Der Raum ist der Freund des Seins. Bachelards Poetik des Raumes als Anstoß zu einer neuen Betrachtung des sozialen Raumes

Thomas Dörfler

„Das Unbewußte hält sich auf“

Bachelard

1. Einleitung

Der folgende Text versucht, eine neue Perspektive auf die in der Sozialwissenschaft anhaltende Raumdebatte um den spatial turn zu entwickeln. Hauptanliegen ist es, die darin waltende unproduktive Dichotomisierung von Raumessenzialismus versus Raumkonstruktivismus hinter sich zu lassen, um das dialektische Verhältnis von Materie und sozialer Raumkonstitution (nicht: Konstruktion) in den Vordergrund zu rücken. Es wird argumentiert, dass nur eine diese Wechselwirkung beachtende Theoriebildung das Problem sozialwissenschaftlicher Konzeption von Räumlichkeit in seiner Tragweite in den Griff bekommen kann. Grundlage und Ausgangspunkt ist eine Kritik an einer vereinfachenden Spielart des Konstruktivismus, wie er in den Sozial- und Kulturwissenschaften populär ist, und der das Nachdenken über Raum tendenziell verunmöglicht.

2. Modus operandi

Die Postmoderne war ein Irrtum: die Annahme, dass die Welt - und damit das Subjekt, denn ohne Subjekt gibt es keine Welt - aus sprachlichen Zeichen bestehe, hat sich als große Farce erwiesen. Sie führte zur ‚Verabschiedung‘ des Menschen und zur Apotheose des Zeichens, das sie über das Erlebte, über das Materielle und über das leiblich Erworbene stellte. Es ist dies das zentrale Problem einer Epoche in den humanities, die durch eine spezifische Blindheit den Realien des Lebenserwerbs gegenüber geprägt ist. Sie glaubt, Wesenhaftes durch die konstruktivistische Zurückweisung des ‚wesenhaften Denkens‘ zu vermeiden. Dieses Denken gibt vor, nichtessentiell in der Zurückweisung des ‚Essentialismus‘ zu sein, aber es landete dort, wo jede nichtdialektische Denkfigur landen muss: in der Verklärung ihres Standpunktes als Wesenhaftes, im ‚Immer schon‘ der gegebenen Differenz der Identität, im ‚Seit-Jeher‘ der Dezentrierung des Sinns, ohne auch nur einen Aspekt dieser Annahmen im klassischen Sinn beweisen, also herleiten zu können. Die so formulierte Kritik u.a. am Raumdenken kann deshalb einer essentialistischen Ursprungslogik zugeordnet werden, einem willkürlichen Setzen der Differenz statt der Identität des Sein als Anfangsbedingung der Welt (Dux 1982: 122 ff.). Die „Struktur der Zeichen” (Derrida 1997a [1967]) ist in diesen Theorien als göttliche Gabe konzipiert (‚Am Anfang war die Differenz‘), deren Geltungsgründe wie -bedingungen seit Anbeginn des Strukturalismus nie ausgewiesen wurden, also seit DeSaussures Cours de linguistique générale und allen (Post-)Strukturalismen, die darauf aufbauten. Diese Grundannahmen landeten mithin in der schlichten Form einer aus der Vormoderne sich nährenden Ideologie, die das Werden des Neuen nicht rational klären konnte (vgl. Wenzel 2000: 175 ff.), sondern im Anfang eine quasi-mythische Setzung vollzog und dies bis heute tut (‚alle sozialen Beziehungen sind sozial konstruiert’).

Im Hinblick auf die gegenwärtigen Debatten um das Wiedererstarken der phänomenologischen Soziologie, einer möglichen „Sociology of flesh and blood“ (Wacquant 2015) oder eben der neuen Aufmerksamkeit der Materialität des Raumes gegenüber muss man aber mittlerweile fragen: wieviel Blindheit gehörte dazu, an sich selber zu verkennen, worauf eigenes Denken und Tun als leiblich organisiertes Subjekt beruht (Freud, Lacan)? Wie viel Blindheit gehörte dazu, den Prozess kognitiver und leiblicher Enkulturation mit seiner spezifischen Dialektik zu missachten (Piaget)? Wieviel Blindheit, die Topik seines eigenen Imaginären zu leugnen, also die Tatsache, dass das eigene Denken im und mit dem konkreten, einem gegenüberstehenden, physisch wirklichen Raum und seinen auch sozial etablierten Qualitäten seine Orientierung fand (Plessner, Bollnow, Piaget und eben auch Bachelard)? Das wären die Fragen, die man nach Re-Lektüre von Bachelards 1957 erstmals veröffentlichter Poetik des Raumes an Teile der zeitgenössischen Raumdebatte stellen müsste. Oder anders ausgedrückt: warum verkennt die Diskussion, dass das Unbewusste einen bzw. mehrere topographische Orte hat, „da es sich aufhält”, es gebildet und angeeignet wurde entlang den Orten unserer Intimität und Subjektorganisation: das, was man die erlebten Räume der Biographie nennen könnte und die „auf einer direkten Ontologie“ beruhen (Bachelard 2014: 8). Am Anfang dieses Beitrags steht also die These, dass das Wissen über den Raum nicht anders als über dessen leibliche Inkorporation und der Ablagerung seiner Objektqualitäten (als poetische ‚Bilder‘ bei Bachelard) im Leiblich-Psychischen sich manifestiert und auch nur so sinnadäquat analysiert werden kann.

3. opus operatum

Als ein wohlwollendes Korrektiv zur aktuellen Semantik über den Raum erscheint uns deshalb die Poetik des Raumes, dessen Titel bereits eine Provokation für den zeitgenössischen und hier kritisierten Diskurs ist, da es für diesen keinen ‚Raum an sich’, sondern nur einen durch Subjekte, Diskurse oder Strukturen ‚gemachten‘ Raum geben darf; dies wird als eine Zurückweisung eines ‚Substantialismus‘ verstanden, der seine eigentümlichen Idiosynkrasien hervorbracht hat (s.u.). Der verpönte ‚Substantialismus‘ mag auch der Grund sein, warum Bachelard in der gegenwärtigen Raumdebatte in Soziologie, Geographie oder Ethnologie kaum zitiert wird (anders in der Literaturwissenschaft), wie ebenso seine Begrifflichkeiten wohl dazu beitragen, sich nicht mit seiner „Topophilie” auseinanderzusetzen, die sich zum Beispiel den „Bildern des glücklichen Raumes” widmet (Bachelard 2014: 25), und die man allesamt als Alarmbegriffe für den postmodernen Konstruktivismus bezeichnen kann. Die Debatten Bachelards und die Epistemologie der Diskurse seiner Zeit sind zwar nicht mehr die unsrigen, weswegen die mühevollen Abgrenzungen, die er gegen Rationalismus, Zeitphilosophie, Metaphysik und Psychologie vornimmt, hier nicht interessieren (vgl. ebd.: „Einleitung”). Man sollte aber fragen, was Bachelard zum heutigen Raumdiskurs beitragen kann, insbesondere im Hinblick auf zeitgenössische Strömungen wie dem spatial turn oder der Wiederentdeckung des Raumes in den Sozial- und Kulturwissenschaften.

Denn man kann an Bachelard etwas wiederfinden, was der gegenwärtige Diskurs zum Raum aus seinem Fokus verdrängt hat und auch verdrängen musste, weil seine Sichtweise zumeist auf einem spezifischen Konstruktivismus und seiner Ableger Dekonstruktion und Diskursanalyse beruht, deren Dilemmata oben angedeutet sind. Dies macht es gegenwärtig schwierig, Raum jenseits diskursiver oder semantischer ‚Konstruktionen‘ zu analysieren, ja ihn überhaupt frei von Polemik angehen zu können als ein Existierendes jenseits von Sprache und sozialer Praktiken, aber diesseits plumper Materie-Metaphern wie der vom Raum als ‚physisch-materielles Substrat’. Dieser Diskurs verhindert den Zugang zu Raum und dem Räumlichem überhaupt, und muss sich deshalb auch verweigern, das Problem mit geeigneter empirischer Methodik anzugehen, da Raum für ihn letztlich nicht existiert (exemplarisch der ‚Konstruktivismus’ in Gebhard et. al. 2006).

Lässt man sich dagegen auf Bachelard ein, dann können in seiner Poetik der Raum und seine Objektqualitäten als etwas Drittes erkannt werden, als etwas jenseits von Subjekt und Objekt, nämlich als ein Phänomen mit Objektqualitäten, das erst angeeignet werden muss, da man sonst als Subjekt (sozial wie materiell) nicht existieren kann. Bachelard betrachtet deshalb die Dinge als erfahrene Subjekt-Objekt-Räume, die uns einerseits in ihrer Dimensionalität gegeben, andereseits aber auch kulturell hergestellt sind – dadurch aber immer noch gegeben für das erfahrende Subjekt und nicht konstruiert. Er betrachtet sie in ihrer Be- wie Einhausung, die uns leiblich anrührt („Nest”, „Winkel”, „Drinnen und Draußen”). Und er argumentiert damit realistischer im Hinblick auf diese Erfahrungsdimensionalitäten des Raumes, als es der zeitgenössische Konstruktivismus je könnte, weil dieser sich real existierende, gegebene Phänomene als Seiende und ihre Wirkungen stets buchstäblich vom Leib hält, aus Angst, es drohe ‚Innerlichkeit’ oder das ‚Wesen’ der Dinge – bzw. was man dafür hält; ein bekannter ‚weißer’, ‚protestantischer’ Abwehrmechanismus, der nicht nur in Form der ‚postkolonialen’ Studien Menschen aus der gleichnamigen Peripherie als absurd und widersprüchlich erscheint (vgl. Goonewardena 2015).

Diese Verweigerung, die Komplexität der Welt als Wechselspiel von gegeben und erworben anzuerkennen, ist das spezifische Problem eines Diskurses, der seine sozialkonstruktivistischen Annahmen (alles sei ‚gesellschaftlich hergestellt‘) auf alles anzuwenden bereit ist, außer auf sich selbst (Renn 2012; Dörfler/Rotfuß 2013). Es fehlt ihm also eine kritische Theorie und Dialektik seiner selbst und vor allem von den räumlichen Aspekten sozialer Welten, da diese weder ‚mit Bedeutung aufgeladen’ (eine weitere uneingestandene substantialistische Floskel in diesem Diskurs), noch vom Menschen unbeeinflusstes ‚Substrat’ sind, sondern nur in einer Wechselbeziehung existieren, mittels welcher sie überhaupt angeeignet werden können.

Raum als lebensweltliches Phänomen und seine angeeigneten Weisen wie Orte, Gänge, andere Subjekte, Wege oder Schubladen, Treppen und Keller bei Bachelard, bestehen deshalb aus Erfahrungswerten von Dingen, die nicht in (diskursiven etc.) Konstruktionen aufgehen, sondern weit über sie hinausweisen.[1] Sie werden leiblich ‚erkannt’, also vermittelt, und hinterlassen ihre Spuren in Leib und Psyche wie in der daraus ableitbaren symbolischen Raum-Repräsentation (das große Thema Bachelards). Diese gibt es aber nicht, weil es Begriffe von ihnen gibt (wie es der hier kritisierte ‚banale’ Konstruktivismus annimmt, vgl. Dörfler/Rothfuß 2013: 195 f.), sondern weil man unter anderem ihren räumlichen Phänomencharakter wahrnimmt, der wiederum nach Bachelard seine ‚Bilder‘ in den Phantasmagorien der Psyche produziert. Erfahrungen von materiellen settings, vulgo Raum, sind deshalb zunächst als solche wirkmächtig, nicht als diskursiv, sprachlich, zeichenhaft etc. Vermitteltes, wie es der zeitgenössische Konstruktivismus etwa in Form der „Neuen Kulturgeographie” tut.[2] Man kann dies an der Hilflosigkeit erkennen, wie dieser etwa den von Menschen geäußerten atmosphärischen Kontext einer sozialräumlichen Lage erklärt: diese haben sich eben ihre Atmosphäre ‚konstruiert’, aber mit konkreten räumlichen settings und seinen Ortsqualitäten (Texturen, Oberflächen, Dimensionen von Gebäuden oder distinkte Zeichen (Habitus, Doxa) anderer Subjekte) habe das nichts zu tun.

Als Kontrast dazu könnte Bachelard anknüpfbar sein an eine phänomenologisch beziehungsweise hermeneutisch orientierte Erforschung von (sozialen) Räumen, vor allem von Atmosphären und Ortsqualitäten, wie sie derzeit vor allem von Jürgen Hasse und anderen geleistet wird. Es drängt sich geradezu auf, Methodologien zu entwickeln bzw. bereits existierende anzuwenden, die dieses ‚Raumwissen’ der Subjekte zutage fördern und damit die erwähnte Dialektik von erlebter und sozial inkorporierter Umwelt ins Zentrum stellen, statt sie als soziales Konstrukt zu banalisieren. Dies wiederum könnte den Dualismus von Raum als Essenz vs. Raum als Konstrukt umgehen, wie er derzeit die Diskussion zum Thema lähmt. Dazu ist es notwendig, eine kurze Rekapitulation der theoriepolitischen Konsequenzen des oben kritisierten Konstruktivismus in den hiesigen Sozialwissenschaften zu geben, um einen neuen Zugang davon abgrenzen zu können.

4. ubi venisti, Konstruktivismus?

In den Wissenschaften vom Menschen, wie sie an den Universitäten in Europa oder den USA gelehrt werden, hat sich zumindest in bestimmten Disziplinen ein Paradigma etabliert, das man als ‚vulgären Konstruktivismus‘ oder schlicht ‚Konstruktivismus in Anführungszeichen‘ bezeichnen kann (Vgl. Renn 2012: 21; Dörfler/Rothfuß 2013: 196, frühere ‚Ideologiekritik‘ daran etwa bei Eagleton  2002 oder zeitgenössisch in Zizek 2009: 92 ff). Wesentliche Grundannahme dieser Spielart des Sozialkonstruktivismus ist es, dass ‚die Welt‘ und alle darin handlungsleitenden Strukturen ‚konstruiert‘, also mehr oder weniger willkürliche Setzungen bestimmter soziokultureller Dispositive und Epochen seien (aktuell gerade wieder erneuert in Pörksen 2015, „Einleitung“, exemplarisch für die Soziologie und Kulturwissenschaften in Reckwitz 2000). Diese postulierte Arbitrarität gelte ebenso für Geschlechteridentitäten oder andere Identität(en) der Mehrheitsgesellschaften.[3] So auch für den Raum beziehungsweise die räumlichen Aspekte menschlicher Lebenswelten. Weiterhin überrascht, dass diese Annahmen für alle Phänomene der sozialen (und bisweilen sogar materiellen) Welt gelten sollen – außer für den Konstruktivismus selbst. Er stellt sich damit als sich selbst ontologisierende Theorie dar. Zwar gerät er durch diese performativen Selbstwidersprüche und uneingelösten Geltungsansprüche seit einiger Zeit grundsätzlich in die Kritik (Renn 2012: 22, 28 f., früh bereits Dux 2000), allerdings kann seine Erklärungsschwäche für die Wirkmächtigkeiten materieller Aspekte sozialer Lebenswelten anhand seiner ‚räumlichen Spielarten’ besonders gut herausgearbeitet werden, wie ich im Folgenden zeigen will.

Die starke Dichotomisierung des Diskurses zwischen ‚Raum als Essenz‘ vs. ‚Raum als gesellschaftlich Gemachtes‘ ist performativer Effekt einer um Aufmerksamkeit buhlenden ‚Diskursivität des Neuen’, die in ihrer spezifischen Eigenart als identitätslogische Verortung für das postmoderne Paradigma und seine Spielarten (Poststrukturalismus etc.) gelten kann. Auffallend am Diskurs der konstruktivistischen ‚Raumkritik‘, wie er vor allem in der deutschsprachigen Humangeographie virulent ist, ist auch die manchmal sinnvolle, manchmal ritualhafte Abgrenzung von einem ‚echten’, ‚vorab existierenden‘ Raum, der gesellschaftlich wirksam ist, also von Ansätzen, die sich tatsächlichen, materiellen, spürbaren etc. Effekten räumlicher Ordnungsstrukturen und ihrer sozial vermittelten Wirklichkeit widmen (Olfaktorisches, Haptisches, leiblich Wirkendes usf.). Diese semantische Abgrenzungsstrategie ist eine theoretisch kaum durchdeklinierte Ausflucht in ein Konzept der ‚Gemachtheit‘, der ‚Zuschreibungen‘ oder der ‚symbolischen Aufladungen‘, die Orte, Plätze und Atmosphären erhalten sollen, weil sie nicht ‚etwas‘ sein dürfen, also kausal die Erfahrungen ihrer selbst (mit-) prägen, gerade weil sie materiell, also Teil des Raumes sind. Da es in diesem Paradigma zudem kein Subjekt geben darf, das hiervon eigenständige Erfahrungen erlangt (es wurde ja bereits ‚verabschiedet’), kann in seinem Rahmen auch nicht auf die materiellen Aspekte sozialer wie nichtsozialer Umwelten eingegangen werden; dies muss als etwas ‚Deterministisches‘ verpönt bleiben, und zwar – siehe die bereits zitierte Kritik von Renn 2012 – deshalb, weil sie keine Möglichkeit besitzt, die konstitutionslogisch und nicht-konstruktivistisch vorgefundene Realität in ihr Theorie- und Weltgebilde zu inkorporieren.

Ein ‚existenter‘ Aspekt des Raumes, also die materielle Dimension sozialer Umwelten selbst, wird deshalb meist reflexhaft als ‚das Andere‘ dem eigenen, angeblich ‚kritischen‘ Konstruktivismus entgegengestellt, und es wird einem solchen Denken ein ‚wesenhafter‘ Raumbezug zugeschrieben, damit man es als ‚essenzialisierend’ brandmarken kann. Alle jene, die räumliche Aspekte der sozialen Umwelt als eigenständige Wirkmächtigkeit für das Soziale auffassen, gelten in diesem Paradigma folglich als Träger falschen oder ‚alten’ Wissens vom Raum und werden als Widerstand gegen ein ‚aufgeklärtes‘, soll heißen eines ‚konstruktivistischen‘ Raumverständnisses angesehen.

Der selbstproduzierte blinde Fleck ist dabei die bereits angedeutete verabschiedete Subjekttheorie, die in der populären Variante postmodernen Theoretisierens das ‚Ende des Subjekts‘ in den Mittelpunkt stellt. Das Subjekt kann in dieser Lesart als autonom erfahrendes soziales Wesen, an und in welchem sich Gesellschaft durch diese es konstituierende Eigenlogik gleichsam materialisiert, kaum in Erscheinung treten, weil es autonome Erfahrungen und Handlungen von Subjekten dortselbst nicht geben darf.

Aber auch wenn dies als bloß notwendige Konstruktion der Inwertsetzung dieses Diskurses aufgefasst wird (Dörfler/Rothfuß 2013: 196 ff., Wardenga 2013), so hat es in Bezug auf das Raumdenken zu einem weiteren, beachtlichen Problem geführt. Die Kritik an ontologischen Raumverständnissen kommt – wie gezeigt – nicht ohne die Konstruktion einer ‚bösen‘ Theoriebildung aus, in diesem Falle einer, die räumliche settings als tatsächlich existent und kausal wirkmächtig begreift. Sie dürfen lediglich als Dinge eines vom Diskurs, System etc. ‚gemachten’ Raumes erscheinen, niemals als etwas Seiendes, das es ‚vor’ dem System gibt oder jenseits der Signifikation.

Welches Kind hier mit dem Bade ausgeschüttet wird, ist evident: folgt man dieser Spielart des unreflektierten, weil nicht auf sich selbst angewendeten Konstruktivismus, dann ließe sich keinerlei materielle Erfahrung der Welt als Erfahrung eines existenten, räumlichen Arrangements erleben, und das ist, wie jeder bei Selbstreflexion erkennen kann, „ver-rückt“ (H. Hesse im Steppenwolf) und falsch, weil es die Wirkmächtigkeit der Welt leugnet, die überhaupt erst das anthropologische Sein und Werden des Menschen als leibgebundenes Kulturwesen bedingt und ermöglicht (Dux 2000, Liebermann 2013). Ohne widerständige und eigenwirkliche Welt gibt es kein Subjekt, sonst blieben zum Beispiel einzelne und unausbleibbare, ja notwendige und konstitutive Erlebnisse wie ‚kognitive Verarbeitungen’ des Materiellen (Stolpern, dimensionales Raumdenken, Zählen usf., s. Piaget/Inhelder 1975: 518 ff., Piaget 1980) reine Luftnummern des Sinns, statt physisch-materielle Außenstände eines durch das Subjekt dabei synthetisierten Raumbezugs (denn das nächste Mal weicht man aus oder scheitert anderweitig). Demgegenüber muss an eine – im Übrigen und entgegen der banal-konstruktivistischen Annahmen – empirisch gewonnene Wahrheit eines historisch-kulturellen Materialismus erinnert werden, wie er beispielsweise in der Erweiterung Piagets zur Sozialtheorie vorgelegt wurde: Weder sind Welt und Gesellschaft real aufgrund arbiträrer Sprachspiele, noch Konstrukt kommunikativer bzw. diskursiver Praktiken über ‚Welt’; die konstruktive Organisation von Welt ist nur anhand der naturalen Organisation des Menschen (und seiner Sprache) begreifbar und überzeugend herzuleiten, unter Anderem weil man mit letzterem ersteres erklären kann und nicht umgekehrt (Dux 2000, Wenzel 2000).

5. natura non facit saltus

Es ist fast egal, an welche Sozialtheorie dabei anknüpft wird, wenn man diese Kritik geltend macht: Freud, Piaget, Lacan, Plessner, Dux oder die Kritische Theorie nach Adorno und Horkheimer, sie alle kennen die Dialektik zwischen Subjekt und Objekt als gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang. Nur der ‚Poststrukturalismus’ leugnet dies tapfer und bemüht immer noch die lediglich sprachlich-diskursiv konstruierte und solcherart ‚gemachte’ Welt. Da nicht abzusehen ist, ob das Erbe des kritisch-dialektischen Denkens jemals in diesen Diskurs inkorporiert werden wird, muss, um jenes zu erklären, schlicht auf Ansätze zurückgegriffen werden, die das Raumverständnis als gesellschaftlichen Zusammenhang bearbeiten oder zumindest Ideen zu seiner Thematisierung anbieten können. Denn eine reflexhaft und stetig wiederkehrend vorgebrachte Kritik am ‚ontologisierenden Raumverständnis’ nimmt keine Notiz davon, was zum Beispiel die Phänomenologie von Merleau-Ponty, Bollnow, Strauss oder K.-F. Dürkheim und anderen hervorbrachte und was als Grundlage einer ‚neuen‘ Raumtheorie stehen könnte: leibliche und konkrete Raumerfahrung als Basis menschlichen Erinnerungs- und Orientierungsvermögens, als existenzieller Aspekt einer Lebensführung im anthropologischen Sinne und vor allem als Ausgangspunkt einer Theorie des Erlernens von Sinn (den sozialen ‚Bildern‘ bei Bachelard), die die Bedeutung etwa der ‚Schublade‘ aufgrund ihrer räumlichen Beschaffenheit hervorruft. Manchmal scheint es, als habe die aktuelle Raumdebatte die physische Räumlichkeit als Teil und Bestandteil auch sozialer Praxis sowie deren Eigenwert gänzlich aus ihrem Blickfeld verloren – oder absichtlich ausgeblendet. Dies ist nicht nur erkenntnislogisch ein Problem (denn es gibt Raum als dimensionale Ausdehnung jenseits des Subjekts, weswegen er auch angeeignet werden muss, s. Piaget/Inhelder 1975), sondern auch praktisch-empirisch: wie will man etwa erlebte Räume im Sinne von Lefebvre erforschen (espaces vécus), wenn es sie doch gar nicht gibt als Wirkendes mit eigenständigen Objektqualitäten? Die Phänomenologie dagegen bemerkte früh, „daß die Frage nach der räumlichen Verfassung einen grundlegenden (und bisher nicht hinreichend erkannten) Beitrag zum Gesamtverständnis des Menschen” darstellt (Bollnow 1963: 499). Basis ist unter anderem die in diesem Diskurs gebilligte Einsicht, dass es „eine rein gnostische Wahrnehmung nicht geben kann, d.h. dass das Subjekt immer in einer erlebten Beziehung zum Sinnesgegenstand steht” (Vilsmaier 2009: 59). So auch zum Raum bzw. seinen Manifestationen.

Ungeachtet der Tatsache, dass in einem Artikel dieser gesamte Diskurs nicht aufgearbeitet und in eine neue Theorie überführt werden kann, so soll doch an dieser Stelle deutlich werden, dass es notwendig ist, Raumerfahrung und räumliches Denken nicht lediglich als soziales Konstrukt, sondern auch als konkret an Räumlichkeit gewonnenes Denken und Fühlen aufzufassen, dessen Wirksamkeit für Subjekte und Gesellschaft gerade aufgrund der materiellen Qualitäten erfahrbar ist. Aktuelle gesellschaftlich hergestellte Aspekte objektiv-baulicher Wirklichkeit, wie sie derzeit diskutiert werden, etwa die Kritik an der europäischen Bau-Moderne (bereits bei Lefebvre 1978 [1962]: 140 ff.), der spatial fix als räumlicher Ausdruck kapitalistischer Praxis (zusammenfassend in Harvey 2001) oder die kreativen Atmosphären neuer Arbeitsverhältnisse (Florida 2004), sind nicht zu erklären, wenn sie nicht als eigenständiger räumlicher Phänomenbereich gesellschaftlicher Wirklichkeit, auch wenn er sozial hergestellt ist, betrachtet werden.

6. homo spatialis?

Dies liegt vor allem daran, dass Raum entweder als „Behälter”, meist als Begrenzung für darin ablaufende Interaktionen, gedacht wurde (Löw 2001), oder in den konstruktivistischen Ansätzen überhaupt nicht für wert erachtet wird, eigenständig und in seiner sozialen Konstitution erfasst, sowie in seinem Einfluss auf das soziale Erkennen konzipiert zu werden. Das aber ist umso erstaunlicher, als dass Bollnow bereits vor 50 Jahren die Wegmarken dafür ausgelegt hat:

„Man sagt in der Regel leichthin: Der Mensch befindet sich ‚im Raum’. Diese Feststellung scheint unangreifbar klar, aber schon sie führt auf Schwierigkeiten; denn offenbar befindet sich der Mensch im Raum in anderer Weise, als sich ein Ding in einem Behälter befindet, also als etwa die Kohlen im Keller. Der Mensch verhält sich zum Raum und ist als die Mitte seines Raums auf die Dinge in seinem Raum intentional bezogen. Nach Richtung und Entfernung gliedert sich für ihn das räumliche Gefüge der Dinge. Ich spreche in diesem Sinn kurz von einem intentionalen Raum. Dieser ist in Philosophie und Psychologie ziemlich eingehend erforscht. Aber offensichtlich ist mit dem intentionalen Gefüge die Gegebenheit des Raums noch nicht hinreichend bestimmt. Es gibt in seinem Rahmen noch verschiedene Weisen, sich nicht nur zu den einzelnen Dingen im Raum, sondern auch zum Raum im ganzen zu verhalten, und Weisen, die teilweise sogar die intentionale Form der Bezogenheit sprengen. Diese verschiedenen Weisen, das Verhältnis zum Raum zu erfahren, bezeichne ich zunächst vorläufig mit dem Begriff des Raumbewußtseins oder dem des Raumgefühls. Ich verstehe darunter gewisse Gestimmtheiten, die das Verhältnis zum Raum im ganzen durchziehen und die als solche von den gefühlsmäßigen Beziehungen zu den einzelnen Dingen im Raum verschieden sind.” (Bollnow 1963: 500 f.)

Löw hat dies in ihrer Raumsoziologie verarbeitet und in die soziologisch bislang weitreichendste Variante einer sozialen Raumtheorie überführt. Diese Theorieoperation wiederum leugnet aber eigenmächtige Raumqualitäten wie die physisch-materielle Dimensionalität räumlicher settings (und zwar nicht in ihrer Relationalität, sondern in ihrer ‚Absolutheit’), die Löw durch das Konzept der etablierten Raumrelationen (zwar mit physischen Dingen, aber ohne deren eigentlichen Objektcharakter) ‚ersetzt’ hat. Deshalb erscheint es auch bei dieser gegenwärtig einflussreichen Raumtheorie als schwierig, den Phänomencharakter im Raum anwesender Dinge und ihre phänomenologische Eigenart als wirkmächtig für die soziale Wahrnehmung und Aneignung anzuerkennen, wie es zum Beispiel Bachelard tut, wenn er über Schränke und Winkel philosophiert. Es fehlt in Löws Theorie nicht an Beispielen, wie Orte und Räumlichkeit ‚relational‘ funktionieren und durch räumliche ‚Synthese und spacing‘ benutzt werden (‚Klagemauer‘, ‚Schulhof‘, ‚Geist des Ortes‘), es sind diese Räume in ihrer Theorie aber lediglich sozial signifikativ und in ihrer Relation etablierte Raum-Phänomene, nicht wirksame Gegebenheiten qua ihrer eigenen materiellen Wirkung (Zäune, Winkel, die Ödnis des Schulhofes selbst etc.).

Genau darin scheint mir der Wert einer zeitgenössischen Befassung mit der Poetik des Raumes zu liegen: Ohne dass hier eine eigenständige sozialwissenschaftliche Theorie dazu angeboten wird, liefert Bachelard immerhin die Anschauungsformen, aus denen solches abgeleitet werden könnte. Sie können dabei durchaus im buchstäblichen Sinne verstanden werden: seine ‚Anschauungen‘ des Kellers oder des Nestes sind es, die das Verfemte des zeitgenössischen Raumdiskurses wieder ans Tageslicht bringen könnten, nämlich die Phänomenologie von kulturellen Einhausungen räumlicher Dimension, welche nur durch letztere ihre Erfahrungswerte freisetzen kann (Merleau-Ponty spricht in ähnlicher Weise vom „Einwohnen des Leibes in den Raum”, s. Merleau-Ponty 1966: 169).

Das Problem dabei, Bachelard heute unvoreingenommen zu lesen, ist in einer Schreibweise begründet, deren epistemologischer Stil schwierig zu vermitteln ist, weil er auf der Suche nach Wesenheiten der Raumerfahrung ist, deren Existenz nicht nur im postmodernen Denken verpönt ist; eine solche Sprache erscheint nicht mehr zeitgemäß und wirkt altmodisch. Es ist deshalb wichtig, sich von solchen Einschränkungen zu lösen, um sich dem Denken Bachelard widmen zu können und um vor allem seinen spezifischen Zugang zum Raum als erlebte Erfahrung, die sich im Unbewußten und im „Bild”[4] manifestiert, nachvollziehen zu können. Dies ist kein einfaches Unterfangen, da der zeitgenössische Diskurs den Leib durch den Körper ersetzt hat, und dadurch leibliches Erkennen – Erkennen mit und durch die leibliche Organisation des Menschen – aus seinem Erkenntniskreis verbannt hat.[5] Er ersetzte die phänomenologische Erkenntnis der Erfahrung durch den Handlungsvollzug eines Subjekts durch Diskurse von und über Subjekte einer Gesellschaft. Diese Diskurse würden Gesellschaftliches ‚verkörpern‘, also den Leib als ‚toten’ Empfänger gesellschaftlicher ‚Anrufung’ (frei nach Althusser) ansehen, statt dass Subjekte als sich Autonomie schaffende Instanzen konzipiert würden.[6] Das Subjekt bekam also einen Körper, statt dass es einen Leib hat. Es ist daher unmöglich, mit einem derartigen ‚technisch-protestantischen‘ Körperverständnis der ‚katholischen‘ Leiberfahrung der Phänomenologie wie etwa bei Merleau-Ponty (1966) beizukommen, weswegen beide Diskurse als unvereinbar erscheinen.[7]

Diese Differenz sei deshalb so deutlich erwähnt, da man vermutlich nur so einem Text wie dem von Bachelard gerecht werden kann (im Sinne Derridas), wenn man sich in ihm aufhält und von solchen Diskursbeschränkungen löst, in ihm denkt und in seiner Sprache etwas von der Wahrheit zu erkennen vermag, auf die er sich bezieht: außersprachliche leibliche Erfahrungen, die nicht auf Zeichen, Diskurse, Signifikanten etc. beruhen, sondern auf einem Subjekt-Leib, der erlebt, träumt und Phantasmagorien etabliert. Da allein Letzteres für den Diskurs der Postmoderne, des Poststrukturalismus etc. eine Zumutung darstellt, ist es bereits inspirierend und provokant genug, an die spezifischen Einsichten zum Wohnen als Erfahrung zu erinnern, die Bachelard in seiner Poetik liefert, um die blinden Flecken der aktuellen Raumdebatte auszuleuchten.

7. Bachelards Poetik des Raumes als Vorreiter und Korrektiv eines body bzw. practice turns?

„Der Schrank und seine Fächer, der Schreibtisch und seine Schubladen, die Truhe mit dem doppelten Boden sind wirkliche Organe des geheimen psychologischen Lebens. Ohne diese ‚Objekte‘ […] würden unserem inneren Leben die äußeren Modelle der Innerlichkeit fehlen.” (Bachelard 102014: 94)

Was kann nun Bachelard zur Auflösung dieser Verengung in den prominenten Theorien beitragen, die das Sinnliche und Leibliche bis auf wenige Ausnahmen quasi vollständig aus dem Wahrnehmungs- und Konstitutionszusammenhang des Räumlichen ausschließen? Sein philosophischer Werdegang kann als eine Emanzipation von intellektualistischen Philosophien bzw. ‚unleiblichen‘ Epistemologien verstanden werden, die ihm den Weg bahnte zu einer Erkenntnistheorie der räumlichen Dimension der Dinge, wie sie dem Subjekt in seinem Erleben erscheinen und analysiert werden sollten. Gegen etwa Bewusstseinsphilosophie oder (Spielarten der) Psychologie bringt er in der Poetik eine spezielle ‚Phänomenologie des Raumes‘ als eigenen Erfahrungs- und Erkenntniswert des Subjekts ins Spiel, der vor allem das Haus als Metapher für die Psyche auffasst (Keller: Latenzen, Unbewußtes; Räume/Wände: sinnliche Ordnung des Lebens; Dachboden: Heterotopie des Entdeckens/Subjektwerdens, vgl. auch Foucault Die Heterotopien). Er ist damit Vorläufer von Bollnows Mensch und Raum (Bollnow 1963), der Bachelard auch in seine Theoriebildung inkorporiert hat. Ungleich systematischer aber und klassischer in der Traditionslinie der Phänomenologie verortet, unternimmt Bollnow hier den Versuch, die soziale Welt und ihre räumlichen Sinngebungen (Wege etc.) von der konkreten sinnlichen Wahrnehmung her – je nach Bewusstseinsgrad – als „Raumgefühl”, „Raumbewußtsein” oder etwa in frappierender Kongruenz zu Lefebvre „erlebten” oder „gelebten” Raum zu benennen (Bollnow 1960). Der Einfluss dieses Werks auf zeitgenössische Raumtheorien und -philosophien ist zwar offenkundig (Löw 2001: 204; Löw 2004; Böhme 1995, Hasse 2012). Gleichsam erscheint in vielen Ansätzen das Subjekt als Instanz leiblicher Erfahrung und damit als (Mit-)Konstituierendes der sozialen Welt immer weniger beachtet zu werden und analytisch wie konzeptionell in Forschungen und Theorie, etwa baulicher Umwelt oder Atmosphären, ins Hintertreffen zu geraten (eine aktuelle Ausnahme Steets 2015). Raum, das scheint mittlerweile etwas dem Subjekt Äußerliches zu sein, eine Objektivation zwar irgendwie wahrgenommener materieller Sachverhalte (bei Löw etwa menschliche und materielle Güter), aber eben kaum mittels des Leibes und von ihm her gedachte und aufgebaute Sinnstruktur der sozialen Welt, wie dies die Poetik des Raumes nahelegt.

Bachelard fehlt zwar die analytische Genauigkeit Bollnows und die Poetik kann kaum als Soziologie, sondern eher als Philosophie der räumlichen Bilder und der Wirkung von Sprache auf die Psyche gelten (zur Differenz zu Bollnow und dessen Kritik daran s. Bollnow 1967). Dennoch hilft uns Bachelards Zugang als Wegbereiter, etwas im spatial turn und durch den Einfluss des darin waltenden ‚banalen’ (s. o.) konstruktivistischen Paradigmas verschütt‘ Gegangenes wiederzufinden, nämlich die entscheidende Einsicht, dass alle Erfahrung vom Raum oder wie es heute heißt, des Räumlichen, von der Leibkonstitution als Erfahrungsträger her zu denken ist, will man sich nicht lediglich in der Metaphern- oder Diskurstheorie oder bei literarischen ‚Topologien‘ aufhalten.[8] Das gilt vor allem für die angeeigneten Bilder der Raumerfahrung, die er ausgiebig bespricht, denn sie können in der Phantasie nur wirken, wenn deren ‚Signifikat‘ auch vorher erlebt wurde („Schublade”).[9] Ist die Schublade für die Diskurstheorie in der Linie der älteren Foucault-Rezeption vermutlich ein perfekter Ausdruck ‚machtvoller‘ Diskursivität und disziplinierender Ordnung und Teil der ‚Zurichtung‘ des Subjekts, wird sie bei Bachelard zur Schatztruhe, zum Geheimnisträger, zum phantasmatischen Raum des Entdeckens, deren spezifische Räumlichkeit geradezu konstituierend ist für diese Erfahrung: würde sie nicht verbergen und Dinge durch- und übereinander werfen, es gäbe nichts mehr in ihr zu entdecken; gleiches gilt für das Haus, das für Bachelard als Prototyp der essentiell notwendigen Erfahrung von Behausung und Innerlichkeit gilt, die das Subjekt dann ‚im kleinen’ anhand der Muschel oder der Ecke machen kann. Größer könnte der Unterscheid aber kaum sein, der hier zwischen einem phänomenologischen und einem ‚konstruktivistischen‘ Zugang zum Raum waltet,[10] der jedoch – klar erkannt – auch helfen kann, einige Diskursverengungen der Raumdebatte zu überwinden.

Bachelard lässt sich bedingt in die Reihe anderer Phänomenologen einordnen, die das leiblich gebundene Wahrnehmen, Erkennen und Erleben als elementare Voraussetzung jedweder ‚Außenerkenntnis‘ konzipierten, so noch im Frühwerk von Schütz (Schütz 1981: 92) oder bei erwähntem Merleau-Ponty, sowie Scheler oder Sartre. Positiv aufgegriffen und weiterentwickelt hat diesen phänomenologischen Leibbezug wiederum Schmitz (1998, 2007), der explizit Raumerleben als unter Anderem atmosphärische Leiberfahrung darlegt, und sich mit seiner „Neuen Phänomenologie” gegen die in seiner Sicht ‚kognitivistische‘ Ausdeutung der neueren pragmatischen Schütz- und Husserl-Rezeption stellt (Srubar, Grathoff, Kellner u. a.). Seine Arbeiten haben vor allem Jürgen Hasse motiviert, im Sinne dieser Traditionslinie Raumerfahrungen als phänomenologisch-leibliches Problem der sozialen Welt anzugehen und anhand von Beispielerfahrungen darzulegen (Tiefgaragen, Wohnen u. v. a.), insbesondere im Hinblick auf soziale Atmosphären.

Ähnlich auf dieser Linie aufbauend arbeitet G. Böhme mit einem revidierten Atmosphärenbegriff, der uns für eine zeitgenössische ‚materielle‘ Raumtheorie helfen kann, einiges des hier kritisierten hinter uns zu lassen, dessen Zugang aber bislang kaum (M. Löw etwa erwähnt ihn, arbeitet aber nicht systematisch mit diesem Ansatz) rezipiert wurde. Ausgangspunkt könnte neben Bachelard auch Bollnows Erkenntnis sein, dass sozial/kulturell ‚konstruierter‘ Raum und physisch-materieller Ausdehnungsraum nicht als sich ausschließende Konzepte, sondern innerhalb einer notwendigen dialektischen Relation zu begreifen sind, weil das Eine nicht ohne das Andere zu haben ist (bereits bei Piaget und Inhelder (1975: 21 ff.):

„Der Raum gehört also zum Menschen wie sein Leib, und wir haben auch zu ihm das eigentümlich schwebende Verhältnis, das zwischen Haben und Sein in der Mitte steht. In einem gewissen Sinn können wir auch hier sagen: Wir sind unser Raum. Das betont Bachelard, wenn er den Dichtervers als ‚groß‘ hervorhebt: ‚Ich bin der Raum, wo ich bin.‘ Der Mensch ist Teil des Raums und insofern getragen vom großen umfassenden Raum. Der Mensch wohnt in dieser Weise im Raum.“ (Bollnow 1963: 512)

Hier kommt es vor allem darauf an, nicht den Fehler des kritisierten Raumdiskurses zu begehen, und in Bollnows „der/im Raum” lediglich den Behälter für Anordnungen zu sehen (wie es Löw meint), sondern gerade das Wechselspiel bzw. die Dialektik, die hier waltet, zu beachten: es gibt keinen relationalen, synthetisierten, subjektiv angeeigneten Sozialraum ohne dimensionalen ‚absoluten’ Ausdehnungsraum mitsamt seinen wahrnehmbaren Qualitäten.[11]

Es wäre deshalb das Gebot einer revidierten Raumtheorie, diese Engpässe hinter sich zu lassen und den leiblich-materiellen Aspekt, wie er vor allem in sozial-räumlichen Atmosphären erscheint und von Bachelard so eindringlich dargelegt wurde, in eine plausible Konzeption zeitgenössischer Raumkonzeption einzuarbeiten – mitsamt einer angemessenen Subjekttheorie, die das hier aufgerissene Problem der ‚Entleiblichung’ der Sozialwissenschaften wieder zu inkorporieren vermag.[12]

Endnoten

Autor_innen

Thomas Dörfler ist sozialwissenschaftlicher Stadtforscher. Seine Schwerpunkte sind Soziologie, Humangeographie, Cultural Studies, Raumwissenschaften und Methoden.

thomas.doerfler@rub.de

Literatur

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