Queere Archive des Ephemeren. Raum, Gefühl: Unbestimmtheit

Katrin Köppert

Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist der Zufall einer Begegnung. Kürzlich traf ich eine_n Mitarbeiter_in des Schwulen Museums* Berlin und fragte sie_ihn, wie sich der Umzug des Museums samt Bibliothek und Archiv vom Mehrdingdamm in Kreuzberg auf die Lützowstraße im Tiergarten auf diese Einrichtungen ausgewirkt habe. Das interessierte mich vor dem Hintergrund, dass ich viele Stunden im Rahmen meiner Forschung in Archiv und Bibliothek verbracht und in Kooperation mit dem Schwulen Museum* einen Workshop[2] mitorganisiert hatte, der sich dem Verhältnis von Archivpolitik und Alltagskultur widmete. Die Antwort, dass der neue Standort und die neuen Räumlichkeiten zwar nach außen ein Mehr an Professionalität suggerierten, aber nach innen das organisatorische Chaos intensiviert hätten, weckte mein Interesse. Die glatte Fassade des neuen Gebäudes, die moderne Ausstellungsarchitektur und die besseren Lagerungsmöglichkeiten im Keller legen zwar nahe, dass das Museum in der „ersten Museumsliga angekommen“ (GTB 2014) sei und nun eine professionellere Archivierung garantieren könne. Tatsächlich verschärft jedoch – nach Aussage der_des Mitarbeiters_in – genau dieser Eindruck die prekäre Situation von Archiv und Museum: Sponsor_innen denken, dass eine finanzielle Unterstützung nicht mehr notwendig sei. Kooperationspartner_innen und Künstler_innen empören sich hingegen über die dem Eindruck nach außen entgegenstehenden schwierigen Arbeitsbedingungen, die sie zuvor aufgrund einer emotionalen Verbundenheit noch toleriert hatten. Auf Seiten der Mitarbeiter_innen führe das wiederum zu Überforderung, Frustration und Traurigkeit über den nach wie vor bestehenden Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung. Obwohl die Räume also in neuem Glanz erstrahlen, ist – den Professionalisierungsbemühungen zum Trotz – das Prädikat ‚Bewegungsarchiv‘ von Gefühlen der Benachteiligung geprägt.

Raum- und Affektpolitiken hängen, wie hiermit deutlich wird, unmittelbar zusammen – jedoch auf andere Weise, als ich erwartet hatte. Schien es zunächst naheliegend, dass der Umzug in funktionierende Räume und eine repräsentative Gegend sowie die damit einhergehenden Umstrukturierungen der archivarischen Ordnung und archivalischen Anordnung[3] Stolz und Zufriedenheit erzeugen würden, ist nun eher Enttäuschung festzustellen.

Die professionell ausgestatteten, innenarchitektonisch designten und aufgeräumten Räume generieren nicht unbedingt Stolz und Zuversicht, sondern führen, wie mir der_die Mitarbeiter_in bescheinigte, auch zu Versagens- und Verlustängsten sowie zur schamvollen Furcht davor, den gestiegenen Erwartungen nicht entsprechen zu können. So produzierten in diesem Fall gerade die Sauberkeit und die Ordentlichkeit der neuen Räume und der neuen Umgebung Unbehagen und eine Reihe von negativen Gefühlen, die den eigentlich intendierten Effekten raumstruktureller Verbesserung zuwiderlaufen. Die unangenehmen Gefühle der Angst, Enttäuschung und Scham ähneln unberechenbaren Schmutzpartikeln, die sich allen Reinigungsanstrengungen zum Trotz immer wieder auf die Archive legen und Sand in deren Getriebe streuen. Diese Störungen bergen jedoch gleichzeitig – und darauf kommt es mir an – ein queer-kritisches Potential, insofern sie ein Hinterfragen normativer Strukturen und des gängigen Zusammenspiels von Raum-, Gefühls- und Wissenspolitiken ermöglichen: Inwiefern können die nicht intendierten negativen Gefühle, die sich aus dem Umzug des Schwulen Museums* ergaben, eine andere, minoritäre Politik[4] der Archivierung der queeren[5] Bewegungsgeschichte grundieren? Gelingt es anhand solcher Störungen, Möglichkeiten des Queerens von Archiven im Sinn einer kreativen Verwirrung vorgegebener (Wissens-)Kategorien und (Raum-)Ordnungen zu erkunden? Dabei sollen im Folgenden LSBTIQ* Archive nicht nur als raum- und gefühlspolitische Repräsentationsorte von lesbischen, bisexuellen, schwulen, travestischen, dandyesken, kessen, inter* oder trans* Geschichten und Selbstentwürfen in den Blick geraten. Vielmehr sollen diese Archive gleichzeitig daraufhin befragt werden, inwiefern sie eine Disloyalität mit normierten Praktiken der Wissensaufbereitung ermöglichen, die auf der Dichotomie von regierbaren, unbelebten Dingen und regierenden Archivar_innen und Historiker_innen beruhen. Letztlich geht es um die Frage, ob störende Gefühle im Archiv dazu fähig sind, die normativen Trennungen von Wissen und Alltag, Öffentlichkeit und Privatheit, Epistemologie und Ontologie herauszufordern und neu, das heißt grenzüberschreitend, verworren und verheddert, verschrägt und verque(e)rt zu konfigurieren.[6]

Das Interesse an dem queer-politischen Potential insbesondere negativer Gefühle resultiert einerseits aus einer Kritik am normativen Professionalisierungsdruck, dem sich viele Bewegungsarchive unterwerfen, wenn sie sich für räumliche Veränderungen entscheiden. Andererseits können diese negativen Gefühle, die ja zunächst auf die Stigmatisierung nicht-normativer Sexualitäten und Geschlechter verweisen, produktiv gewendet oder angeeignet, auch zur Grundlage für queere, das heißt macht- und objektivitätskritische Formen der Wissensproduktion im Archiv werden. Dieses Potential unangenehmer Gefühle haben unter anderem Heather Love (2007), David Eng und Shinhee Han (2003) sowie José Esteban Muñoz (2006) betont. Sie kritisieren historische Erzählungen, die – beispielsweise im Zeichen von gay pride oder black is beautiful – den Stolz über die errungene Emanzipation betonen, und die Scham und die Angst ausblenden, die repressive Hierarchisierungen nach ‚Rasse‘, Geschlecht und Sexualität formierten und formieren. Dementsprechend plädieren diese Autor_innen für eine gemeinschaftliche und kollektivierende Wiederaneignung der abseitigen Gefühle. Dies ermöglicht ihrer Meinung nach die Produktion eines normkritischen Wissens und alternativen Gesellschaftsentwurfs jenseits der Verpflichtung zum stolzen Erfolg und grausamen Optimismus[7].

Aus dieser Perspektive werden die ambivalenten emotionalen Effekte des Professionalisierungsdrucks und der Verschönerungsmaßnahmen in queeren Archiven zugänglich. Welche Auswirkungen haben die topografischen Verlagerungen und die raumarchitektonischen Entstaubungen auf den Gefühlsraum Archiv? Wie verändern sich dessen emotionale Register, zu denen neben Scham und Stolz, Verzweiflung und Freude im Kontext der LSBTIQ* Bewegungsgeschichte auch die politisierende Wut und die geteilte Trauer gehören? Wie ist das queer-politische Potential dieser veränderten Gefühlsdimensionen jeweils zu bewerten?

Ich werde mich im Folgenden diesen Fragen anhand des Umzugs und der räumlichen Neugestaltung dreier Archive (Archiv des Schwulen Museums* in Berlin, Archiv der Gay, Lesbian, Bisexual and Transgender Historical Society (GLBTHS) in San Francisco und die Lesbian Herstory Archives in Brooklyn, New York) widmen und dabei die Frage minoritärer Archivpolitiken diskutieren.

Archiv . Raum . Gefühl

Archivpolitiken sind eng mit Raum- und Gefühlspolitiken verbunden. Einerseits zeitigen Archivstandort und Archivordnung emotionale und affektive Effekte. Andererseits gehen gefühlspolitische Absichten und affektive Unbestimmtheiten mit bestimmten Raumwirkungen einher. Diese Wechselwirkungen werde ich entlang zweier Stränge untersuchen: der topografischen Positionierung der Archive im städtischen Raum und der internen, das heißt innenarchitektonischen Raumordnung. Zunächst steht also die Frage im Zentrum, welche Bedingungen der Verlagerung der Archive in vermeintlich repräsentativere, angesehenere Stadtviertel eine gesellschaftliche Aufwertung suggerieren, aber bei den Archiv-Mitarbeiter_innen statt Stolz und Zufriedenheit Enttäuschung und Frustration auslösen. Der zweite Teil untersucht dagegen den Wandel der internen Raumorganisation der Archive, also beispielsweise das Verhältnis von Lager- und Leseorten, die Zugänglichkeit, die Ordnung des Materials etc. Diese Raumordnungen ermöglichen und entfalten jeweils spezifische affektive oder affektreduzierende Effekte, von Überraschungen durch Zufallsfunde bis zu (verunmöglichten) Gelegenheiten für die subjektive Einfühlung in vergangene Lebenswirklichkeiten. Auf die daran anschließende Frage, wie sehr die räumliche Struktur des Archivs die Form des Wissens prägt, das in diesem Archiv produziert wird, geht schließlich der dritte Abschnitt ein. Kann eine bestimmte minoritäre Politik Einfluss nehmen auf die Gestaltung eines Archivraums, der queere Formen der Wissensproduktion ermöglicht, die sich der gängigen Trennung von Wissen und Alltag, Theorie und Gefühl entziehen?

Archive schmecken

Vor dem Hintergrund des geschilderten Interesses liegt es nahe, einen methodischen Zugang zu wählen, der die vielfältigen Verstrickungen von Wissenschaftlichem und Alltäglichem explizit in das eigene Arbeiten und Schreiben integriert, anstatt diese auszublenden und zu leugnen. In diesem Sinn werde ich im Folgenden meine subjektiven Eindrücke und persönlichen Erfahrungen, die ich in den von mir besuchten Archiven gemacht habe, als empirisches Material zur Grundlage der Untersuchung machen. Dabei greife ich unter anderem auf den ethnografischen Ansatz Kathleen Stewarts (2007) zurück, in deren Arbeiten kleine Skizzen und Beobachtungen scheinbar nebensächlicher Alltagstexturen eine zentrale epistemologische Rolle spielen. Aber „[k]eine Angst! Niemand darf genötigt werden, der vorgeblich therapeutischen Selbstentblößung eines anderen beizuwohnen“, wie Kaspar Maase (2001: 255) es so schön in seiner Reflektion über das Archiv als Feld zum Ausdruck bringt. Dennoch impliziert die Sicht auf das Archiv als Feld – also einem Ort der Untersuchung nicht nur der Archivalien, sondern der spezifischen räumlichen und zeithistorischen Praktiken ihrer Aufbewahrung – eine sorgfältige Analyse eigener Positionen und Gefühlslagen.

Wer sich dem „Archiv als Feld“ nähern will, muss „auch und gerade über die topografischen, die sinnlichen und die strukturellen Erfahrungen der historisch arbeitenden Forscher[_innen] reflektier[en]“ (Ingendahl/Keller-Drescher 2010: 242) und das Archiv über seinen konkreten, emotional erlebbaren „Geschmack“ erschließen. Arlette Farge, deren Ausführungen zum Archiv dem französischen Erfahrungshorizont der 1980er Jahre entspringen, widmete sich in „Le gôut de l´archive“ (2011 [1989]) der oft als nicht forschungsrelevant eingestuften Materialität des Geschmacks und des Geruchs von Archivalien. Deren Bedeutung für die Erfahrbarkeit der vergangenen Wirklichkeit sei, so Farge, nicht hoch genug einzuschätzen. Aus dieser Perspektive ist die Wissensproduktion im Archiv eng mit den affektiven Reaktionen der Forschenden auf die materielle Beschaffenheit der Archivalien sowie auf die räumlichen Strukturen der Archive verknüpft. Das Archiv ist daher als Speicherort des Wissbaren (Ebeling/Günzel 2009: 12) im diskursiven System der Aussagbarkeit zu verstehen (Foucault 1981: 188), also als ein Ort, an dem im (Forschungs-)Alltag Wissen nicht nur sprachlich und über den Inhalt der Dokumente vermittelt zugänglich ist, sondern über Gefühle, Empfindungen und affektive Reaktionen. Insbesondere über die affektive, sensuelle Ebene des Wissbaren transformiert sich schließlich das Archiv und ist nicht länger nur als Speicherort und Container zu verstehen, sondern performativer Raum oder affective space (Reckwitz 2012).

Diese Einbettung des im Archiv Gefühlten und Erlebten in das diskursive System der Sagbarkeit beruft sich nicht zuletzt auf jüngere emotionshistorische Ansätze und Untersuchungen (Frevert et al. 2011, Plamper 2012). Archivgefühle müssen demzufolge immer vor dem Hintergrund ihrer kulturgeschichtlichen Formierung, Spezifizierung und Wertung betrachtet werden. Dem voraus geschickt werden muss jedoch, dass Gefühle im Archiv zum Beispiel in Form der Einfühlungsmethode[8] seit Ende des 19. Jahrhunderts durch den Objektivitätsanspruch der Geschichtswissenschaft zusehend neutralisiert wurden. Wenn sie eine Rolle spielten, dann nur mehr als solche, die die Historiker_innentätigkeiten des Registrierens, Einordnens und Abschreibens begleiteten, sprich als Langeweile (Plamper 2012: 342).

Wenn Arlette Farge die Berührung von Stofffetzen in Aktenbündeln als „süsse[n] und ungewohnte[n] Trost für die Hände, die an die allgegenwärtige Kälte im Archiv gewöhnt sind,“ (1993: 13) beschreibt, dann lässt sich das nur vor dem Hintergrund kultureller Muster begreifen, die Stoff mit Sentimentalität sowie mit einhüllender und schutzspendender Wärme konnotieren und Archivschränke, Bücherregale, Aktenordner mit Kälte und neutralisiertem Gefühl. Trotz solcher kultureller Vorprägungen birgt die sensuelle Wahrnehmung von Stoff auch die Möglichkeit einer körperlichen Erfahrung, die nicht in vorgeformten Mustern und Codes aufgeht. Dieses Potential begreife ich im Anschluss an Brian Massumi (2010: 5) als „bodily capacity“ von Affekt, das heißt als die körperliche Fähigkeit, nicht bewusst, aber agierend, organisierend und gestaltend die Grenzen des Sag- und Verstehbaren zu überschreiten.

Auf das Potential von Materialien wie Stoff oder Schmutz, Affekte zu initiieren, die aufgrund einer gewissen Autonomie diskursiv verfasste Codes durchkreuzen können, komme ich vor allem im letzten Teil zu sprechen. Dabei interessiert mich vornehmlich, inwiefern Dinge des Alltags oder bestimmte alltägliche Stofflichkeiten im Archiv Affekte produzieren, die ein queeres Wissen ermöglichen, das ohne sichere Gewissheiten auskommt und keinen Anspruch auf Objektivität erhebt. Dieses über Affekte informierte Wissen wiederum appelliert nicht mehr an eindeutig bestimmbare und Individuen zuzurechnende Gefühle, sondern treibt das Unbekannt-Werden von Affekten an, deren Bewegung „über [die] Ränder des Erkennbaren“ (Ott 2010: 15) hinausreichen. Seine Signatur wäre auf paradoxe Weise das Unbestimmte, Ephemere und daher Lückenhafte.

Archive von unten – ‚Archive von hinten‘

Die Entstehung von schwulen und lesbischen Archiven und ihre Funktion in den Anfangsjahren kann ich hier leider nur begrenzt andeuten. Auch müssten die behandelten Archive ausführlicher sozio- und kulturhistorisch eingebettet werden. Immerhin erwähnen möchte ich, dass sich die Entstehungsgeschichten als Ausdruck der Etablierung der westlichen Schwulen- und Lesbenbewegungen (Linck 2013) und der Einschreibung in hegemoniale Geschichte verstehen lassen. Die Archive zum Beispiel des Schwulen Museums* und der GLBTHS entstanden zeitversetzt zum interventionistischen Moment der Stonewall-Unruhen und den sich anschließenden Protestbewegungen in den 1980er Jahren, das heißt zu einem Zeitpunkt, als HIV/Aids bereits debattenbestimmend war und das Alltagsleben der Community veränderte. Inmitten einer Zeit neuerlich aufkeimender Ressentiments gegenüber Schwulen und Lesben entstehen Archive, die das Selbstbild einer stolzen und schillernden Bewegung im selektiven Rekurs auf den Aktivismus der 1969er Generation versuchten zu reinstallieren und zu legitimieren. Dabei jedoch – wie Balz/Friedrich (2012: 27) thematisieren – stellten Archive als Repräsentationsorte einer einsetzenden Historisierung schwul-lesbischer Bewegungsgeschichte Kontinuität her, was sich als Einschreibung in ein hegemoniales Geschichtsverständnis subsumieren lässt. Und sie nahmen in Form von Sammlungsschwerpunkten eine Setzung vor, die der Legitimierung von Protest im Kontext von Aids-Aktivismus dienen sollte. Dies bedeutete jedoch, dass dem Aids-Aktivismus eine durch Stonewall vorformulierte Ästhetik (Straßendemonstration) und Gefühlspolitik (Stolz) von Protest nahegelegt wurde.

Ich möchte dieser eher makropolitischen Ebene der Funktion von Archiven jedoch die mikropolitische gegenüberstellen – nicht weil ich denke, dass es möglich wäre, diese Ebenen tatsächlich getrennt voneinander zu diskutieren, sondern weil mich im Kontext minoritärer Politik vordergründig das weniger Wahrnehmbare und dennoch politisch Relevante der alltäglichen Archivpraxis interessiert.

Queere Archive fungierten in ihren Anfängen auch als Sehnsuchts- und Zufluchtsorte, als Räume der politischen Mobilisierung und als Stätten der Begegnung und des Cruising, sprich der Anbahnung und Durchführung von spontanem, meist anonymem Sex in der (Semi-) Öffentlichkeit. Diese Funktionen resultierten letztlich aus strafrechtlichen Verfolgungen und gesellschaftlichen Diskriminierungen, aus Homo- und Transphobie sowie aus psychosozialen und körperlichen Verletzungen, die sich aus dem (Nach-)Wirken des §175 StGB in der BRD[9] und der Sodomiegesetze in den USA ergaben. Vielleicht ließe sich sogar behaupten, dass die Archive im Moment ihres Entstehens nicht in erster Linie Institutionen zur korrekten Verwahrung von Dokumenten, Akten, Briefen oder Fotos darstellten. Vielmehr waren sie Orte, an denen mündliche Überlieferungen, Versammlungs-Ethnografien, künstlerische Kurzdarbietungen, politische Selbst-Verständigungen, Trauerarbeit und Flirtversuche zusammenliefen.

Beim schwul-lesbischen ‚Archiv von unten‘ handelte es sich im übertragenen Sinne also um ein – wie ich es hier nenne – ‚Archiv von hinten‘ das heißt um eine emotionale Nische, in der ein Begehren offen artikuliert werden konnte, das außerhalb gar nicht, versteckt oder allenfalls kodiert geäußert werden konnte (Gammerl/Herrn in diesem Band, Reddy 2001). ‚Archive von hinten‘ – in Anspielung auf eine der vielen schwulen aber auch trans* und lesbischen Sexpraktiken – waren Speicherorte der privaten und alltäglichen Geschichten voller Begehren, Lust und Freude am Zusammensein, Diskutieren und Politisieren (Cvetkovich 2003: 244, Halberstam 2005: 169-170).

Vom Hinterhof

Die Beschreibung als ‚Archive von hinten‘ verweist auch darauf, dass zunächst vom Hinterhof und vom Unterschlupf aus agiert, gesammelt und bewahrt werden musste. Die Gefühls-Geschichte der Verfolgung von homosexuellen und trans*[10] Personen wirkte sich somit auf die Lokalisierung der Archive im Stadtraum sowie auf deren raumpraktische Ausgestaltung aus – und das nicht ohne politische Effekte der Irritation auszusenden.

Um die Funktion des Archivs als emotionale und daher politische Nische zu erhalten, forderte die Mitbegründerin der New Yorker Lesbian Herstory Archives Joan Nestle (1978) in ihren programmatischen Notizen über „Radical archiving from a lesbian feminist perspective“, dass das Sammeln und Bewahren inmitten der lesbischen Community und nicht auf einem universitären Campus geschehen solle. Nicht zuletzt, weil die Universität Frauen und insbesondere lesbischen Frauen den Zugang erschwere, müssten sich die Archive der lesbischen Geschichte in unmittelbarer Nähe zur eigenen Community befinden und notfalls – zur Sicherung der Bestände – mit der Community in den Untergrund gehen:

„[Ein radikales] Archiv sollte die politische und kulturelle Welt seiner Menschen teilen und sich nicht in einem isolierten Gebäude befinden, das existiert, während die Community stirbt. Falls notwendig wird das Archiv mit seinen Menschen in den Untergrund gehen und in Ehren gehalten werden bis die Community sicher ist.” (Nestle 1978)[11]

Folgerichtig befanden sich die Lesbian Herstory Archives für 15 Jahre in der privaten, mit zahlreichen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen geteilten Wohnung Nestles, bevor sie ihr neues Zuhause in einem ebenfalls privat bewohnten Haus in Brooklyn fanden. Die politische und (gefühls-)kulturelle Welt der lesbischen Frauen, die das Archiv 1974 gründeten, prägte auch die räumliche Situation: Das Archiv entstand nicht nur im Kontext des Kampfes gegen Sexismus und Patriarchat, sondern es kongruierte buchstäblich mit dem gelebten Raum einer politischen Wohngemeinschaft fernab von Universitäten oder staatlichen Institutionen.

Ähnlich verhielt es sich mit dem Schwulen Museum* Berlin. Als Folgeprojekt der im Berlin Museum 1984/85 gezeigten und von schwulen und lesbischen Aktivist_innen kuratierten Ausstellung „Eldorado – Geschichte, Alltag und Kultur homosexueller Frauen und Männer, 1850-1950“[12] zog es 1988 vielleicht nicht in den Untergrund, wohl aber in notdürftig eingerichtete Räume[13] im Hinterhof des Mehringdamm 61 (siehe Abb. 1). Die Entscheidung für einen Umzug in eigene Räume gründete darauf, von öffentlichen Institutionen wie dem Berlin Museum unabhängig sein zu wollen. [14]

Abb. 1 Blick in den ersten Hinterhof des Schwulen Museums* am Mehringdamm im Jahr 2012 (Quelle: Autor_in)
Abb. 1 Blick in den ersten Hinterhof des Schwulen Museums* am Mehringdamm im Jahr 2012 (Quelle: Autor_in)

Spätestens seit dem Zuzug des SchwulenZentrums (SchwuZ) im Jahr 1995 befand sich das Schwule Museum* in einer nicht mehr nur emotionalen, sondern auch räumlichen Nähe[15] zur schwulen Emanzipationsbewegung.[16] Das Archiv teilte mithin über viele Jahre den Alltag schwuler Männer, den es dokumentieren wollte[17] und blieb lange Zeit ein hidden place. Es wurde von deutschen akademischen Institutionen lange Zeit nicht wahrgenommen[18] und musste beharrlich um öffentliche Zuwendungen kämpfen.[19]

Auch die Sammlungen der Gay, Lesbian, Bisexual and Transgender Historical Society in San Francisco lagerten zunächst im Haus des Krankenpflegers und Aktivisten Willie Walker[20], bevor sie nach einer Zwischenstation im Mission District Teil des Archivs auf der Market Street wurden, wo sie sich noch heute befinden.

Die politischen Bedingungen queeren Lebens, geprägt von Vorsicht, Tarnung und Angst (trotz des radikalen Eigensinns und erstarkenden Selbstbewusstseins), beeinflussten unmittelbar die Gefühlswelt und Praktiken derer, die sich der Aufbewahrung queerer Geschichte verschrieben hatten. Nach Ann Cvetkovich gehört es sogar zu den zentralen Aufgaben eines queeren Archivs, den von vielen LSBTIQ* Personen erfahrenen traumatischen Verlust der eigenen Geschichte nachzuvollziehen. Ein solches Archiv „muss die Vergangenheit anerkennen, die zu erinnern schmerzhaft sein kann, unmöglich zu vergessen und widerständig dem Bewusstsein gegenüber“[21] (2003: 241). Dementsprechend sollten ihrer Meinung nach Gefühle wie Trauer, Angst, Scham, aber auch Wut, Lust und Begehren, die Sammlungs- und Archivierungsmethoden maßgeblich mitbestimmen und ausschlaggebend sein bei der strategischen Entscheidung darüber, wo gesammelt und archiviert werden soll – nämlich vorzugsweise im Hinterhof, im Wohnzimmer, im Aktionszentrum.

Dinge für hinten

Die besonderen Entstehungsbedingungen der Archive – Verfolgung, Diskriminierung und der Kampf dagegen – spiegelten sich auch in den archivierten Materialien. Gesammelt wurden Dinge des Alltags, die öffentliche Sammlungsinstitutionen wie Bundes- und Landesarchive seinerzeit vernachlässigten oder nur selten als archivwürdig einstuften. Jack Halberstam (2005: 169) hat darauf hingewiesen, dass behördliche Archivierungspraktiken die Produkte queerer Subkulturen allzu oft übersehen oder – wie zu ergänzen wäre – im zum Teil problematischen Kontext behördlicher Erfassung registrieren[22]. Dieses Nicht-Registrieren oder im gesetzlichen Auftrag zur staatlichen Regulierung gefilterte Registrieren ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass Sexualität/sexuelle Präferenz oder Geschlecht ‚allein‘ – also ohne den Beigeschmack der Kriminalisierung oder Pathologisierung – als Bestimmungsgrund nicht ausreichten, um ein Sammlungsgebiet zu erschließen. Staatliche und kommunale Archive lehn(t)en folglich das Aufbewahren von LSBTIQ* Alltagsobjekten, die nicht im Zusammenhang behördlicher Registratur standen, ab, weil sie keinen gesetzlichen Auftrag hatten oder weil ihnen die dafür notwendigen Kapazitäten und Kenntnisse fehlten. Zum Beispiel würde, so das Argument, die Aufbewahrung solcher Gegenstände konservatorische Probleme – von Kartongrößen bis zu Fragen der richtigen Lagerung – verursachen, die die Archive zu lösen nicht in der Lage seien. Trotz einer allmählich zunehmenden Flexibilität und Offenheit[23] perpetuiert das streng regulierte Korsett öffentlicher Archive diese Verweigerungshaltung bis heute.

Im Gegensatz dazu wären Archive von unten nicht denkbar ohne Dinge wie sex toys, T-Shirts, Fummel, Stofftiere, Pillenschachteln, ohne innovative Selbstdokumentationen wie zum Album umfunktionierte Tapetenbücher[24], ohne Ephemera wie Flyer, Einladungskarten, Grußkarten sowie Accessoires oder Einrichtungsgegenstände.[25] Die Präsenz dieser Dinge definiert geradezu die Archive von hinten und verleiht ihnen nicht selten eine heimelige Atmosphäre. Dazu trägt – wie im Falle des Schwulen Museum* Berlin – häufig auch die Vermischung des Archivbestands mit dem Magazin eines Museums bei (Dobler 2013: 167). Ausstellungsstücke werden auf diese Weise in den Archivbestand integriert. Vor dem Umzug fanden sie aufgrund von Platzmangel auch bei der Gestaltung der Archivräume Verwendung. In den alten und beengten Räumlichkeiten am Mehringdamm stolperte ich auf dem Weg zur Toilette regelmäßig über Einrichtungsgegenstände, die als Teile einer Wohnungseinrichtung im Museum gezeigt und später in den Archivräumen eingelagert und mitunter zu Ablageflächen umfunktioniert worden waren. Die Lesbian Herstory Archives in Brooklyn integrieren noch heute ganz bewusst Alltagsdinge in ihr Raumdesign, weil das Archiv die politischen, kulturellen und emotionalen Werte der lesbischen Community nicht nur bewahren, sondern auch selbst darstellen soll (Cvetkovich 2003: 250). Deswegen gleichen die New Yorker Räume weniger einem klassischen Archiv als vielmehr einem „lesbian home“.[26]

Unabhängig von unterschiedlichen Vorstellungen, was ein lesbian home charakterisiert, hat das im viktorianischen Stil gebaute Wohnhaus des LHA samt seiner Ausstattung eine Wirkung, der ich mich nicht entziehen konnte (Abb. 2 und 3). Während ich an den Sesseln, überfüllten Bücherregalen und mit Fotos, Postkarten, sex toys, Kartenspielen und Stickereien dekorierten Anrichten vorbeiging, glaubte ich von Stimmen der Vergangenheit eingeholt zu werden. Das Wohnzimmer-Arrangement machte mir Vergangenheit auf einer sinnlich-emotionalen und über den Pragmatismus einer rationalen oder systematischen Archivorganisation hinausgehenden Weise zugänglich. Tatsächlich fühlte ich mich, als wäre ich zu Besuch in einem Wohnhaus mit individuellem Stil und persönlicher Note. Gleichzeitig lösten diese Singularität und Individualität des Andenkens in mir etwas aus, das trotz der sich unterscheidenden Umstände und Vorlieben die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit durchlässig machte und mir ermöglichte, mich mit dieser gelebten Vergangenheit für einen Moment verbunden zu fühlen. Mein inneres Ohr hörte längst verklungene Küchengespräche und brachte mir einen prominenten Slogan feministischer Bewegung und Forschung wieder in den Sinn: Der Aufstand beginnt in der Küche.

Abb. 2 Blick in den ersten Hinterhof des Schwulen Museums* am Mehringdamm im Jahr 2012 (Quelle: Autor_in) Abb. 3 Blick in den ersten Hinterhof des Schwulen Museums* am Mehringdamm im Jahr 2012 (Quelle: Autor_in)
Abb. 2 Blick in den ersten Hinterhof des Schwulen Museums* am Mehringdamm im Jahr 2012 (Quelle: Autor_in)
Abb. 3 Blick in den ersten Hinterhof des Schwulen Museums* am Mehringdamm im Jahr 2012 (Quelle: Autor_in)

Die Ausstattung der ehemaligen Küche des Archivs des Schwulen Museums* am Mehringdamm lässt sich in einem ähnlichen Sinn ebenfalls als „kreativen Zugang zum Archivieren“[27] interpretieren, wie Ann Cvetkovich (2011) queere Praktiken des counterarchives bezeichnet. In dieser Küche wurden Versammlungen abgehalten, Haare geschnitten und die Wände mit Postern halbnackter Männer dekoriert. Diese Inszenierung pop-, jugend- und massenkultureller Dinge oder Werbemittel in der Küche als der Schaltzentrale des Archivs schärfte meinen Blick für die Bedeutung unterschiedlicher Forschungsmaterialien. Das Poster erfuhr hier nicht nur eine allgemeine Aufwertung als Sammlungsgegenstand, sondern es erschloss sich mir zugleich als Objekt schwulen Begehrens und damit als eine höchst relevante Quelle für meine Forschung über die visuelle Kultur homosexueller Medienamateur_innen. Objekte des Begehrens und des Alltags, die als private Dinge in ihrer politischen Bedeutung geringgeschätzt werden, erzählen Geschichten, die nur vermeintlich privat sind bzw. einen Begriff des Privaten formulieren, der selbst wiederum politisch ist. Ihre Berücksichtigung erschließt nicht zuletzt auch neue wissenspolitische Horizonte: Ohne diese Küchenerfahrungen hätte ich die Bedeutung dieser Poster für die visuellen Ausdrucksweisen homosexueller Medienamateur_innen und als Medien der Vergemeinschaftung nicht erkannt.

Politische Privatheit, Gefühle und queer times

In einer Zeit, die totale Überwachung und absolute Öffentlichkeit propagiert, erscheint mir das innenarchitektonische Re-Staging von Privatheit und privaten Gefühlen im Archiv nicht nur wie ein anachronistischer Zwischenruf, sondern auch als radikale politische Geste. Die Verschränkung der öffentlichkeitswirksamen Sammlungsarbeit mit der privaten Intimität queeren Lebens und Wohnens – auch aufgrund der durch die räumliche Enge bedingten Nähe zu den Alltagsgegenständen – ermöglicht für mich eine Kritik der gängigen Auffassung, dass das Private unwiderruflich verloren sei, bzw. dass private Gefühle – wie Hannah Arendt (2007 [1958]: 49, 60) es formuliert hatte – unpolitisch seien. Vor allem vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen im LHA und im alten Schwulen Museum* möchte ich behaupten, dass das Archiv als Wohnzimmer oder Küche – als emotionale Nische – trotz oder gerade wegen des scheinbaren Rückzugs ins Private über das Normalisierte hinausragen kann. In diesem Sinn möchte ich die Archivierung von Sexualität und Begehren nicht als Beispiel einer entpolitisierten und neoliberalen Mustern entsprechenden Privatisierung verwerfen, sondern als ein maßgebliches Element queerer Raum- und Wissenspolitiken begreifen.

Dass ich das Archiv als privaten und emotionalen Ort betone, erweckt womöglich den Eindruck eines nostalgisch verklärenden Blicks auf das verstaubte Wohnzimmerarchiv alten Stils. Tatsächlich liegt darin eine gewisse Nostalgie, allerdings keine der bloßen Rückwärtsgewandtheit, sondern die einer Bewegung in die Zukunft mit Blick auf die Vergangenheit. Im Sinne von Heather Loves Interpretation des Engels der Geschichte bei Walter Benjamin wird auf die Zukunft Bezug genommen, ohne dabei den Imperativen des Optimismus, des Fortschritts und der Reproduktion zu entsprechen. Stattdessen wird dem Warten, dem Rückzug, der Verweigerung, der Verzögerung und Wiederholung Raum gegeben (Love 2007: 148, 152). Diese queer-politische Perspektive auf backwardness, das heißt auf Melancholie, Scheitern, Verzweiflung, Wut, interveniert in die Zukunft, gerade indem sie an den vergangenen Erfahrungen des Schmerzes und den unterdrückten Hoffnungen festhält.

Bei der Auseinandersetzung mit diesen unangenehmen Erfahrungen und negativen Gefühlen geht es also weder darum, deren zukünftige Überwindung zu imaginieren, noch darum, einer melancholischen Fixierung auf das historische Trauma der Zurückweisung das Wort zu reden (Love 2007: 4, 41). Die Fokussierung negativer Gefühle soll vielmehr eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft stiften, die sich weder in rückwärtsgewandten Opferidentitäten noch in auf Überwindung und Fortschritt ausgerichteten traditionellen Konzepten politischer Agency[28] erschöpft (Love 2007: 152). Stattdessen eröffnet ein in diesem Sinn nostalgischer Blick auf das ‚Archiv von hinten‘ als Gefühlsraum einen kollektiven Weg in die Zukunft, der nicht geradlinig zu einem normativ vorgeprägten Ziel führt, sondern aufgrund von Spiralen, unerwarteten Verzögerungen und ausweichenden Bewegungen zur tändelnden Fluchtlinie einer queeren Utopie wird, wie es José Esteban Muñoz (2009) in Cruising Utopia beschrieben hatte.[29] Einen ganz ähnlichen Zugang entwickeln neben Ann Cvetkovich mit ihren diesen Artikel inspirierenden Studien „An Archive of Feeling“ (2003) und „Depression. A Public Feeling“ (2012) auch andere Historiker_innen des sogenannten affirmative turns[30]. Die Enttäuschung über das Ausbleiben von Anerkennung, die die_der Mitarbeiter_in des Schwulen Museums* beschrieben hatte, wird aus dieser Perspektive zur fruchtbaren Ressource einer Kritik an den Imperativen der Optimierung und der Professionalisierung. Die Frustration konterkariert die optimistische Zukunftshoffnung, die der als Aufstieg interpretierte und medial repräsentierte Umzug des Archivs suggeriert und markiert damit das strukturelle Problem einer auf Wachstum und Fortschritt konzentrierten Gesellschaft.

Changing Archives: Veränderungen im Archiv – Archive verändern

Sich im Hoffen auf eine queere Zukunft transgenerationell mit den Figuren der Vergangenheit zu verbinden, von denen ich emotional berührt und im Archiv – wie Foucault (2000: 158) es schrieb – physisch ergriffen worden bin, setzt voraus, mich gegenüber fremden Lüsten und Gefühlen zu öffnen, um mir selbst fremd werden zu können. Es bedarf aber auch bestimmter räumlicher Strukturen im Archiv, die entsprechende Begegnungen ermöglichen. Und hiermit meine ich Bedingungen, die eine für meine methodologische Herangehensweise der queeren Dichte des Sehens[31] ausschlaggebende physische Interaktion mit den Materialien zulassen. Aus diesem Grund interessierten mich die mit dem Umzug des Schwulen Museums* verbundenen organisatorischen Veränderungen: Würde mir nach wie vor der enge Kontakt zu den Kartons, von denen ich im alten Archiv umringt und nahezu erschlagen war, möglich sein? Würde ich nach wie vor durch das Material „waten“ können, um Alltag und negative Gefühle erspüren zu können? Würde ich das Archiv weiterhin in seinem materiellen Werden (Halberstam 2005: 170) erleben und so etwas über einen Alltag erfahren können, der sich sowohl durch Bedrängnis, als auch durch Kreativität und Eigensinn auszeichnet?

Vor allem die dem Platzmangel geschuldete Kreativität im Erfinden neuer Lagerungsmöglichkeiten fand ich in den alten Räumlichkeiten des Archivs charmant, weil sie immer wieder Zufallsfunde ermöglichte. In die Um- und Zwischenlagerungen unmittelbar involviert, insofern ich einen Platz inmitten des Archivs zugewiesen bekommen hatte, kam mir so manches Objekt überraschend zwischen die Finger. Auch die noch mit Signaturen zu versehenden Bücher, Pornovideos oder Zeitschriften, die sich auf den Tischen – welche sich ehrenamtliche Mitarbeiter_innen und Nutzer_innen teilten – stapelten, wirkten als Umfeld auf meine Arbeit ein.

Am neuen Standort, wo die Nutzer_innen in der Bibliothek sitzen, ist vom Archiv im Prozess nicht mehr viel zu spüren. Die angeforderten Kartons werden aus dem Keller geholt und ohne die Möglichkeit, mir einen Gesamteindruck von den zu einer Sammlung gehörenden Regalmetern zu verschaffen, sitze ich – immerhin inmitten der Bibliothek[32] – an nackten Tischen in einem wenig dekorierten Raum. Das vorher mit dem Alltag verflochtene Archiv des Schwulen Museum* wirkt in Folge der Separierung von Lager- und Leseraum, als ob es auf den mehr oder weniger losen Zusammenhang einzelner Kisten zusammengeschmolzen sei. Zudem entbehrt der Raum, in dem sich der Inhalt der Kisten wieder mit dem queeren Alltag vermischen könnte, einer entsprechenden Einrichtung. Obschon die Dekoration vor dem Hintergrund der erweiterten, das heißt nicht mehr nur auf die Schwulenbewegung beschränkten, sondern homosexuelle und transgeschlechtliche Lebensweisen einbeziehenden Sammlungstätigkeit eine große Herausforderung sein mag, sind Hinweise auf die Existenz queeren Alltags im Leseraum spärlich. Bisher – von wenigen ausliegenden Flyern und vom Buchbestand abgesehen – unterscheidet sich daher der Raum kaum von anderen Leseräumen.

Die Musealisierung von Bewegungsarchiven

Die Separierung des Archivguts, das nur in kleinen Häppchen im Leseraum serviert wird, führt zudem zu einer Form der Mythisierung der Sammlungsobjekte, die nun wenig greifbar, aber umso verheißungsvoller sind. Ähnlich wie Museumsobjekte hinter Vitrinenglas erhalten Archivalien dadurch die Aura des Unerreichbaren, was ihren Wert und den des Archivs möglicherweise steigern kann. Das Archiv kann sich als Besitzerin von Schätzen inszenieren, aus denen es – insbesondere im Fall von Archiven, die eng mit Museen zusammenarbeiten – bei öffentlichkeitswirksamen Ausstellungen eventuell Kapital schlagen kann. Diesen Eindruck gewann ich zum Beispiel im Museum der GLBTHS. Archivmaterialien, die im weit entfernten Archiv wenig penibel verstaut und relativ frei zugänglich für Besucher_innen einsehbar sind (siehe Abb. 4), werden im Museum zum wertvollen Anschauungsmaterial – durch Vitrinenglas geschützt, auf körperliche Distanz gehalten und umrahmt von einer Choreographie korrekter Einsichtnahme.

Das Archiv von unten erfährt in diesem Zusammenhang eine Musealisierung (siehe Abb. 5 und 6). Es wird repräsentativ, statt partizipativ oder affektiv zu sein. Techniken der Musealisierung im Archiv führen zu einer Mythisierung der Bestände, die zunehmend abstrakt und immer weniger in einem materiellen und sinnlichen Sinne erfahrbar werden. Die Objekte erregen dann mehr als geistig erfassbare Ideen Emotionen und weniger durch eine Materialität, welche die Betrachter_innen bzw. Feldforscher_innen körperlich ergreift und sich im Austausch mit Umwelt wandelt. Queere Geschichte wird damit auf eine rationale Ebene geschrumpft. Hinter Glas verschanzt und in Folien gesteckt, ist queeres Leben auf Abstand gebracht. Aus sicherer Entfernung kann ich mir wohl Gedanken machen über das Andere und bestimmt auch Gefühle entwickeln aber auf einer sinnlichen Ebene werde ich nicht mehr affiziert, angegriffen, bewegt und transformiert.

Abb. 4 Ausstellungsraum des Museums der GLBTHS im Castro 2011 (Quelle: Autor_in) Abb. 5 Archiv der GLBTHS 2011 (Quelle: Autor_in) Abb. 6 Unter Glas geschützte Archivbox (Quelle: Autor_in)
Abb. 4 Ausstellungsraum des Museums der GLBTHS im Castro 2011 (Quelle: Autor_in)
Abb. 5 Archiv der GLBTHS 2011 (Quelle: Autor_in)
Abb. 6 Unter Glas geschützte Archivbox (Quelle: Autor_in)

Durch diese Distanzierung gehen durch das Wegfallen des sensuellen Kontakts unberechenbare Erkenntnispotentiale verloren. Als ich verschmutzte und stark riechende Dildos und Gummibänder anfassen musste, um den Inhalt einer der Archivboxen aus dem Nachlass Albrecht Beckers einsehen zu können, konnte ich mich eines geekelten Schüttelns nicht erwehren. Ohne diese Erfahrung wäre ich mir meiner affektiven Involviertheit und potentiellen Antastbarkeit sicher nicht im selben Maße bewusst geworden. Und es wäre sicherlich auch keine Atmosphäre entstanden, die das historisch bedingte Konzept des unantastbaren Subjektstatus im gleichen Umfang gefährdet oder zumindest irritiert hätte. Dieses Erleben veränderte meine Wahrnehmung von Albrecht Beckers eigenem Umgang mit Schmerzen und Verletzungen und die meiner selbst.[33] Aufgrund dieser persönlichen Erfahrungen möchte ich argumentieren, dass Ausstellungsstücke und Forschungsgegenstände, die vor den Betrachter_innen und Forscher_innen im Rahmen einer Choreographie der repräsentativen Archivierung geschützt werden, eine Distanz zwischen Subjekt und Objekt bedingen, die eine queere Form der Wissensproduktion erschwert und es dem Objekt verunmöglicht, Subjektstatus zu erlangen. Während es queerer Theorie und Politik darum geht, hierarchische und vergeschlechtlichte Verhältnisse zwischen Subjekt und Objekt anzuzweifeln und zumindest in Ansätzen aufzulösen, riskiert die archivarische Praxis der Überhöhung von Objekten (Danbolt 2009: 33), traditionelle Muster repräsentativer Allegorisierung zu reproduzieren: Die Alltagsdinge können zwar dargestellt werden, aber nur eingeschränkt Freiheit erlangen[34].

Der Tendenz räumlicher Separierung und Objekt-Distanzierung entspricht auch die Entscheidung der GLBTHS, einen Teil der Bestände an die Zentrale der San Francisco Public Library (SFPL) abzugeben. Die Unordnung des Archivs der GLBTHS, in der mir Dokumente, Ephemera und persönliche Gegenstände oft noch unverhofft begegneten, ist in der SFPL einer – für staatliche bzw. kommunale Institutionen typischen – strenger greifenden Regulierung gewichen. Vor allem, weil die Bestände der GLBTHS innerhalb der Zentralbibliothek der SFPL im History Center – also der Einrichtung für archivalische Magazinbestände und spezielle Sammlungen der Stadtgeschichte – einzusehen sind, greift die räumliche Separierung von Archiv und queerem Alltagswissen. Denn innerhalb in der SFPL befindet sich das History Center nicht in dem James C. Hormel Gay & Lesbian Center (siehe Abb. 7) – der Einrichtung für die Dokumentation queerer Geschichte und Kultur in der San Francisco Bay Area – sondern drei Stockwerke darüber. Während das Hormel Center in der SFPL einen von den allgemeinen Bibliotheksräumen abgetrennten und aufgrund von aufwendigeren Ausstattungselementen (hölzerne Bücherregale, andere Sitzgelegenheiten, Ausstellungsdisplay) intimen Bereich des Rückzugs darstellt, rufen die Räume, in denen das Archivmaterial eingesehen werden kann, eher Gefühle wie Ehrfurcht hervor.

Abb. 7 Jay C. Hormel Gay & Lesbian Center in der San Francisco Public Library 2011 (Quelle: Autor_in)
Abb. 7 Jay C. Hormel Gay & Lesbian Center in der San Francisco Public Library 2011 (Quelle: Autor_in)

Im Hormel Center hingegen kann geschmökert, geplauscht und ohne Zutrittsregularien gekommen und gegangen werden. Das Hormel Center ist nicht durch Personal bewacht oder eine Tür verschlossen, was dazu führt, dass sich in ihm Forscher_innen und Interessierte, aber auch Menschen aufhalten, die sich vom Alltagsstress erholen, oder Obdachlose, die einen ruhigen und weniger panoptisch überwachten und regulierten Raum für ein Nickerchen suchen. Das Center ist integrativ – was darauf hindeutet, dass die Integration queerer Archive und Bibliotheken in größere und öffentliche Institutionen nicht per se nachteilig sein muss. Im Gegenteil: Der queere Sammlungs- und Bibliotheksort erfährt durch das Nutzungsverhalten eine Erweiterung und ist nicht mehr nur auf Fragen des Geschlechts oder der Sexualität fokussiert. Die Geschichten der vielen Obdachlosen, die unweit der SFPL im Tenderloin ihr Quartier haben, ergänzen und reformulieren vielmehr die Geschichte der Unterdrückung und Verfolgung homosexueller und transgeschlechtlicher Personen.

Anders hingegen verhält es sich mit dem History Center – dem Ort also, an dem ein Teil der Archivmaterialien der GLBTHS eingesehen werden kann. Das History Center befindet sich räumlich vom Rest der SFPL abgetrennt im obersten Stockwerk und ist durch eine Tür verschlossen. Zudem unterliegt es strengen Auflagen der korrekten Einsichtnahme – Taschen müssen verschlossen, Getränke dürfen nicht konsumiert und das Forschungsinteresse muss bei der Anmeldung zusätzlich zur genauen Fundstellenangabe ausgeführt werden. Statt also in der offenen und dennoch intimen Atmosphäre des Hormel Centers sitzen zu können und von Büchern, Ausstellungsstücken und visuellen Eindrücken queeren Alltags umgeben zu sein, sind Materialien der GLBTHS im History Center unter für die SFPL ansonsten untypischen Szenarien der Regulierung und Überwachung einzusehen. Dazu zähle ich aufwendig zu wiederholende Anmeldeprozeduren sowie die Auflage, penibel alle von mir fotografisch reproduzierten Dokumente mit Signatur, Fundstelle und Beschreibung aufzulisten. Der panoptische Blick der mich beim Auflisten beobachtenden Augen des Personals fühlte sich bohrend an und konstituierte mich als suspektes Subjekt, da ich sehr viel abfotografierte. Die Tatsache, dass ich darunter viel fotografisches Material reproduzierte, das queere Sexualität zeigt, verstärkte die Wahrnehmung meiner Person als seltsam.

Hintergrund dessen ist, dass bei der Übernahme der Bestände von der GLBTHS darauf geachtet worden war, im History Center künftig nur die vom Sex gereinigten Bestände aufzubewahren (Cvetkovich 2003: 246). Die sexuell expliziten Materialien sollten eigentlich im Archiv der GLBTHS verbleiben. Im Kontext der Professionalisierung in nunmehr repräsentativen Räumlichkeiten der sich gegenüber der City Hall befindlichen SFPL sollten also Bestände unsichtbar werden, die deren Ansehen vermeintlich schaden könnten. Die aufgrund meines Erkenntnisinteresses nun im History Center zum Vorschein kommenden Materialien stießen daher auf Verwunderung und führten zu zusätzlich nervösen Blicken – vor allem in Anbetracht dessen, dass ich beim Sichten Foto-Materialien zur Rekonstruktion des Kontextes flächig und in Fotoalben nachahmender Form ausbreitete. Kurzum zeigte meine unbeabsichtigte und verunsichernde Unterwanderung vereinbarter Übernahmebedingungen an, wie sehr eine Trennung von Archivwissen und Alltagswissen im Kontext dieses queeren Archivs angestrebt wird, seit es in die öffentliche Hand übergegangen ist.

Mit der Trennung geht die scheinbare Nobilitierung eines Archivwissens einher, das vom Alltag samt seiner körperlichen Verrichtungen distanziert ist. Das spiegelt sich auch in den räumlichen Strukturen wieder – etwa durch die Unterbringung von Gegenständen des Alltags und des Wissens in verschiedenen Räumen. Während sich das History Center auf der obersten Etage befindet und den Kopf – also die Ratio – versinnbildlicht und das Hormel Center darunter auf Höhe des Herzens und der Emotion liegt, sind die Toilettenräume im Untergeschoss untergebracht. Dies erschwert die Nutzung des History Centers und evoziert den Eindruck, dass der Zugang zu Wissen nur unter Verzicht auf die prompte Erfüllung körperlicher Bedürfnisse zu erreichen ist. Um auf Toilette gehen zu dürfen, musste ich nicht nur sieben Stockwerke hinabfahren, sondern alle mühsam vor mir ausgebreiteten Materialien zusammenräumen und zum Desk bringen. Auf der Toilette begegneten mir dann wiederum und wesentlich zahlreicher als im Hormel Center Obdachlose, die die Toiletten zur Verrichtung ihrer Tageshygiene frequentierten. Der Zugang zur Toilette wird ihnen gewährt, der zum History Center hingegen erschwert.

Die mit der Raumstruktur interagierenden Praktiken des Archivierens sind – wie das Beispiel des History Centers verdeutlicht – mit der Macht verbunden, Wissen normativ und hierarchisch anzuordnen (Massey 1995). Aber auch neuerliche Umstrukturierungen von Bewegungsarchiven wie dem Schwulen Museum* zeigen, dass das offene Archiv, das ohnehin einen Sonderfall der Archivgeschichte darstellt (Schenk 2008), zunehmend zum Relikt und nur noch von wenigen engagierten Mitarbeiter_innen gelebt wird. Im Schwulen Museum* werden beispielsweise räumlich determinierte Funktionszuschreibungen immer dann aufgebrochen, wenn mir Zutritt zu den Kellerräumen gewährt wird, um im direkten Kontakt mit den Sammlungsbeständen mir wichtiger Nachlässe zu schauen, was ich genauer oben im Leseraum sichten möchte. Aus Sicht einer Forscherin, die wie ich am queerenden Potential der Verschränkung von Gefühls-, Alltags- und Archivwissen interessiert ist, sind Formen der Nutzung abseits regulierender Raumgestaltungen ein Geschenk und eröffnen eine Perspektive auf die Ambivalenzen architektonischer Rahmenbedingungen. Darauf möchte ich im Folgenden noch einmal genauer eingehen.

Gefühle als queere Lücken im Archiv

Auf den alten Strukturen der Bewegungsarchive zu beharren, um die Erforschung des Alltags betreiben zu können, erscheint vor dem Hintergrund dessen, dass der Alltag ständigen Veränderungen unterliegt, fragwürdig. Dennoch kann die Erinnerung an das verstaubte Wohnzimmer-Archiv mit seinen mitunter sensuellen Momenten den Blick für die gefühlsräumlichen Ambivalenzen der Neustrukturierungen beispielsweise im Schwulen Museum* oder in der GLBTHS schärfen. Obwohl diese Veränderungen – sofern ich die Aussagen im Verlauf so mancher Gespräche vor dem Umzug des Schwulen Museum* richtig deute – darauf abzielen, dass Image des Bewegungsarchives zu entstauben, womit unter anderem die Hoffnung einhergeht, die Geschichte der Verfolgung zu überwinden, generieren sie letztlich doch auch negative Gefühle. Diese helfen zu problematisieren, dass mit der Professionalisierung von Bewegungsarchiven im Sinne einer konservatorisch richtigen Anordnung nicht zwingend auch queere Politik zu machen ist. Der Moment des Eintritts in hegemoniale Formen der Historisierung öffnet zusätzlichem Regulierungs- und Normalisierungsdruck und neuem Zweckentfremdungsgeschehen Tor und Tür. Enttäuschung und Frustration am neuen, aufgeputzten Ort an der Lützowstraße zeigen, dass der „soziale Aufstieg“ des Schwulen Museums*, den Klaus Wowereit in seiner Rede zur Eröffnung der neuen Räumlichkeiten nahe legte, mit dem Risiko der Entfernung zur eigenen Community und zum emotionalen Alltag einhergeht.[35]

Der Blick auf negative Gefühle kann folglich hilfreich sein, um Mechanismen der Derealisierung queerer Geschichte und der alltäglichen Benachteiligung trotz aller Homo-Ehe-Inklusions-Beschwörungen zu fassen zu bekommen. Negative Gefühle können auf strukturelle Schwachstellen verweisen und – würden sie offensiver entindividualisiert und für eine queere Politik und temporäre Praxis gemeinschaftlich angeeignet – als störende Impulse im Archiv fungieren. Sie können – wie Mimi Thi Nguyen[36] meint – als Krisenmomente das Archiv in seinen normativen Politiken der räumlichen Verwahrung von Geschichte verunsichern. Als Störungen verstanden und politisiert, bilden unangenehme Gefühle ein nicht-archivierbares Phänomen, das sich den Logiken der sicheren und vollständigen Aufbewahrung entzieht. Indem sie solche Absenzen bzw. Lücken markieren, stecken negative Gefühle voller Informationen und Potentiale. Sie zeigen auf etwas und können dabei selbst nicht erschöpfend und verstetigend bestimmt werden.

Als Lücken im Archiv bestimmen Gefühle wie Scham, Angst oder Trauer ein „fruchtbare[s] Klima der Unbestimmtheit“ (Peters 1995: 6) und konstituieren das Ephemere, das José Esteban Muñoz als wesentlich für das queere Archiv erachtete. Aufgrund ihrer historischen und kulturellen Wandelbarkeit und ihrer gleichzeitigen Nichtplanbarkeit können Gefühle das „archive of the ephemeral“ (Muñoz 1996) bespielen und zu einer performativen Praxis werden, zu etwas notwendig Unabgeschlossenem und Unvollständigem. Durch diese Lücken, die das Archiv als performativen und stetig wandelbaren Gefühlsraum oder affective space konstituieren, entsteht das, was zu lesen und zu studieren fruchtbar sein könnte. Das Archiv durch die Lücken zu lesen, wie Georges Didi-Huberman (2007) es formulierte, kann zu einem Wissen führen, das hinter die aufwendig konzipierten Fassaden blickt.

Gefühle, die schon allein aufgrund ihrer Historizität und kulturellen Nuancierung instabil, widersprüchlich und flüchtig sind, provozieren Methoden der Archivierung und der Raumnutzung, die für die queere Theoriebildung interessant sind. Ann Cvetkovich (2011: 32) schreibt: “Die ephemere Natur von Gefühlen erfordert einen kreativen Zugang zum Archivieren, eine Offenheit ungewöhnlichen Objekten und Sammlungen gegenüber, eine Anerkennung dessen, was dem Archiv entflieht.”[37]

Aufgrund ihrer eigenen Lückenhaftigkeit verlangen Gefühle flüchtige und sich normativen Archivierungsmethoden widersetzende (Raum-)Praktiken. Anstatt alles erfassen und aufbewahren zu wollen, kommt es vielmehr darauf an, die Unmöglichkeit von Objektivität und systematischer Vollständigkeit produktiv zu wenden. Deswegen ist es entscheidend, Lücken ihre Geschichten erzählen zu lassen und Unbestimmtheiten in der Sortier- und Sammelwut Raum zu geben (Maase 2003: 261).

Queere Archive, die Lücken als Existenzschwellen und Grenzen des Archivs begrüßen, verzichten auf „repräsentationelle Sattheit“[38] und die damit einhergehende Gefahr der Fetischisierung der gesammelten Objekte. Mimi Thi Nguyen thematisiert dieses Risiko am Beispiel ihrer Überlegung, ihre „Race Riot“-Zine-Kompilation der Riot-Grrrl-Sammlung der Fales Library der New York University zu übergeben. Sie befürchtete, ihre Sammlung könnte dort „ein Unterschied werden, ohne einen Unterschied zu machen[39]. Aufgrund ihrer gemischten Gefühle in Anbetracht der zu treffenden Entscheidung plädiert sie letztlich für den Erhalt der Absenz oder der Lücke im Archiv. Lücken und Unbestimmtheiten ermöglichen ein spekulatives und queeres Wissen und verunmöglichen verstetigte Aussagen über Identitäten, Sub-Kulturen und deren Wissensbestände bzw. „transzendentale Teleologien“ (Foucault 1981: 190).

Die Tatsache, dass Queerness historisch in pejorativer Absicht mit Störung, Mangel- und Lückenhaftigkeit assoziiert wurde, macht diese Ansätze und Thesen umso relevanter und politisch brisanter. Inwiefern knüpfen die sich im Archiv ereignenden Störungen an die Konstruktion des queeren und perversen Körpers an? Und inwiefern ermöglicht die Affizierung dieser Störungen ein kritisches Hinterfragen normativer Wissensbestände? Welche methodologischen Überlegungen würden es erlauben, ‚queer‘ nicht nur als Label zur Beschreibung von Sammlungsbeständen zu verwenden, die vermeintlich bestimmten Identitäten zuzuordnen sind, sondern als alternative Archivpolitik zu forcieren? Welche Techniken der Archivierung gilt es zu überdenken und welche Lücken im Archiv gilt es zuzulassen?

Der Lücke im Archiv Raum zu geben, verspricht auf paradoxe Weise einen affektiven Zugang zur queeren Geschichte des Unsichtbar-Geworden-Seins. Aus diesen theoretischen Überlegungen lassen sich Archivierungsmethoden ableiten, die das Lückenhafte und Nicht-Planbare widersprüchlicher Gefühle billigen. Die Unterteilung von Lager- und Leseraum sowie andere distanzierende oder regulierende Maßnahmen scheinen demgegenüber einen kreativen Umgang mit der Lückenhaftigkeit der Archive eher zu verhindern. Obwohl das Streben nach Professionalisierung und der Wunsch nach Anerkennung gerade vor dem Hintergrund der langewährenden strukturellen Benachteiligung queerer Archive nicht vorschnell verworfen werden sollte, darf sich die Debatte über angemessene Formen der Aufbewahrung queerer Geschichte nicht darauf beschränken. Vielmehr gilt es, aus der Frustration über wissenschafts- und aktivismus-politische Tendenzen zur Vereinnahmung bisher ehrenamtlich geführter Bewegungsarchive eine machtkritische Perspektive abzuleiten, die „Formen des emotionalen, erotischen und persönlichen Lebens [...] unterstützen, die öffentlich sind im Sinne von zugänglich, erinnerbar und von kollektiver Aktivität getragen.“[40] (Berlant/Warner 2005: 98). Queere Archive sollten intime Orte bilden, die sich nicht über die Sicherung (der Sichtbarkeit) vorgegebener Identitäten legitimieren, sondern die einen Raum zur Verfügung stellen, in dem affektive Spannungen und Widersprüche Unordnungen generieren, die immer wieder Umordnungen von Positionen und Allianzen ermöglichen. Denn: „[…] solch einem Raum tut man nichts anderes als Gewalt an, wenn man davon ausgeht, er würde einen unverändert lassen”[41] (Nyong´o 2014).

Endnoten

Autor_innen

Katrin Köppert ist Gender- und Literaturwissenschaftlerin. Ihre Schwerpunkte sind Medientheorie, Mediengeschichte, Populär- und Amateurkultur, Low Theory, Queer Theory, Queer History, Affect Studies, Mikropolitiken und Postcolonial Theory.

katrin.koeppert@ufg.at

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