Der juristische Verblendungszusammenhang internationaler Stadtkonzepte

Rezension zu Helena Lindemann „Kommunale Governance. Die Stadt als Konzept im Völkerrecht“

Maximilian Pichl

Eine kritische Reflexion der Entwicklung von Städten und die hierzu arbeitende kritische Stadtforschung wurden in der Rechtswissenschaft bislang kaum rezipiert. Dabei stellt gerade der städtische Raum ein Laboratorium für neue rechtliche Regulierungen dar. In der Stadt erprobt das Recht seine Flexibilität: Es muss sich an lokale Gegebenheiten anpassen und verselbstständigt sich gegenüber seinen ursprünglichen Zwecken.

Die deutsche Rechtswissenschaft beschäftigt sich mit der Stadt vorrangig aus der Perspektive des Kommunalrechts. Die Transformation der Städte wird als gegeben hingenommen, politische Prozesse und die Rolle des Rechts faktisch nicht hinterfragt. Aus dem Blick gerät, wie der internationale Wettbewerb der Städte und deren programmatische Ausgestaltung das Recht verändern.

Helena Lindemann versucht mit ihrer Monografie Kommunale Governance, die zugleich ihre an der Universität Frankfurt/Main eingereichte Promotion darstellt, diesen blinden Fleck der Rechtswissenschaft mit einer anregenden völkerrechtlichen Studie über internationale Stadtkonzepte der Weltbank und des UN-Habitats zu füllen. Diese Stadtkonzepte stellen keine einheitlichen Programme dar. Lindemann fasst darunter all jene Ansätze der Weltbank und des UN-Habitats, die über die Vergabe von finanziellen Mitteln in der Entwicklungszusammenarbeit und über Strukturförderprogramme Einfluss auf konkrete Stadtentwicklungspläne vor Ort nehmen. Die Stadtkonzepte umfassen vielfältige Bereiche wie die Reduzierung von Armut und Exklusion, das Finanzmanagement der Städte, die Steigerung wirtschaftlichen Wachstums, den Grundstücks- und Wohnungsmarkt oder lokale Klima- und Umweltschutzprogramme. Mitunter werden diese Aufgaben in größeren Stadtkonzepten gebündelt oder den Städten als einzelne Projekte zur Implementierung empfohlen. Gemeinsam ist ihnen aber die Forderung nach einer Dezentralisierung der innerstädtischen Aufgabenverteilung, einer Änderung der kommunalen Daseinsvorsorge und einer Änderung der Verwaltung zur „good urban governance“ (3).

Lindemann diskutiert die internationalen Stadtkonzepte im Hinblick auf ihre ideologischen Implikationen. Im Gegensatz zu klassischen marxistischen Theorien begreift die Autorin „Ideologie“ nicht im Sinne eines „falschen Bewusstseins“. In Fortführung der Ansätze von Terry Eagleton (2000) und Susan Marks (2000) beschreibt sie Ideologie als ideologische Strategien, die bestehende Machtstrukturen stabilisieren und diese als selbstverständlich erscheinen lassen (72). Durch Legitimierung, Rationalisierung, Naturalisierung und Universalisierung verleihen ideologische Strategien politischen Projekten eine Form der Notwendigkeit und Alternativlosigkeit (73). Während die traditionelle Rechtsvergleichung behauptet, dass die „Übertragung von Verfassungs- oder Rechtssätzen von einer Rechtsordnung in eine andere“ (74) konfliktfrei verlaufe, geht die kritische Rechtsvergleichung davon aus, dass damit die Konflikte des Ursprungtextes und die Konflikte im neuen Kontext verhüllt werden.

Der Hauptteil der Studie dreht sich um die Stadtkonzepte von Weltbank und UN-Habitat, die ab den 2000er Jahren entstanden, also zu einem Zeitpunkt, als Städte in den Fokus der Entwicklungspolitik gerieten (18). Als vorrangige Ziele proklamierten die Stadtkonzepte die Bekämpfung von Armut und die Schaffung von besseren Lebensbedingungen für die in Städten lebenden Menschen. Wirtschaftliches Wachstum und die Partizipation der Bevölkerung galten ihnen allerdings als Voraussetzung für die Eindämmung von Armut. Lindemann zeigt, dass die wohlklingenden Worte von wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratieförderung nur selektiv umgesetzt wurden. Zwar wurden im Zuge der internationalen Stadtkonzepte Kompetenzen auf die städtischen Ebenen verlagert, damit ging jedoch keine demokratische Stärkung der Bevölkerung einher. Vielmehr wurden die Aufgaben der Städte durch Privatisierung auf den privaten Sektor übertragen oder in Public-Private-Partnerships (PPP) organisiert (61). Beispielhaft hierfür ist die Wasserversorgung in der bolivianischen Stadt Cochabamba. Dort wurde auf Initiative der Weltbank „die Aufgabe der Wasserversorgung im Wege eines Konzessionsvertrags mit vierzigjähriger Laufzeit einem privaten Anbieter übertragen“ (63). Die Folge waren massive Preissteigerungen. Der sogenannte Wasserkrieg von Cochabamba – den Icíar Bollaín mit También la lluvia (dt. Und dann der Regen) filmisch inszeniert hat – zeigt, dass die Politiken der Weltbank nicht widerstandslos hingenommen werden. Die Bewohner_innen von Cochabamba organisierten einen wochenlangen Generalstreik, der den Beginn des lateinamerikanischen nuevo constitucionalismo markiert, an dessen Ende mit Evo Morales zum ersten Mal ein Indigener Präsident von Bolivien wurde.

Im Folgenden verweist Lindemann auf die strategische Einbindung der Staaten des globalen Südens in die ideologischen Projekte der Stadtkonzepte: „Die für die Entwicklungshilfe der Weltbank geltenden Prinzipien ownership und Partizipation haben so einen legitimatorischen Effekt, indem der Anschein erweckt wird, die Staaten entschieden selbst unter Einbeziehung ihrer Bevölkerung über die Entwicklungspolitik in ihrem Land, obwohl dies in letzter Konsequenz überhaupt nicht gewollt ist“ (103). Ökonomische Herrschaftsverhältnisse, die sich in asymmetrischen Verhandlungssituationen zwischen der Weltbank und den Staaten ausdrücken, werden unter dem Deckmantel angeblich demokratischer Prozesse entpolitisiert. Zugleich zeigt sich, dass die „Programmelemente für Kritik immunisiert“ (113) werden, schließlich können internationale Organisationen auf die Zustimmung der Staaten verweisen und sich der Verantwortung entziehen. Lindemann gesteht den internationalen Stadtkonzepten durchaus zu, dass deren Autor_innen womöglich tatsächlich eine demokratische Stärkung und die Verminderung von Armut im Blick hatten. Jedoch führten die Stadtkonzepte in der Praxis eher zur „Stärkung privater Akteure am Markt gegenüber dem Staat“ (125). Über die Analyse von Lindemann hinaus könnte man die Zunahme privatwirtschaftlicher Macht durch die Stadtkonzepte als nicht-intendierte Effekte beschreiben. Die Verselbstständigung der Programme von Weltbank und UN-Habitat gegenüber den Intentionen der Autor_innen basiert auf der strukturellen Ausblendung von ökonomischen Herrschaftsverhältnissen.

Fraglich ist, warum Staaten die internationalen Stadtkonzepte überhaupt implementieren. Lindemann untersucht, ob die Stadtprogramme Teil eines neuen internationalen Kommunalrechts sind. Sie erläutert zunächst die verschiedenen Rechtsquellen des Völkerrechts (131 ff.), angefangen bei völkerrechtlichen Verträgen nach Art. 38 Abs. 1 lit. a IGH-Statut über das Völkergewohnheitsrecht bis zum soft law. Das völkerrechtliche soft law basiert auf „normativen Verhaltensanforderungen“ zwischen Völkerrechtssubjekten, deren Nichteinhalten mit keiner völkerrechtlichen Sanktion geahndet werden kann. Die Stadtkonzepte des UN-Habitats werden von Lindemann als soft law deklariert. Sie würden kritiklos übernommen, enthielten aber keine verbindliche Setzung von Recht. Es handele sich hierbei eher um Empfehlungen (159). Ebenso seien die Konzepte der Weltbank nicht verbindlich. Bei diesen bestehe aber eine andere Form des Zwangsmechanismus, da die „Vergabe von Entwicklungshilfe an die Verwirklichung der Konzepte und Strategien geknüpft“ sei (166). Faktisch müssen die Staaten die Stadtkonzepte implementieren, um an erforderliche Finanzquellen zu gelangen.

Zuletzt wendet sich Lindemann anhand von Fallbeispielen einer Kritik der Entscheidungen internationaler Investitionsschutzgerichte zu, deren Bedeutung durch die Verhandlungen über die Freihandelsabkommen TTIP und CETA an Relevanz gewonnen haben. Für die Stadtkonzepte sind die Schiedsgerichtssprüche dann relevant, wenn „kommunales Handeln (zum Beispiel die Versagung einer Erlaubnis) Entschädigungspflichten auslöst, wenn klassische kommunale Gegenstände wie die Planungshoheit betroffen sind, oder wenn die staatliche Rücksichtnahme auf kommunale Interessen dem Investor Beschränkungen auferlegt“ (6). Eine Besonderheit des internationalen Investitionsschutzrechts ist es, dass Schiedssprüche von den Vertragsstaaten des International Centre for Settlement of Investment Disputes (ICSID) nach Art. 54 ICSID „innerstaatlich gleichermaßen wie letztinstanzliche staatliche Entscheidungen“ vollstreckt werden müssen. Dabei weisen die Schiedsgerichte eine spezifische Problematik auf. Aufgrund ihrer Genese und dogmatischen Ausrichtung verfolgen die Schiedssprüche einen „hohen Schutzstandard für das Eigentum ausländischer Investoren“, nehmen aber auf „staatliche Interessen kaum Rücksicht“ (208). Lindemann schlussfolgert deshalb, dass sich in den internationalen Rechtsbeziehungen eine problematische Vorrangstellung der eigentumsrechtlichen Freiheiten gegenüber sozialen, politischen und ökologischen Interessen etabliert habe. Indem das Investitionsschutzrecht die juristischen Interessen von privaten Unternehmen privilegiert, ist die Bevölkerung der betroffenen Staaten im Schiedsgerichtswesen strukturell schlechter gestellt.

Lindemanns Studie bietet eine profunde rechtswissenschaftliche Perspektive auf die Programmatik internationaler Stadtkonzepte. Ein großer Vorteil der Arbeit besteht in ihrer gegenüber anderen rechtswissenschaftlichen Studien vergleichsweise zugänglichen Sprache. Dieser Aspekt ist kaum zu unterschätzen, steht die juristische Ausdrucksweise doch oft einem interdisziplinären Austausch mit den Sozialwissenschaften entgegen. Ihre Ausführungen sind deshalb für die kritische Stadtforschung von einem herausgehobenen Interesse.

Ein Problem der Arbeit liegt in dem mitunter unklaren Maßstab von Lindemanns Kritik. Die Autorin kritisiert die stetige Verlagerung von Kompetenzen aus dem öffentlichen in den privaten Bereich. Doch würden heutige Staaten gänzlich andere Politiken als private Akteure verfolgen? Alex Demirović weist darauf hin, dass es zu den „beharrlichen Missverständnissen neoliberalismuskritischer Analysen [gehört], anzunehmen, dass der Staat durch Deregulierung und Privatisierung immer weiter abgebaut wird und alle Verhältnisse von der Logik der ‚Verbetriebswirtschaftlichung‘ durchdrungen werden“ (2010: 24). Vielmehr ist der Staat selbst ein Akteur der Privatisierungspolitik und verfolgt spezifische Interessen bei der Auslagerung von Kompetenzen an private Unternehmen. Ist diese Erkenntnis in neoliberalismuskritischen Studien der Soziologie oder Stadtgeografie common sense, existiert in der Rechtswissenschaft mitunter eine starke Staatsgläubigkeit und ein Vertrauen in den Rechtsstaat. In anderen Bereichen – wie zum Beispiel der staatlichen Überwachung – gewinnt der Staat sogar zunehmend an Kompetenzen. Eine einfache Revision der internationalen Stadtkonzepte und eine Stärkung des Staates sind wenig vielversprechend, um progressive Strategien der Stadtentwicklung einzulösen. Der Staat ist der Ausdruck spezifischer gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und für die Stabilisierung ökonomischer Herrschaft zuständig. Dieser blinde Fleck der Arbeit ist Lindemann insgesamt jedoch nicht anzulasten. Ihre Analyseperspektive ist differenziert genug aufgestellt, um kein allzu emphatisches Staatsverständnis zu proklamieren. Dass ihre ideologiekritische Perspektive auf Stadtprogramme überhaupt Geltung in der Rechtswissenschaft erhält, ist ungewöhnlich genug. Ihre Arbeit zeigt, wie relevant die Verbindung von kritischer Stadtforschung und Rechtswissenschaft ist, um den juristischen Verblendungszusammenhang internationaler Stadtkonzepte zu dechiffrieren.

Autor_innen

Maximilian Pichl ist Promovend und arbeitet schwerpunktmäßig zu kritischer Rechtstheorie, Polizeirecht und Migrationsrecht.

maxp@proasyl.de

Literatur

Demirović, Alex (2010): „Politik und Wirtschaft kann man nicht trennen“. Zur Aktualität eines Gemeinplatzes. In: Elmar Altvater / Hans-Jürgen Bieling / Alex Demirović / Heiner Flassbeck / Werner Goldschmidt / Mehrdad Payandeh / Stefanie Wöhl (Hg.): Die Rückkehr des Staates? Nach der Finanzkrise. Hamburg: VSA.

Eagleton, Terry (2000): Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler Verlag.

Marks, Susan (2000): The Riddle of All Constitutions. International Law, Democracy and the Critique of Ideology. Oxford University Press.