Andere Geborgenheiten: Topophilie jenseits des Authentizitätsdiskurses

Jan S. Hutta

Gaston Bachelard geht in seiner Poetik des Raumes der „Topophilie“, der Erfahrung „geliebte[r] Räume“, nach (S. 25).[1] Diese Erfahrung verortet er insbesondere in bergenden Räumen wie Häusern, Nestern und Winkeln oder allgemeiner in Räumlichkeiten des „Runden“. Anhand zahlreicher Gedichte arbeitet er heraus, wie solche Räume Imaginationen oder „Träumereien“ von Zuflucht und Intimität, aber auch von dialektischen Verhältnissen zwischen Innen und Außen oder von Unermesslichkeit und existentiellem In-der-Welt-Sein befördern. Mich interessieren hier besonders die vielfältigen Dynamiken zwischen Formen des Sich-Einnistens einerseits und Räumlichkeiten des Bergenden und Intimitätsspendenden andererseits. Denn hier geraten gefühlsmäßig intensive Formen subjekt-räumlicher Relationalität in den Blick, deren Analyse mir in geografischen, soziologischen, anthropologischen oder psychologischen Arbeiten nach wie vor unterbelichtet scheint – die aber gerade auch von politischer Relevanz sind. Bei der Herausbildung machtvoller Raumbezüge spielen ja nicht nur die häufig betrachteten Angsträume und darauf bezogene Sicherheitsdispositive eine Rolle, die zuallererst präventiv – und negativ – auf Gefahrenabwehr gerichtet sind. Auch die positiven ‚Werte‘ in Bachelards Sinne – ich spreche von ‚Intensitäten‘ – sind konstitutiv für Verhältnisse von Subjekt und Raum. In der deutschen Sprache verweist besonders das Konzept der Geborgenheit auf diese positiven Intensitäten.

Denken wir an so unterschiedliche Geborgenheitsbilder wie die freundschaftliche Umarmung, die bergende Hand des christlichen Gottes, das biedermeierliche Idyll, das mütterliche Stillen, den bewohnten Pappkarton unter einer städtischen Brücke oder das Dampfbad einer Schwulensauna, so wird deutlich, auf welch vielfältige Weise Relationalitäten der Geborgenheit subjekt-räumliche Verhältnisse prägen. Denn diese Relationen sind – oft auf ambivalente und paradoxe Art und Weise – konstitutiv für hegemoniale und minoritäre, moralische und erotische Konstellationen. Auch hinsichtlich feministischer Debatten rund um Sorgearbeit und care oder, wie wir sehen werden, postkolonialer und ökologischer Diskussionen zu Verhältnissen kolonialer und kolonisierter Subjekte kann eine Untersuchung konkreter Praxen der Geborgenheit neue Aufschlüsse geben. Dabei geraten selbst Beziehungen menschlicher und nicht-menschlicher Akteur_innen in den Blick. Bei solchen Betrachtungen geht es immer auch um die Frage, welche politischen Projekte und Formen der Handlungsfähigkeit durch bestimmte Geborgenheitsverhältnisse befördert oder behindert werden.

Von einem solchen Zugang zur Topophilie ist Bachelards Poetik freilich weit entfernt. Und doch kann ihr analytisches Instrumentarium ihm Impulse verleihen. Dafür ist zunächst eine Demontage ihrer begrifflichen Komponenten notwendig. In diesem Kommentar möchte ich insbesondere die humanistisch-essentialistische ‚Linse‘ von Bachelards begrifflicher Apparatur demontieren, um Begriffe wie ‚Topophilie‘ und ‚Topo-Analyse‘ zu neuer Geltung zu bringen. Im Anschluss werde ich mit Bezug auf Walter Benjamin, Donna Haraway und die Künstlerin Patricia Piccinini Möglichkeiten eines anderen Blicks auf Geborgenheit aufzeigen.

1. Der topophile Blick

Wir können uns die Poetik als Sehinstrument in Form eines Mikroskops vorstellen, das den topophilen Blick zugleich schärft, intensiviert, rahmt und tönt. Der thematische Fokus der Poetik liegt auf der Topophilie. Trotz ihres unmittelbar gefühlsmäßigen Charakters bestimmt sich die Topophilie für Bachelard weniger über das Affektive denn über die „Werte der Intimität“ (S. 39). Diese Werte werden indes nur soweit bestimmt, als dass sie etwas mit Innerlichkeit und positiver Anziehung zu tun haben: „Alle Räume der Intimität sind durch eine Anziehung gekennzeichnet.“ (S. 38) Der Blick wird also zunächst auf Werte der Intimität fokussiert und derart topophil geschärft. Die Imagination stellt in Bachelards Mikroskop das der dichterischen Welt zugewandte Objektiv dar, das „Vergrößerungsglas der Phantasie“ (S. 122). Diese Sammellinse intensiviert die topophilen Bilder, die in den Fokus geraten. Über die „Topo-Analyse“ (S. 35) sind Fokus und Objektiv in eine raumbezogene Methodologie als Gehäuse des begrifflichen Apparats eingefasst, das den topophilen Blick rahmt. Das Räumliche erhält hier den Primat gegenüber einer Psycho-Analyse, mit der sich Bachelard in beständigem Dialog befindet. Die gesamte Apparatur ist jedoch auf das Okular zugeschnitten, das direkt vor dem analytischen Auge sitzt. Dieses Okular ist die Streulinse der humanistischen Ontologie, die dem in der dichterischen Welt gesammelten Topophilen eine essentialistisch-universalistische Tönung verleiht.

Bachelards Mikroskop besteht demnach aus Fokuseinstellung (Topophilie), Gehäuse (Topo-Analyse), Objektiv (Imagination) und Okular (humanistische Ontologie). Fokussierung topophiler Intensitäten – poetisch-imaginäre Intensivierung – topo-analytische Rahmung – humanistische Tönung, derart wird der Blick der Poetik geführt. Für eine gewinnbringende Rezeption, so meine ich, müssen wir zuallererst ihr humanistisches Okular demontieren. Das Element des Bachelard’schen Mikroskops, das am dichtesten am analytischen Auge sitzt, ist nämlich zugleich das am stärksten vernebelte. Es wäre zu ersetzen durch eines, das zwar die Komplexitäten und Singularitäten der vielfältigen in der Poetik erblickten topophilen Intensitäten wahrt, sie zugleich aber in ihrem gesellschaftlichen Kontext sichtbar macht. Die weiteren begrifflichen Komponenten können dann zu neuer Geltung kommen. Dabei interessieren mich neben der topophilen Fokussierung insbesondere die methodologischen Implikationen einer poetischen Intensivierung im Zusammenspiel mit ihrer topo-analytischen Rahmung. Inwiefern der Eingriff in Bachelards ontologische Perspektivierung oder ‚Tönung‘ jedoch auch eine Veränderung der übrigen begrifflichen Komponenten erfordert, und welche ‚anderen Geborgenheiten‘ in den Blick geraten können, soll nach einer Demontage des essentialisierenden Okulars erörtert werden.

2. Authentizitätsdiskurse von Topophilie bis place

Bachelards Ontologie kommt in einem essentialisierenden Gestus daher, wie wir ihn auch bei einem Abraham Maslow, einem Otto Friedrich Bollnow oder in Teilen der humanistisch-geografischen place-Debatte finden. Bilden für Freud, Adorno oder den Existentialismus auf je unterschiedliche Weise Negativität, Mangel und Angst den Urgrund menschlichen Daseins, so lässt Bachelard das ontologische Pendel in die entgegengesetzte Richtung ausschlagen, indem er das ‚Wohlsein‘ an den Beginn des Lebens setzt. Noch bevor Jacques Lacan (2010, orig. 1963) die existentielle Verbindung von menschlicher Geburt und angstvollem Schrei beschwört, notiert Bachelard topophil: „Das Leben beginnt für den Menschen mit einem guten Schlaf, und alle Eier in den Nestern werden gut gebrütet.“ (S. 115) Erst kurz zuvor hatte Theodor W. Adorno (1951) im Entwurf seiner ‚traurigen Wissenschaft‘ an Hegels ‚absolute Zerrissenheit‘ erinnert, in der sich der Geist selbst finde. In gewisser Weise liefert die Poetik ein hilfreiches Korrektiv negativitäts- und angstfixierter Ansätze, sucht sie doch eine neue Dialektik von Furcht und Neugier (S. 121) des Draußen und des Drinnen (Kapitel IX) in Gang zu bringen. Aber ist für einen neuen Fokus auf „espaces aimés“ und „louangés“, auf „geliebte“ und „gepriesene Räume“ (S. 2/25),[2] eine ontologische Be-Gründung überhaupt notwendig oder sinnvoll? Reiht sich eine solche Ontologisierung – ob nun negativistisch oder topophil – nicht in die Authentizitätsdiskurse ein, wie sie etwa von Martin Luther über Martin Heidegger bis zu den Humanist_innen der 1970er Jahre zum Ausdruck kommen?

Zunächst ist festzuhalten, dass sich in der phänomenologisch angelegten Poetik durchaus auch der postfundamentalistische Erkenntnistheoretiker Bachelard zu Wort meldet, dessen Schüler die Authentizitätsdiskursen unverdächtigen Georges Canguilhem und Louis Althusser waren: „Eine Philosophie der Poesie kann überhaupt keine Basis in allgemeinen Zuordnungen haben. Der Begriff Prinzip, der Begriff Basis – hier wären sie vernichtend.“ (S. 7) Wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird, erscheinen poetische Bilder für Bachelard in der Tat weder aufgrund onto- oder phylogenetischer noch psychologischer oder diskursiver Determination. Es geht ihm stets um „die wesenhafte Aktualität, die wesenhafte Neuheit des Gedichtes“ (ebd.). Wohl aber erwecken diese aktuellen Bilder für ihn tief im menschlichen Wesen schlummernde Urbilder oder -funktionen aus unvordenklichen Zeiten. Und genau diese Suche nach der archetypischen „Urfunktion des Wohnens“ (S. 31) führt nolens volens die universalistische Ontologie allgemeiner Grundprinzipien wieder ein – und setzt sie dem Phänomenologen, quasi als Okular, direkt vors Auge: „In jeder Wohnung, sogar im Schoß, die Muschel des Anbeginns zu finden, das ist die erste Aufgabe des Phänomenologen.“ (Ebd.)

Die humangeografische Diskussion rund um space und place bringt die Problematik eines solchen Authentizitätsdiskurses zum Ausdruck. Mit der Betonung von place als bedeutungsvollem Ort und Gegenpol zum abstrakt-topografischen Raum wollten humanistische Geograf_innen der 1970er und 80er Jahre die quantitativ-positivistische Ausrichtung ihrer Disziplin überwinden (Cresswell 2009: 171). Dazu griffen sie auch auf Heideggers existentielle Verknüpfung von ‚Wohnen‘ und ‚Dasein‘ zurück. Bis heute prägt der space/place-Gegensatz viele geografische Narrative. Eine besonders deutliche Verbindung der place-Literatur zu Bachelard verläuft über Yi-fu Tuans Monografien Topophilia (1974) und Space and Place (1977). In seiner eklektischen Zusammenschau psychologischer, anthropologischer und geografischer Ansätze nimmt Tuan auch explizit auf die Poetik Bezug, kündigt diese doch bereits die Programmatik einer place-space-Differenzierung an: „Der von der Einbildungskraft erfaßte Raum kann nicht der indifferente Raum bleiben, der den Messungen und Überlegungen des Geometers unterworfen ist. Er wird erlebt.“ (Poetik, S. 25) Ähnlich wie Bachelard entwirft Tuan dieses Erleben als ein in seiner authentisch-topophilen Urform intimes, Erinnerungen akkumulierendes, dauerhaft wohnendes. Der sich hier ausdrückende humanistische Gestus zielt bei Autor_innen wie Tuan auf die Bewahrung des Menschen vor seiner zunehmenden Entfremdung im Kontext technokratischer Zweckrationalität, kapitalistischer Konsumorientierung und globaler Mobilität ab. Dabei erscheint der bedeutungsvolle Ort zugleich als umgrenzter Lokus dauerhafter Verwurzelung, der durch äußere Veränderung bedroht wird.

Es sind genau diese ontologischen Bestimmungen einer auf Sesshaftigkeit beharrenden, „sedentaristischen Metaphysik“ (Cresswell 2009: 176), die in der Folge von marxistischen, feministischen und poststrukturalistischen Autor_innen infrage gestellt wurden.[3] So kritisierte David Harvey (1993) die fehlende gesellschaftliche Kontextualisierung des Lokalen und verwies auf dessen reaktionäre Mobilisierung im Kontext von gated communities und nationalistischen Bewegungen. Gillian Rose (1993) hob die unterdrückerische Rolle hervor, die gerade das Heim in patriarchalischen Kontexten spielen kann. Diese Kritiken treffen auch die Poetik, in der Haus und Hütte topophile Orte ontologischer Verwurzelung sind: „Es muß davon gesprochen werden, […] wie wir uns Tag für Tag in einen ‚Winkel der Welt‘ verwurzeln.“ (S. 31) Ähnlich wie bei Tuan ist das entwurzelte Haus der Großstadt – dem Bachelard in einem raren Moment stadtgesellschaftlicher Reflexion in seinem eigenen Pariser Wohnviertel begegnet – allein durch Mangel gekennzeichnet: „Dem Fehlen der intimen Werte des Vertikalismus muß das Fehlen des kosmischen Bezugs im Großstadthaus hinzugefügt werden.“ (S. 52)

Durch eine solche ontologische Linse betrachtet – das haben kritische Geograf_innen und insbesondere Anthropolog_innen wie Nina Glick Schiller ausführlich diskutiert (Basch et al. 1994, Glick Schiller 2010) – müssen gerade gesellschaftliche Prozesse wie Migration, Transnationalität und Hybridisierung als existentielle Entwurzelung aufseiten der Migrant_innen und Bedrohung aufseiten der harmonisch imaginierten autochthonen Gemeinschaft erscheinen. Zwar gibt Bachelard auch der Mobilität, dem Gehen und dem Weg einen Wert, doch hat dieser eher eine abgeleitete, zweitrangige Bedeutung (S. 37 f.). Nicht nur räumlich handelt es sich zuallererst um den Spaziergang aus der Wohnung in die Wohnung, auch ontologisch wird der Weg in Verbindung gebracht mit einer Extraversion, die nicht „das gleiche seelische Gewicht“ wie die Innerlichkeit der Intimitätsräume habe (S. 38). Die Intimität von Haus und Winkel verbindet sich auf diese Weise ontologisch mit der subjektiven Innerlichkeit, mit dem dichterischen Bild als „direkte[m] Erzeugnis des Herzens, der Seele, des Menschen“ (S. 9). Und die Seele des Menschen mit ihrem „innere[n] Licht“ (S. 11) formt seine humanistische Essenz. Michel Foucault (1992) hat daher Recht, wenn er bemerkt, dass Bachelard und die Phänomenologien seiner Zeit „den Raum des Innen“ thematisierten, der wenig mit dem heterogenen „Raum, in dem wir leben“ zu tun hat (S. 38, siehe auch Löw 2001: 21 f.). Ganz explizit fordert Bachelard gar: „Um unser Sein in der Rangordnung einer Ontologie zu analysieren, […] müssen wir […] unsere großen Erinnerungen entgesellschaften [désocialiser] und uns auf die Ebene der Träumereien erheben […].“ (S. 35, Herv. im Orig.) Hier zeigt sich, dass das topophile ‚Objektiv‘ der Poetik tatsächlich weniger der Welt an sich zugewandt ist, als einer Innerlichkeit, die – wie wir gesehen haben – auf ontologischer Verwurzelung im Eigenen gründet. Im Gestus eines universalisierenden und anthropozentrischen Humanismus erblickt Bachelard im Nachgehen poetischer Topophilie-Bilder denn auch nichts Geringeres als die Möglichkeit der Geburt eines neuen Seins: „Dieses neue Sein ist der glückliche Mensch.“ (S. 19)

So bildet die essentialistisch-humanistische Bestimmung den ontologischen Ausgangspunkt für die Topo-Analyse – in einer Art und Weise, die den place-Ansätzen durchaus ähnelt. Auch wenn sich deren Vertreter_innen weniger auf Tropen der Innerlichkeit konzentrierten, so wurden (und werden?) sie doch geleitet von einer ähnlichen Suche nach Authentizität. Bei Tuan äußert sich diese Suche etwa, wenn er intime Orte gleichsetzt mit „occasions when human beings truly connect“ (1977: 141). Damit bringt die Poetik eine bis heute aktuelle Tendenz gerade humanistischer und erfahrungsbezogener Diskurse rund um Raum zum Ausdruck. Haftet nicht geografischen Theorien, die etwa menschliches Handeln oder alltägliche Erfahrung fokussieren, teils weiterhin der Geschmack einer Suche nach ontologischer Authentizität an? Deutlich wird die essentialisierende Tendenz auch in Beschäftigungen mit positivem Raumerleben. So stoßen wir sowohl in wissenschaftlichen als auch in stadt- oder wirtschaftspolitischen Debatten zum ‚subjektiven Sicherheitsempfinden‘ wiederholt auf die universalistisch angelegte Bedürfnispyramide des Humanisten Abraham Maslow (z. B. Berg et al. 2006: 9, siehe dazu Hutta 2009). Noch deutlicher wird diese Tendenz in den wenigen Arbeiten, die sich, auch im Anschluss an Bollnow (1968; 1972), explizit des Themas der Geborgenheit annehmen, wie später umrissen wird. Diesen Ontologisierungen ist gemein, dass sie zugleich zu historisch und nicht historisch genug sind: Sie reifizieren Historisches, während sie ihre eigene Geschichtlichkeit negieren.

Wenn Werke wie die Poetik dennoch interessant für kritische Stadt- und Raumforschungen sind, so liegt das an ihren weiterhin aktuellen thematischen und methodologischen Aspekten. Eine Demontage von Bachelards ontologischem Okular erfordert jedoch auch Arbeit an den weiteren Komponenten seiner begrifflichen Apparatur. Bevor ich auf den topophilen ‚Fokus‘ mit seinen Geborgenheitsbildern zu sprechen komme, möchte ich noch einmal das poetische ‚Objektiv‘ sowie das methodologische ‚Gehäuse‘, die Topo-Analyse, auseinandernehmen. Während diese Komponenten nämlich einerseits auf die Figur des authentischen Ursprungs zugeschnitten sind, liefern sie andererseits provokante Impulse für eine Beschäftigung mit Verhältnissen von Subjekt und Raum.

3. Die Autonomie poetischer Raum-Bilder

Mit seinem Konzept der Topo-Analyse entwirft Bachelard einen methodischen Ansatz zur Erforschung der Konstitution von Verhältnissen zwischen Subjekt und Raum oder, genauer, der Konstitution von Subjektivität-im-Raum. Anders als in vielen anderen phänomenologischen Ansätzen ist die Topo-Analyse dabei nicht auf scheinbar unmittelbares räumliches Erleben ausgerichtet. Stattdessen bezieht sie sich auf poetische Bilder, die in der Interaktion von Subjekt und Raum entstehen und räumliche Erfahrung intensivieren oder zuallererst konstituieren. Seine erfahrungsgenerierende Kraft erhält das poetische Bild, so Bachelards zentrale These, indem es „sich in sich selbst erfüllt“, „s’accomplit en elle-même“ (S. 159/144). Wie ich im Folgenden zeigen möchte, enthält diese Bestimmung einen provokanten methodologischen Impuls, der Beschäftigungen sowohl mit räumlicher Erfahrung als auch mit Diskursanalyse und semiotischen Verfahren inspirieren kann – einen Wechsel der ontologischen Linse vorausgesetzt.

In den poetischen Bildern der Topo-Analyse geht es nicht um unmittelbare Raumerfahrung im Sinne einer auf Sinneswahrnehmung beruhenden mentalen Repräsentation der dinglichen Welt: „[M]an verlangt von einem Gedichtleser, ein Bild nicht wie ein Objekt anzusehen, noch weniger als Stellvertretung eines Objekts, sondern seine spezifische Realität zu erfassen.“ (S. 10) Doch diese „spezifische Realität“ des Bildes ist ebenso wenig direkt diskursiv: „Das dichterische Bild […] ist immer ein wenig über der bedeutungsgebundenen Sprache.“ (S. 17) Wenn das poetische Bild also weder Diskurs noch mentale Repräsentation der dinglichen Welt ist, was ist es dann, und wie kann es sich ‚in sich selbst erfüllen‘? Bachelard betont den Prozess der dichterischen Schöpfung, im Zuge dessen „ein neues Sein in unserer Sprache“ entsteht, das zugleich subjektivitätskonstituierend ist:

„Es wird ein neues Sein in unserer Sprache, es drückt uns aus, indem es uns zu dem macht, was es ausdrückt, anders gesagt[,] es ist zugleich das Werden eines Ausdrucks und ein Werden unseres Seins. Hier schafft der Ausdruck ein Sein.“ (S. 14)

Das poetische Bild ist somit weder Repräsentation des Raumes noch Diskurs, sondern Triebkraft der generativen Phase, in der sich Raum und Subjektivität wechselseitig hervorbringen. Der Dualismus von Subjekt und Objekt wird dabei permanent durchkreuzt: „Auf der Ebene des dichterischen Bildes wird die Dualität von Subjekt und Objekt in schillernden Spiegelungen gebrochen und unaufhörlich in ihren Umkehrungen wirksam.“ (S. 11) Ihre generative Kraft erhalten solche Bilder insbesondere durch ihre Erfahrung ‚erneuernde‘ Singularität: „Nur ein poetisches Detail, und schon stellt uns die Einbildungskraft vor eine neue Welt.“ (S. 143)

Damit nimmt Bachelards topo-analytische Methodologie einige (ungelöste) Fragen aktueller ‚nicht-repräsentationaler‘ Ansätze vorweg. So erinnert die Formulierung des sich in sich selbst erfüllenden Bildes und des „Werden[s] eines Ausdrucks“ etwa an Brian Massumis (2002) Postulat einer „Autonomie des Ausdrucks“ im Anschluss an Gilles Deleuze und Félix Guattari. Wie Massumi charakterisiert Bachelard das emergente Ausdrucksgeschehen als ‚ereignishaft‘, ‚flüchtig‘ und ‚singulär‘ (S. 9, 17; vgl. Massumi 2002: XXXI). Genau diese Ereignishaftigkeit entzieht das poetische Bild seiner diskursiven oder subjektiven Determination und öffnet damit ein innovatives methodologisches Feld, wobei zugleich die Dynamik poetischer Schöpfung mehr Geltung bekommt als etwa bei Massumi. Wenn Bachelard wie oben beschrieben fordert, wir müssten „unsere großen Erinnerungen entgesellschaften [désocialiser]“, dann meint er daher, umgekehrt formuliert, wir könnten unsere Erfahrung nicht auf bestimmte soziale oder subjektive Determinierungsmechanismen reduzieren. Indem seine Analyse den Blick von diesen Mechanismen – die er jedoch allzu eilig an das ‚Psycho‘ der Psychoanalyse knüpft – hin zu ‚topos‘, der Frage von Ort und Raum, verschiebt, möchte sie der konstitutiven Rolle Rechnung tragen, die der Raum selbst hinsichtlich Erfahrung und Subjektivität spielt. Dabei verfällt sie jedoch keinem schlichten räumlichen Determinismus.

Das Bild, auf das sich die topo-analytische Apparatur richtet, ist also ebenso wenig Repräsentant eines verdrängten Objekts wie Ausdruck einer Diskursformation oder Abbild der sinnlich wahrgenommenen Umwelt. Vielmehr entsteht es durch die poetische Intensivierung räumlicher ‚Werte‘ oder, weniger essentialistisch: Intensitäten. Damit ist es räumlich aber zugleich Resultat eines kreativen und dynamischen, mit Sprache und Subjektivität notwendig verzahnten, Prozesses. Das Bild beginnt, in Bachelards Formulierung, „die Sprache des Raumes“ zu sprechen. Doch handelt es sich hier nicht um den messbaren, euklidischen Raum, sondern um den durch ebendiese Intensitäten konstituierten:

„Das Bild läßt sich nicht messen. Wenn es die Sprache des Raumes spricht, wechselt es doch immerfort die Größe. Der geringste Wert dehnt es aus, erhebt es, vervielfacht es. Und der Träumer [rêveur] nimmt die Seinsform seines Bildes an. Er saugt den ganzen Raum seines Bildes in sich auf.“ (S. 177)

Wir befinden uns hier am springenden Punkt der Topo-Analyse. Die Formulierung einer (mit Massumi gesprochen) ‚autonomen‘ Seinsform des Bildes, die die Subjektivität des dichtenden ‚Träumers‘ neu konstituiert, kann Anregungen gerade für Ansätze liefern, die das affektive, ‚mehr-als-repräsentationale‘ Geschehen in den Blick nehmen möchten. Während sprachliche und bildliche Ausdrücke in traditionellen Methodologien hinsichtlich ihrer Bedeutungen oder diskursiven Regelmäßigkeiten beleuchtet werden, setzt die Topo-Analyse an den prozesshaft sich im Ausdruck kristallisierenden räumlichen Intensitäten an. Dieser Ausdruck, der „immer ein wenig über [oder unter?] der bedeutungsgebundenen Sprache“ liegt, ist gerade nicht auf bedeutungshafte oder diskursive Formationen reduzierbar. Er ist essentiell räumlich beziehungsweise Produkt einer subjekt-räumlichen Beziehung. Zugleich – und hier stellen sich neue Herausforderungen für Ansätze des jüngsten turn to affect – geht die Topo-Analyse aber dezidiert sprachlichen, poetischen Ausdrucksformen und ihrer erfahrungsgenerierenden Funktion nach.[4] Zudem, und auch dies hat provokante Implikationen, setzt eine auf erfahrungsgenerierende Intensitäten fokussierende Methodologie eine gewisse Anteilnahme oder Affizierbarkeit des analysierenden Subjekts voraus, wie im letzten Abschnitt hervorgehoben wird.

Nimmt die Topo-Analyse so die wechselseitige Konstitution von Subjekt und Raum in den Blick, orientiert sie sich zugleich an ihrer ontologischen Begründung. Denn der provokante methodologische Impuls des generativen Bildes und des dadurch ermöglichten Fokus auf Subjektivität-im-Raum ist vermittelt mit dem oben diskutierten essentialistisch getönten Raumbegriff. Wenn das Bild „die Sprache des Raumes“ spricht, so handelt es sich um den subjektive Innerlichkeit ausdrückenden Raum mit seinen ‚Intimitätswerten‘, nicht um den heterogenen „Raum, in dem wir leben“ (Foucault).[5] Damit wird das poetische Bild scheinbar zum Ausdruck eines universellen menschlichen Daseins: „Vor jedem Bild müßte, wie die Metaphysiker sagen, unser Dasein [êtra-lá] neu bestimmt werden […].“ (S. 177, Übers. verändert) Im Okular des humanistischen Essentialismus verschwinden sowohl die spezifischen Subjektpositionen dieses Daseins – die betrachteten Gedichte stammen fast ausschließlich von weißen europäischen Männern des 19. und 20. Jahrhunderts – als auch die historischen Spezifitäten der so begründeten räumlichen Werte. Um den methodologischen Impuls der Topo-Analyse daher zur Geltung zu bringen, wäre Bachelards ontologische Linse durch eine zu ersetzen, die die subjektkonstituierenden räumlichen Intensitäten in ihrer weltlichen Heterogenität sichtbar macht.

Anregungen für eine andere ontologische ‚Linse‘, die einen weltlichen, nicht-essentialistischen Zugang zu Bildern als generativer Phase von Subjektivität-im-Raum ermöglicht, gibt neben Deleuze (etwa die Texte zum Bild im Kino), und besser als etwa Massumi, insbesondere die Arbeit Walter Benjamins. Dessen ‚dialektische Bilder‘, um die sich das Passagen-Werk (1982) oder seine Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (1979) drehen, sind nämlich ähnlich flüchtig, singulär und erfahrungskonstituierend. Benjamins Blick fürs Detail wurde daher ebenfalls als mikroskopisch bezeichnet (Buck-Morss 1977: 74). Und wie bei Bachelard tragen seine dialektischen Bilder die räumlichen Intensitäten unvordenklicher Zeiten in sich, die in ihrem Gewahr-Werden einen neuen Bezug zur Wirklichkeit ermöglichen (siehe dazu Buck-Morss 1989). Gleichwohl sind sie durch und durch historisch: In ihrer jeweiligen Intensität bringen sie eine gesamte gesellschaftliche Konstellation zum Ausdruck, ähnlich wie Leibniz’ Monaden je einzigartige Bilder des Ganzen sind. Der mikroskopische Blick wird so bei Benjamin zugleich zu einem ‚mikrokosmischen‘ (Buck-Morss 1977: 74).

Indem dialektische Bilder so die Ursprünge konkreter gesellschaftlicher und kapitalistischer Formationen aufblitzen lassen, ermöglichen sie die Freisetzung ihres immanenten Widerspruchspotenzials. Das generative Moment dialektischer Bilder, das Benjamin gern in die religiöse Sprache der messianischen ‚Rettung‘ kleidet, wird so zu einem Gesellschaft potenziell revolutionierenden Moment. Die derart erblickten Bilder dienen denn auch nicht der Erkenntnis konstanter ‚Urfunktionen‘, sondern vielmehr einem Erwachen aus dem Traum von ihrem ewigen Wesen. Aus diesem Traum müssen wir die Träumereien der Poetik immer wieder erwecken und sie so neu ver-gesellschaften. Ein Benjaminischer mikroskopisch-mikrokosmischer Blick weitet dabei das Objektiv über dichterische Werke auf ganz andere Formen topophilen Ausdrucks aus (siehe dazu Hutta 2009; 2010). Wenden wir uns nach dieser Vorarbeit an der topophilen Blickführung nun also dem Herzstück der Poetik zu, ihrem thematischen Fokus.

4. Andere Geborgenheiten

Topophile Intensitäten – hierzu gibt der Fokus der Poetik zahlreiche Anregungen – spielen eine hervorgehobene Rolle hinsichtlich der Konstitution von Subjektivität-im-Raum. Akzentuieren negative Bezüge wie Angst oder Abscheu die Grenzen zwischen Subjekt und einem als beängstigend, eklig oder beschämend erfahrenen Raum, so befördern Räume, die Lust, Wohlbefinden oder Geborgenheit hervorrufen, eine subjektive Ausweitung in den Raum (Ahmed 2014, Hutta 2009). „Pleasure is expansive“, wie Sarah Ahmed (2014: 164) in ihrer Diskussion ‚queerer‘ Gefühle schreibt, wobei sie auch die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit solch expansiver Lust hervorhebt. Die Frage nach Geborgenheit bietet einen produktiven Ausgangspunkt für einen analytischen Fokus auf intensive topophile Erfahrungen, ist doch die Idee Wohlbefinden spendender Räumlichkeit geradezu konstitutiv für das Geborgenheitskonzept. Es geht also um bereits im Konzept implizierte ‚Gefühlsräume‘, die zugleich ‚Raumgefühle‘ im stärksten Sinne des Wortes evozieren.

Eine Beschäftigung mit Geborgenheit, zu der die Poetik mit ihren Häusern, Nestern und Muscheln, ihren Orten der Zuflucht und Formen des Einnistens einlädt, muss jedoch keineswegs in eine Suche nach einer „absolute[n] Geborgenheit“ (Poetik, S. 115) münden.[6] Von solchen Essentialisierungen waren bisherige Beschäftigungen mit Geborgenheit jedoch geprägt. So trägt die Monografie Geborgenheit von Hans Mogel den Untertitel Psychologie eines Lebensgefühls, womit sich die Anrufung von Authentizität bereits andeutet. Indem sich der Autor denn auch für Bachelards Darstellung des Nests als transhistorischer Räumlichkeit des Glücks begeistert, erhebt er das Nest zum „evolutionär bedingten Geborgenheitsmotiv“ (1995: 116). Diese Ontologisierung wird begleitet von einer recht willkürlichen Überlagerung eigener Forschungsdaten mit prominenten Authentizitätsfiguren, wodurch Erkenntnisse generiert werden, die so banal wie normativ sind: „Das begehrteste Nest der Geborgenheit ist für den Mann wohl der Schoß der Frau.“ (Ebd.: 115)

Die Philosophin Barbara Kaminski, die stark auf Bollnow und Heidegger Bezug nimmt, schreitet ähnlich universalisierend voran, strebt sie doch nach nichts Geringerem als einer Analyse des menschlichen Wesens (2003: 17). Ihre phänomenologischen Erörterungen kulminieren in einer abstrakten Idealisierung von ‚liebendem Miteinander‘ und ‚Heimat‘ im Kontext bürgerlichen Wohnens und der heterosexuellen monogamen Ehe. Ein derartiges Narrativ könnte selbst wiederum Anlass zu Untersuchungen hegemonialer Rahmungen des Verhältnisses von Subjekt, Gefühl und Raum geben. Hier zeigt sich erneut die Gefahr von Analysen topophiler Raumbezüge, die durch ein essentialistisches Okular getönt sind. Ihr Beitrag zur diskursiven Produktion normativer sozialer Verhältnisse verschwindet hinter dem Anschein menschlicher (nicht selten: männlicher) Universalität. Weder Mogel noch Kaminski widmen indes nur eine Zeile ihrer Schriften der Tatsache, dass bereits die Kreation des Wortes ‚Geborgenheit‘ eher neueren Datums ist, was bereits seine Historizität andeutet (siehe ausführlicher dazu Hutta 2009; 2010).

Wie die Poetik können diese Arbeiten dennoch interessante Ansatzpunkte zur Analyse realer Geborgenheitsdynamiken geben, sofern wir diese als historisch kontingent betrachten. Bleiben wir bei der Poetik, so schult diese zunächst den Blick für die zahlreichen Nuancen, die poetische Bilder „in allen Schattierungen der Geborgenheit, vom Leben der massivsten Muscheln bis zu den feinsten Tarnungen in den bloßen Schutzfarben der Oberflächen“ erlebbar machen (S. 141). Sie schult auch insbesondere den mikroskopischen Blick aufs Detail, das uns „vor eine neue Welt“ stellen kann (siehe oben). Inspirierend sind auch Bachelards Untersuchungen dialektischer Verschränkungen von Negation und Affirmation, Geschlossenheit und Öffnung, Einnisten und Hervortreten (die Bollnow [1963: 155 ff.] mit Bezug auf Geborgenheit auch hervorhob). So kann der Innerlichkeit einer in ihrem Haus versteckten Schnecke eine besondere Dynamik innewohnen: Statt purer, in sich ruhender Intimität kann sie eine „aufgeschobene Aggressivität“ zum Ausdruck bringen (Poetik, S. 123). Und die phantasievolle Manipulation etwa der Größe eines Schneckenhauses kann auf die Erfahrung einer „Monstrosität der Geborgenheit“ hinauslaufen (S. 132). Die friedliche Träumerei wird dabei zu einer Art „Geborgenheitsdelirium“ (ebd.). Solchen verstörenden Formen der Geborgenheit, deren topophile Intensitäten zugleich das de-essentialisierende Moment der Monstrosität zum Ausdruck bringen, möchte ich mich nun zuwenden. Wenn für Geborgenheit ein expansives Sich-Einlassen auf und in Räume charakteristisch ist, so impliziert dies auch immer ein Sich-Einlassen auf bestimmte Formen der Relationalität und Praxis, die auf diese Weise konstitutiv werden für Subjektivität-im-Raum. Die Arbeiten der australischen Künstlerin Patricia Piccinini bringen solche Prozesse markant zum Ausdruck.

Piccinini experimentiert in ihren Skulpturen und Bildern ausgehend von den Möglichkeiten moderner Gentechnik mit Spezies überschreitenden Formen der Bezogenheit im Kontext von Kolonialismus und ökologischer Zerstörung.[7] Viele ihrer Werke beschäftigen sich mit Hybridbildungen zwischen lebender und technologischer, menschlicher und nicht-menschlicher Materie. Die Künstlerin zeigt sich fasziniert von neuen körperlichen Kreationen, die etwa durch Klonen, Genmanipulation und Transplantation möglich werden, und die Antworten auf medizinische Probleme oder das Aussterben bestimmter Tierarten liefern können. Die derart manipulierten Kreationen lassen sich jedoch nie vollständig kontrollieren und bekommen schnell ein Eigenleben über intendierte Anwendungskontexte hinaus. Sie bekommen dadurch etwas Irritierendes, Fremdes und vielleicht sogar Gefährliches. Zugleich können sie in intensiven Szenarien der Verantwortung, Sorge und Geborgenheit figurieren, wodurch Möglichkeiten neuer Arten mehr-als-menschlicher Relationalität aufblitzen. Betont Bachelard die „Vereinzelung“ des geborgenen Wesens, die in der „Einsamkeit“ der Träumerei erlebt wird (S. 133 f.), so wirft Piccininis Werk beständig die Frage nach Möglichkeiten und Herausforderungen der Bezogenheit auf.

Genau diese Fokussierung akuter Fragen der Relationalität im Kontext gesellschaftlicher und ökologischer Transformation bezeugt die Möglichkeit und Notwendigkeit, topophile Intensitäten ‚mikrokosmisch‘ in ihren weltlichen, politischen und ethischen Konstellationen zu betrachten. Piccininis Kreationen sind nicht weniger phantastisch als die von Bachelard zitierten Gedichte, streben aber nicht nach einem Urgrund menschlichen Daseins, sondern betonen, wie Benjamins dialektische Bilder, dessen Kontingenz. Mit Bachelard können wir hier von einer ganz besonderen Art der „unwirschen Träumerei“ (S. 151) sprechen. Ausgehend von realen technologischen Möglichkeiten fabuliert Piccinini neue Wesen, die gerade wegen ihres unerwarteten Andersseins besondere Verantwortung und Sorge erfordern oder aufblitzen lassen. In dem Werk Undivided liegt ein solches Fabelwesen an ein Kind angeschmiegt im Bett. Es handelt sich um ein transgenetisches Surrogat für den vom Aussterben bedrohten australischen Nördlichen Haarnasenwombat. Offenbar spendet es dem Nachfahren der europäischen Siedler_innen, die für die Dezimierung der Wombats verantwortlich sind, beim Schlafen ohne Decke Geborgenheit. Denn das pyjamabekleidete Kind scheint in der Nähe dieser nackten, panzer-, schwulst- und krallenbehafteten Kreatur ruhig zu schlafen.

Abb. 1 Undivided aus der Serie Nature’s Little Helpers von 2005 von Patricia Piccinini
Abb. 1 Undivided aus der Serie Nature’s Little Helpers von 2005 von Patricia Piccinini. Quelle: http://www.patriciapiccinini.net/155/79

Die meisten Betrachter_innen, so Piccinini in einem Interview, finden diese Art der Nähe schwierig: „Most of us are happy to engage the idea of a creature engineered to help an endangered species, but are much less comfortable with the idea of it getting too close.“ (Fernandez/Piccinini 2007: o. S.) In Auseinandersetzung mit solcher Distanzierung vom Unbekannten, Unheimlichen und Monströsen kombiniert Piccininis Undivided bewusst ‚topophobe‘ Intensitäten des ‚Ungemütlichen‘ mit topophilen Intensitäten der Nähe, Intimität und Geborgenheit – „a strange combination of innocence and disquiet“ (ebd.). Die distanzierende Trennung wird so ‚un-divided‘, wobei die neue Einheit, oder besser Assemblage, ihre verstörende Intensität jedoch behält: „Ideally these things will disturb you even as you [are] warm to them, or vice versa. They are probably the wrong answer, but perhaps there is something special in their incorrectness.“ (Ebd.) Intimität räumt verstörende Aspekte demnach nicht einfach aus der Welt. Aber distanzierende Topophobie kann sich in eine neue ‚monströse Geborgenheit‘ verwandeln, deren incorrectness auf besondere Herausforderungen und Möglichkeiten verweist. Mit Hinblick auf das angesprochene „vice versa“, also die Möglichkeit, that you are warm to them, auch wenn die Dinge dich verstören, figuriert Undivided ein Szenario von friedlichem, alltäglichem und umsorgendem Miteinander inmitten verstörender Andersartigkeit. Damit stellt das Werk auf affektiv intensive Weise die Frage: Was sind die Möglichkeitsbedingungen solcher anderer Geborgenheiten?

Durch das Bachelard’sche Mikroskop betrachtet, könnte unser Blick hier auf scheinbar ewige ‚Werte‘ der Intimität fallen, wie sie etwa in der Rundung der beiden an- und umeinander gelegten Körper aufscheinen. Der dargestellten bergenden Form wohnt tatsächlich eine topophile Intensität inne, die sich mit einer Reihe anderer gerundeter Körper in Verbindung bringen lässt. Es könnte unseren Blick auch auf die detailhaften Oberflächen der beiden sehr verschiedenen Körper lenken. Bachelards ontologische Linse würde diese Intensitäten allerdings zugleich mit einem Essentialismus menschlichen Daseins, ja menschlicher Überlegenheit färben, der Piccininis Intention diametral entgegensteht. So behauptet Bachelard in Auseinandersetzung mit Bildern nicht-menschlicher Intimität: „Jeder Träumer von tierischer Evolution meint den Menschen.“ (S. 121) Das „vollendete Symbol des menschlichen Wesens“ stelle dabei den energiegeladenen „Gipfelpunkt“ des Lebens dar (ebd.). Eine nicht-menschliche Geborgenheit ist so in Bachelards Begriffsapparat nur als Ursprung einer höherwertigen, immer schon genuin menschlichen Intimität lesbar.

Doch das Surrogat des Nördlichen Haarnasenwombats steht in keinem linear-evolutionären Verhältnis zum Menschen. Und Piccininis skulpturhafte Träumerei meint auch weniger ‚den Menschen‘ oder menschliches Dasein als, mit Doreen Massey (2005) gesprochen, das irreduzible ‚Zusammengeworfensein‘ von Mensch und Nicht-Menschlichem, von weißen Siedler_innen und der indigenen Fauna Australien-Aotearoas. Wie Donna Haraway (2011) in ihrem Aufsatz zu Piccininis Werken herausstreicht, wenden sich diese Werke gerade gegen romantisierende Vorstellungen einer ‚wilden‘, ‚niederen‘ und technologisch unberührten ‚Natur‘, die zivilisatorischen Missionen zu unterwerfen sei. Denn solche Vorstellungen waren konstitutiv für das von gewaltsamer Aneignung und Auslöschung geprägte Verhältnis zu indigenem Leben, aufgrund dessen etwa die Wombats nun vom Aussterben bedroht sind. Und um derartige Bezüge in Piccininis Werk in den Blick zu bekommen, reicht der mikroskopische Blick aufs scheinbar ‚urfunktionelle‘ Detail nicht mehr aus. Statt auf ein vollendetes menschliches Wesen abzuzielen, kommt in Undivided dem Surrogat und seinem beziehungshaften Weiterleben eine besondere ‚energiegeladene‘ Rolle zu. In seinem Rücken sehen wir nämlich bereits die Nachkommen heranwachsen, für die es Verantwortung trägt – eine, wie Haraway betont, bereits unumkehrbar verwobene gemeinsame Verantwortung gegenüber Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und auf diese Gemeinsamkeit verweist die Umarmung des Surrogats, mit der es dem Kind Geborgenheit spendet – wodurch auch die Überlegenheit menschlicher Handlungsfähigkeit infrage gestellt wird.

Doch gerade hier präsentiert sich auch die andauernde Ungemütlichkeit oder Monstrosität der Szene. Denn Kind und Surrogat sind, wie Haraway bemerkt, „awfully close“ (2011: 112), ‚furchtbar nahe‘ – vielleicht zu nahe für zwei so unterschiedliche Spezies. Immerhin könnte es sein, dass der Wombatkreatur seinem Wesen nach mehr am Überleben seiner eigenen Nachkommen als an dem des Kindes gelegen ist. Mit Bezug auf Undivided und weitere Werke folgert Haraway: „[T]he Surrogates could reasonably decide that Laura, James and the boy in Undivided do not fall under their writ of protection if the young hominids get unruly with the wombats, intentionally or not.“ (ebd.: 113) Das vermeintlich ‚niedere Leben‘ der Wombats könnte so durchaus das der ‚Hominiden‘ gefährden. Dass der Wombat dem Kind jedoch Geborgenheit spendet, deutet bereits auf die Möglichkeit einer wechselseitig verantwortungsvollen Praxis hin. Die große Herausforderung derartiger Spezies übergreifender Bezogenheit ist daher gerade ihre prekäre Verortung in beständig neu zu entwerfenden ethisch-politischen Praxen, die, wie Haraway schreibt, keine Frage „liberaler“ Toleranz sind, sondern engagierte Lebensweisen erfordern, „that take risks to nurture some ways of getting on together […] and not others“ (ebd.: 114). So liest sich Haraways Einordnung von Piccininis Fabelwesen auch wie eine direkte Replik auf Bachelards Humanismus:

„Die entscheidende Frage darf nicht lauten: ‚Sind sie [die Fabelwesen] ursprünglich und rein (natür-lich in diesem Sinne)?‘, sondern sie muss lauten: ‚Was tragen sie zum Gedeihen [flourishing] und zum Wohlbefinden des Landes und seiner Viecher (naturkulturell in diesem Sinne) bei?‘“ (Ebd.)

Fordert Haraway eine ethisch-politisch ‚engagierte‘ Auseinandersetzung mit dieser Frage nach dem „Wohlbefinden“, so beleuchtet Piccinini zugleich deren emotional involvierende, ‚affizierende‘ Dimensionen:

“Much of the context that underpins my work is medical or environmental; many of the technologies that I comment upon are aimed at saving lives, easing suffering, protecting biodiversity. It is one thing to calmly opine on ethics but another to cling desperately to their possibilities as you see something or somebody close slipping away.” (2006: o. S.)

Auch einem solchen anteilnehmenden Zugang kann, de-essentialisiert, die Poetik Impulse verleihen, müssen doch Bilder (oder allgemeiner: Ausdrücke), damit wir ihrer erfahrungsgenerierenden Intensitäten überhaupt gewahr werden, eine_n zuallererst „angehen“ (S. 16, Herv. im Orig.): „nous sommes ‚partie prenante‘.“ (S. 9) Der affektive, intensitätsbezogene thematische Fokus kann also überhaupt nur im Rahmen eines auf Affizierbarkeit begründeten methodologischen Ansatzes zur Geltung kommen. Und Affiziert-Werden heißt immer auch eine Offenheit für Begegnungen, nach denen wir möglicherweise nicht mehr dieselben sind.

Hinsichtlich Geborgenheit schließt sich hier gerade hinsichtlich Spezies übergreifender Bezogenheit die Frage an: Wenn auch nicht-menschliche Bezogenheit etwas mit Formen des Bergens und Geborgenseins zu tun hat, wenn es um ein heterogenes ‚Zusammengeworfensein‘ geht, inwiefern lassen sich Fragen nach Geborgenheit und ‚Gefühlsräumen‘ überhaupt abschließend in Begriffen von ‚Subjektivität‘ klären? Aber auch hinsichtlich der Intraspezies-Verhältnisse menschlicher Gesellschaften ist Haraways Frage von akuter Relevanz: Es geht nicht um die vermeintliche Ursprünglichkeit intimitätsspendender ‚Werte‘, sondern um die konkreten Effekte und Potenziale topophiler – und ‚topophober‘ – Intensitäten. Was sind es für Verhältnisse, die verantwortungsvolle Praxen des Bergens und expansive Formen des Sich-Bergens befördern? Was machen Geborgenheitsverhältnisse mit den Beteiligten? Wem wird Geborgenheit verwehrt, und inwiefern sind affektive Verhältnisse auch ohne Geborgenheit ermöglichend? Ein solcher Fokus auf heterogene Formen und Effekte der Geborgenheit, deren intensive Details immer Teil viel weiter gespannter Konstellationen sind, erfordert zugleich einen Wechsel der ontologischen Linsen, von solchen, die ein universelles ‚menschliches Dasein‘ propagieren, zu solchen, die uns erlauben, unserem gesellschaftlich-ökologischen Zusammengeworfensein gewahr zu werden.

Endnoten

Autor_innen

Jan Hutta ist Geograf und beschäftigt sich mit räumlichen Formationen von Macht und Citizenship sowie queeren Politiken, u. a. im brasilianischen Kontext.

hutta@gmx.net

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