Für einen Vergleich von Bachelard und Lefebvre. Ein Beitrag zur Debatte um die Erzeugung des Raums

Stephan Günzel

Im Folgenden skizzenhaft angedacht ist der Vergleich zwischen zwei der wichtigsten Raumtheoretiker des 20. Jahrhunderts, die zumeist nicht zusammengedacht werden: Gaston Bachelard und Henri Lefebvre. Dies liegt insbesondere an den disziplinären Rezeptionsfeldern, da Bachelard zumeist in der Literatur, Lefebvre zumeist in der Sozialtheorie rezipiert wird. Hier soll dagegen deren Gemeinsamkeit herausgestellt werden. So haben bei Lichte betrachtet die beiden französischen Philosophen im Abstand von etwas mehr als 15 Jahren ein Buch zum selben Thema geschrieben: Schon die Titel Die Poetik des Raumes von 1957 und Die Produktion des Raumes von 1974 sind nämlich nahezu identisch, eingedenk der Tatsache, dass poiein im Griechischen letztlich das gleiche heißt wie producere im Lateinischen: ‚machen’ bzw. ‚hervorbringen’. Freilich sind die Konnotationen andere: ‚Poetik’ verweist im gegenwärtigen Kontext auf Literatur und ‚Produktion‘ auf Industrie. Und so waren die beiden Untersuchungen auch angelegt: Bachelard betrachtete die Erzeugung von Raum in erster Linie durch Literatur, während Lefebvre auf die Raumproduktion durch Gesellschaft abstellte. Beide waren auf ihre je eigene Weise ‚kritisch’: Bachelard kritisierte die poetische ‚Blindheit’ der Naturwissenschaften und der Philosophie, Lefebvre vertrat einen marxistischen Ansatz, der selbstredend die sozialen Verhältnisse kritisierte.

An dieser Stelle werden auch die großen Unterschiede deutlich, die es trotz der Nähe zwischen ihnen gibt: Während Bachelard das dialektische Interpretationsschema hinter sich lassen möchte, universalisiert es Lefebvre in der Tradition von Karl Marx und Friedrich Engels. Jedoch ist mit einer ‚Dialektik des Raumes’ bei beiden nicht das Gleiche gemeint: Für Bachelard ist die Raumdialektik des philosophischen Denkens oder der Metaphysik zwischen den Polen des ‚Drinnen’ und ‚Draußen’ gefangen, während Lefebvre meint, dass zwischen Praxis und Theorie des Raums eine Dialektik besteht, insofern beide gegenseitig aufeinander wirken und sich dadurch verändern; wie zum Beispiel das alltägliche Spazierengehen in der Stadt durch den Gebrauch von Karten (als Raumerzeugnis der Kartographie) transformiert wird bzw. das Erkunden eines Gebiets zu Eintragungen in Karten führen kann.

Bachelard wirft der Metaphysik vor, bei ihren Modellen von einem Gegensatz zwischen ‚innen’ und ‚außen’ auszugehen, wie beispielsweise René Descartes das Denken (als res cogitans) im Inneren des Subjekts und die Dinge (als res extensa) außerhalb des Subjekts ansiedelt oder Martin Heidegger im Versuch der Überwindung dieses Modells selbst noch von einem ‚Da-Sein’ spricht, das im Gegensatz zum Hier- oder Woanders-Sein steht. So ist Dialektik bei Bachelard ein Gegenstand der Kritik, während sie bei Lefebvre ein Mittel der Beschreibung ist.

Tatsächlich ist zu überlegen, ob Lefebvre mit Bachelard zu kritisieren ist, insofern ja auch Lefebvre eine Gegenüberstellung zweier Räume in Anschlag bringt, wenn er zwischen ‚räumlicher Praxis’ und ‚Raumrepräsentationen’ unterscheidet. Dies dient zwar nur analytischen Zwecken, insofern ‚in Wirklichkeit’ beide bereits synthetisch ineinanderfließen, aber in der Theorie des Sozialraums ist die Unterscheidung getroffen. Gleichwohl will auch Lefebvre die Unterscheidung überwinden, indem er auf die Produktion eines ‚dritten Raums’ abhebt: den sozialen oder kulturellen Raum als sogenannten Repräsentationsraum. Und eben an diese Stelle sind sich Bachelard und Lefebvre sehr nahe, da es auch Bachelard darum geht, die Darstellungsräume der Philosophie und Naturwissenschaften zu untersuchen, die weder als poetische Erzeugnisse noch zumeist überhaupt als Räume betrachtet werden, wie eben die genannten Subjektkonzeptionen von Descartes und Heidegger. Die Trennung zwischen vernünftiger Subjektivität und unvernünftiger Materie nach Descartes ist schließlich immens kulturprägend; oder vielmehr ist Descartes‘ Philosophie selbst ein (poetischer) Ausdruck einer bestimmten Kultur – nämlich der rationalistischen, die nur das für ‚wahr’ und wert befindet, was auch durch den menschlichen Verstand messbar ist. So ist etwa Architektur in der Neuzeit immer weniger eine, die aus Erfahrung entsteht, sondern eine, die berechnet wurde. Während der philosophische Diskurs über die Richtigkeit des kartesischen Modells streitet und es (wie durch Heidegger) zu verbessern – d.h. näher an die Wahrheit zu bringen – sucht, würde Lefebvre Philosophien selbst als ein Moment der Raumproduktion betrachten. Der Wert von Philosophien liegt nach Lefebvre damit in der Exemplifikation von Strukturen, die sich im dialektischen Prozess zwischen Raumpraxis und Raumrepräsentationen herausbilden und/oder diesen bereits zugrunde liegen. Hierin besteht aber wiederum ein Unterschied zu Bachelard, da Lefebvre kein wirkliches Außerhalb oder Anderes des (dialektischen) Prozesses kennt. Bachelard hingegen sieht es mit der Literatur gegeben, die Räume gezielt hervorbringt und an die Stelle der Wahrheit einer Konzeption die Erfahrung stellt. Diese kann etwa in den Kindheitserinnerungen an Dachböden oder Keller bestehen, in der Beschreibung gewundener oder spiralförmiger Räume wie Treppen bzw. Muscheln, für deren Beschreibung die Unterscheidung zwischen Innen und Außen hinfällig wird.

Doch auch Bachelard ist dabei nicht konsequent und wird selbst Teil des Prozesses der Raumproduktion, wenn er zum einen doch davon ausgeht, dass es eine ‚richtige’ Form des Raums gibt (nämlich das ‚Runde‘ als dem Menschen Angemessenes), und wenn er zum anderen, wie schon Albert Einstein, den Naturwissenschaften rät, die Richtigkeit der Naturbeschreibung in der Unanschaulichkeit zu suchen, das heißt jedes räumliche Modell (auch von Raum) hinter sich zu lassen. Als Beispiel wäre zu nennen, dass das 18. Jahrhundert den Raum als Schwamm vorstellte, dessen Hohlräume die Aufnahme der Objekte ermöglichten. Oder dem vorausgehend Newton, der die relativen Räume im Absoluten als Behältnisse für Dinge beschrieb. Die ‚echte’ Relativität von Raum dagegen wäre selbst nicht mehr durch (Raum-) Modelle vorstellbar.

Weit wichtiger aber als dieser Unterschied zwischen Bachelard und Lefebvre sind die grundsätzlichen Übereinstimmungen, zu denen zunächst die Annahme gehört, dass Raum nicht einfach ‚da’ ist, sondern durch Praxis und Theorie hervorgebracht wird. Sodann besteht die Übereinstimmung darin, dass beide ein Konzept (wenn auch nicht beide den Begriff) von Repräsentationsraum haben, als etwas in dem größere Zusammenhänge verdichtet sind. Und zuletzt geht die Übereinstimmung vielleicht gar soweit, dass es für beide zwei Arten von Repräsentationsräumen gibt: Für Lefebvre gibt es diejenigen, die sozialen Strukturen bloß reproduzieren (was zumeist der Fall ist), während es auch solche gibt, die Strukturen tatsächlich (neu) hervorbringen. Lefebvre spricht von ihnen als ‚klandestine’ Räume, also heimliche oder verborgene Räume, welche die gesellschaftlichen Strukturen unterlaufen und Veränderungen herbeiführen. Eben diese sind auch für Bachelard die eigentlich poetischen Räume – also die Räume der Literatur im Unterschied zu Räumen der Wissenschaft und Philosophie, die nicht wie jene im Stande seien, das Denken zu verändern. Durch eine solche Annäherung könnte Bachelards ‚topophiles’ Raumverständnis vom nicht ungerechtfertigten Vorwurf der Präferenz auf ‚gute Räume’ zwar nicht freigesprochen werden, aber das Potenzial der übrigen Theorie gesehen werden.

Autor_innen

Stephan Günzel ist Kultur- und Medienwissenschaftler. Seine Schwerpunkte sind Bild-, Raum- und Spieletheorie.

s.guenzel@btk-fh.de

Literatur

Bachelard, Gaston (1987): Poetik des Raumes. Frankfurt a. M.: Fischer.

Lefebvre, Henri (2006): Die Produktion des Raums (Auszug). In: Jörg Dünne / Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Texte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 330-342.