Review-Verfahren). Aus diesen Analysen eines religiös-urbanen Neoliberalismus entwickelte sich ein fruchtbarer „Dialog zwischen politischer Ökonomie und postkolonialen Ansätzen“ (Peck 2015: 172). Im Gegensatz zum reduktionistischen Fokus von Mike Davis kommen wir darin zum Ergebnis, dass urbane Religion und religiöse Urbanität nicht zuletzt als konstitutive Elemente des gegenwärtigen Kapitalismus und seiner Raumproduktionen verstanden werden müssen (Lanz/Oosterbaan 2015, Manuskript). Konzeptionell schlagen wir vor, für unterschiedliche analytische Perspektiven auf die vielgestaltigen, widersprüchlichen und fluiden Verbindungen zwischen Stadt und Religion einen je spezifischen Gebrauch von polit-ökonomischen, Gouvermentalitäts-, Assemblage- und/oder Worlding-Ansätzen zu machen.

Daraus mag sich für Goonewardena, der der Auffassung zu sein scheint, marxistische Ansätze könnten jegliches urbanes Phänomen umfassend analysieren, ein „unverdaulicher Eintopf“ ergeben. Tatsächlich ist stets die Gefahr im Auge zu behalten, sich aus den jeweiligen Ansätzen nur die Kirschen herauszupicken und Unvereinbares oberflächlich zu verbinden. Wie immer man jedoch zur ‚Postmoderne‘ stehen mag, es sollte doch gelernt worden sein, dass „große Erzählungen“ (Lyotard) keineswegs die (urbane) Welt umfassend deuten können. Ohne Einschränkung stimme ich Goonewardenas Aussage zu, „man sollte den Marxismus weder lobpreisen noch begraben, sondern ihn nützlicher machen“. Allerdings wird dies nicht möglich sein mit dem hochtrabenden Gestus seines Kommentars, der alles andere als die (eigene) reine Lehre als ahnungslos oder reaktionär abkanzelt, und mit seinem Ausschließlichkeitsanspruch für den Marxismus bei der Deutung all dessen, was Stadt ausmacht. Vielmehr muss es gelingen, marxistische Ansätze in eine theoretische Pluralität einzubetten, die auf spezifische Untersuchungsfragen und Forschungskonstellationen hin maßgeschneidert wird. Wenn Stadttheorie um die Welt gehen und in vielen unterschiedlichen Kontexten hilfreich sein soll, so argumentiert Jennifer Robinson (2013: 1104) zu Recht, muss sie als provisorisch und revidierbar gelten und sie muss die konkreten Orte deutlich machen, aus denen sich ihre Überlegungen speisen. „Der Status und die Bedeutung von ‚Theorie‘ sind schließlich gefertigte Setzungen – etwas, das wir in der Praxis unserer Wissenschaft produzieren und das nicht vorher bestimmt ist“. Raewyn Connell (2007: 207) definiert in ihrem Buch Southern Theory ein derartiges Verständnis von Theorie wie folgt:

„[O]ne tries to arrive at a configuration of knowledge that reveals the dynamics of a given moment of human history. All such attempts produce generalisations, but only the weak ones are universals. The power of social science generalisations is multiplied if they can be linked to the characteristics of the context within which they apply. This suggests an argument against pure general theory, in favour of what we might call dirty theory – that is, theorising that is mixed up with specific situations. The goal of dirty theory is not to subsume, but to clarify; not to classify from outside, but to illuminate a situation in its concreteness. And to that purpose – to change the metaphor – all is grist to the mill. Our interest as researchers is to maximise the wealth of materials that are drawn into the analysis and explanation. It is our interest to multiply, rather than slim down, the theoretical ideas that we work with. That includes multiplying the local sources of our thinking“.

Der Ansatz einer „dirty theory“ als pluralistisches und kontextspezifisches Theoretisieren über das Verhältnis zwischen dem Urbanen und dem Kolonialen findet sich zum Beispiel im Kommentar von J. Haritaworn wieder. Am Beispiel eines als „queere Regenerierung“ bezeichneten Prozesses lässt sich hier die „Kolonialität von Gentrifizierungs- und Anti-Gentrifizierungsdiskursen“ in Berlin-Neukölln herausarbeiten, indem ein polit-ökonomischer Ansatz (die rent-gap-Theorie von Neil Smith) mit queer- und rassismustheoretischen Positionen kombiniert wird. Damit kann Haritaworn zeigen, wie Gentrifizierung als „koloniales Paradigma von Raum […], bei dem Subjekte, die als untergeordnet rassifiziert sind, durch jene zu ersetzen sind, die als übergeordnet rassifiziert sind“ sowohl als sozial-räumlicher Prozess wie auch als Formation von Diskursen und Imaginationen – ‚Pioniere‘ an der ‚urban frontier‘ – mit ursprünglich kolonialen Wissensformen und Machtverhältnissen verknüpft ist.

Der Worlding-Ansatz als Theoriekonzept mit dem Ziel, „kolonial eingeschriebene Macht-Wissens-Komplexe in Bezug auf globale Stadtforschungsprozesse aufzubrechen“, den Laura Wenz vertieft, reiht sich ebenfalls in ein Verständnis ein, Theorie ausgehend von „ethnografisch informierten“ Beobachtungen im Sinn eines ‚mid-range theorizing‘ zu entwickeln, das keine neue „privilegierte Weltsicht“ (Roy 2014) etabliert. Indem Wenz die „heuristischen Analysekategorien“, die vor allem Roy und Ong dafür entwickelt haben, präzise auffächert, ergänzt sie die von mir vertretene Argumentation. Zu Recht verweist sie auf die Unterschiede zwischen den Worlding-Konzepten von Simone (2001) und Roy/Ong (2011), die aber zugleich keine Unvereinbarkeit begründen, sondern eher unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Beide Konzepte eint ihr Blick auf situierte Alltagspraktiken, die in einem doppelten, imaginären wie handlungspraktischen Sinn „alternative soziale Visionen und Konfigurationen – das bedeutet ‚Welten‘“ (Ong 2011: 12) kreieren. Ausgehend von afrikanischen Stadterfahrungen beleuchtet einerseits auch Simone subalterne Subjektpositionen in ihrer Einbettung in globale Ökonomien und Machtstrukturen. Andererseits erfasst das Konzept von Roy und Ong neben globalen urbanen Modellbildungen und Praktiken wechselseitiger Beobachtungen und Aneignungen auch jene „antizipatorischen Politiken von Bewohner_innen und Durchreisenden, Citizens und Migrant_innen“ (Roy 2011: 313), die Simone als „worlding from below“ bezeichnet.

Im Global-Prayers-Projekt ermöglichte es die sich ergänzende Anwendung beider Worlding-Konzepte, urbane Verankerungsprozesse von Religion nicht funktionalistisch aus äußeren sozialen Zwängen und als Akte der Implantation ‚fremder‘ globaler Formen (Christentum, Islam) deuten zu müssen. Vielmehr ließen sie sich als im Alltag verhaftete soziale Praktiken untersuchen, die „konventionelle Grenzziehungen zwischen Klasse, race, Stadt und Land“ (Ong 2011: 23) überschreiten und vielen in der Welt zirkulierenden Quellen entspringen (vgl. Lanz 2014, Heck/Lanz 2014).

Meine aus Sicht von Laura Wenz unangebrachte Kritik an der Theoriefixierung viel referierter ,Southern-Urbanism‘-Publikationen richtet sich so nicht gegen ein „(Re)Theorizing cities from the Global South“ (Parnell/Robinson 2013). Vielmehr geht es darum, dass dieses häufig auf ethnografische Ansätze zugreift, ohne dort längst etablierte Anforderungen an eine transparent gemachte Selbstreflexivität des Forschens zu beachten (vgl. Streule 2014). Selten werden Forschungskonstellationen und Methoden thematisiert, auf deren Grundlage die Texte zustande kommen, zumal wenn sie (etwa im Rahmen asymmetrischer Beziehungen zwischen Forschenden und Erforschten) eigenen Ansprüchen danach, die herrschende „Geopolitik des Wissens“ (Mignolo) ins Wanken zu bringen, entgegenzulaufen drohen (vgl. Kaltmeier 2012).

Ein Gegenbeispiel hierzu liefert der Kommentar von Shadia Husseini de Araújo, insofern er entlang einer eigenen Forschungserfahrung beschreibt, wie das aus „vielen Kategorien der postkolonialen Theorie“ bestehende „Gepäck“, das sie ins Untersuchungsfeld im ‚Süden‘ mitgebracht hatte, bei dortigen Begegnungen oft wenig hilfreich war. Ausgehend von dieser selbstreflexiven Erzählung ihrer Forschungspraxis problematisiert Husseini de Araújo völlig zu Recht den Reigen der Fallstricke, die mit Begriffen wie „Theorien aus dem Süden“ einhergehen. Im Ergebnis schlägt sie vor, den Begriff des Südens fallenzulassen und das Vorhaben, mit einem „euro-, west- oder nordzentrischen Verständnis von globaler urbaner Entwicklung“ zu brechen, stattdessen als „translokale Theoriebildung“ zu bezeichnen. Da sie den Charakter eines solchen Konzeptes nicht weiter erörtert, ist es für mich kaum möglich, auf diesen Vorschlag zu antworten.

Gleichwohl erscheint es mir verfrüht, die Southern-Theory-Perspektive durch „weniger belastete“ Konzepte zu ersetzen. Eher sehe ich die Notwendigkeit, sie zu präzisieren, um damit verbundene Probleme zu entschärfen. Denn die Notwendigkeit, dem „theoretischen Verschweigen der Städte des globalen Südens und Ostens“ (Peck 2015: 170) und der „asymmetrischen Ignoranz“ (Robinson 2003: 275) der euroamerikanischen Stadttheorie entgegenzuwirken, hat sich keineswegs erledigt. Beispielsweise halten es Anne Huffschmid und Kathrin Wildner (2013: 17 f.) selbst bezogen auf urbane Prozesse in Lateinamerika, die in den urban studies viel komplexer analysiert wurden als etwa jene in Afrika, noch immer für angebracht, die Perspektive zu dezentrieren und „Städte vom globalen Süden her zu denken“. Denn theoretische und methodologische Zugänge der lateinamerikanischen Stadtanalyse stellen bis heute eine weitgehende Leerstelle in der international etablierten Theorie dar, obwohl sie „übergreifende Achsen und Fokussierungen“ (ebd.: 19) enthalten, die sich anderswo fruchtbar machen ließen.

In einer Diskussion der auch von Husseini de Araújo angeführten Plädoyers für „Southern theory“ (Connell 2007), „Epistemologies of the South“ (Santos/Meneses 2009) und „Theory from the South“ (Comaroff/Comaroff 2011) kommt der brasilianische Soziologe Marcelo Rosa (2014) zu dem ernüchternden Ergebnis, dass darin ‚Theorie‘ und ‚Süden‘ sehr unterschiedlich miteinander verknüpft werden: „[E]s wird klar, dass in diesen Arbeiten nichts Einheitliches ist, das es uns erlauben würde, sie ohne Bedenken als Werkzeug zu benutzen“ (ebd.: 14). Denn die „Spuren des Südens“ verstreuen sich dabei auf Praxistheorien bei den Comaroffs, auf nichtwissenschaftliche epistemische Praktiken bei Santos/Meneses und auf lokale Soziologien bei Connell, verweisen also jeweils auf spezifische Qualitäten von Theorie, die an den Süden gekoppelt werden. Eine sinnvolle Kategorie kann ‚Southern Urbanism‘ aus meiner Sicht aber nur dann sein, wenn damit keine essenzialistischen Aussagen zu einer spezifischen Qualität von Theorie und Methodik, von Stadt und ihrem Alltag, von Forschenden und ihrer Herkunft verbunden werden, sondern lediglich zu einer Kombination aus Perspektive, Verortung und Positionierung der urbanen Analyse und Theoriebildung.

Als Antwort auf die Frage, ob ‚Süden‘ gleichwohl als legitime und bedeutsame Kategorie gerettet werden sollte, schlägt Rosa vor, ihn im Sinne von Boltanski und Chiapello (2003: 147 ff.) als kritisches Projekt zu etablieren, „das einen ‚neuen Geist‘ formen hilft, innerhalb dessen sich gegenwärtige Sozialwissenschaften entwickeln“ (2014: 15). Ein solches Projekt begründete eine temporäre, hoch aktivierte Verbindung einer sozial, professionell, geografisch und kulturell diversen Gruppe von Akteur_innen, die gemeinsam eine Notwendigkeit darin sehen, „to bring the social processes taking place outside of Euro-America to the core of social theory; this must be done in a competent, symmetrical way, not merely as counterexamples or derivations on the great march toward the West“ (ebd.). Im Rahmen eines solchen temporären Projekts bedeutete ‚globaler Süden‘ keine ontologische Kategorie, sondern eine „konzeptuelle Metapher, die globalen Raum im Interesse der Wiederinbesitznahme durch die Enteigneten reterritorialisiert“ (Sparke 2007: 117). Insofern die Produktion von Theorie grundsätzlich sowohl raum-zeitlich verortet ist als auch anderswo angeeignet und neu kartiert werden können soll, verweist „Theorie des/aus dem Süden“ (Roy 2014: 19) zwar auch, aber nicht nur auf einen geografischen Raum: „Der globale Süden ist überall, aber er ist immer auch irgendwo: nachvollziehbar, Gestalt geworden und hochgradig heterogen“ (Sparke 2007: 117).

Ein solches, in der doppelten Bedeutung als Theorie ‚des‘ und ‚aus dem‘ Süden gefasstes Projekt suggerierte weder eine essenzielle Differenz zu Theoretisierungsformen des/aus dem Norden, noch würden darin Wissenschaftler_innen wegen ihrer geografischen Verortung oder Herkunft mit ‚Süden‘ gelabelt. Es wäre ein temporäres wissenschaftlich-politisches Projekt, um urban studies jenseits der „alten Kernländer der Theorieproduktion“ (Peck 2015: 167) als Kritik an den Hinterlassenschaften und Ideologien des (Neo-)Kolonialismus und als emanzipatorischen Eingriff bezogen auf die Handlungsmacht jener Mehrheit der globalen Stadtbevölkerung zu etablieren, deren Lebensverhältnisse die hegemoniale urbane Wissensproduktion bisher marginalisiert oder stigmatisiert hat.

Endnote

Autor_innen

Stephan Lanz betreibt Stadtforschung bevorzugt an disziplinären und institutionellen Schnittstellen zwischen Wissenschaften, Kultur und Aktivismus.

lanz@europa-uni.de

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