Die informelle Ökonomie des Pfandsammelns

Rezension zu Sebastian J. Moser „Pfandsammler. Erkundungen einer urbanen Sozialfigur“

Christian Haid

Pfandsammler_innen gehören seit Längerem zum alltäglichen Bild in Deutschlands Städten. Insbesondere seit der Einführung des Pflichtpfandes auf Einweggetränkeverpackungen im Jahr 2003 und dessen Novelle 2006 formierte sich eine informelle Ökonomie des Pfandsammelns, die allerdings nur eine geringfügige Aufbesserung des Lebensunterhalts der sammelnden Personen leisten kann. Jede eingesammelte Dose oder Flasche bringt den Sammler_innen zwischen 8 und 25 Cent. Im medialen Diskurs gilt das Pfandsammeln als Sinnbild für die sich verschlechternden sozialen Verhältnisse. Diese Praktik, so erklärt Sebastian J. Moser im Vorwort zu seinem Buch Pfandsammler: Erkundungen einer urbanen Sozialfigur, wurde zu einem Symbol für Armut in der deutschen Gesellschaft, das es eingängiger zu betrachten gilt.

Basierend auf seiner Dissertation an der Universität Freiburg legt Moser mit seinem Buch eine erste umfassende soziologische Studie zur Sozialfigur der Pfandsammler_innen vor. Zur Skizzierung dieser Figur lehnt er sich an die Tradition der frühen Chicago School und auch Autoren wie Walter Benjamin oder Siegfried Kracauer an und inszeniert sich selbst als flanierenden Soziologen, der auf seinen Spaziergängen durch deutsche Städte Pfandsammler_innen auf- und ihnen nachspürt. Dabei geht Moser den Motivationen für ihre Tätigkeit nach, „die über die reine Bedürftigkeit hinausgehen” (Moser 2014: 14) und untersucht die Frage: „Wie ist es möglich, dass Menschen eine Handlung als für sich angemessen ansehen, durch die sie in die soziale Nähe einer gesellschaftlich stigmatisierten Gruppe wie den Obdachlosen gestellt werden? Welche Mechanismen zeichnen dafür verantwortlich, dass trotz potenzieller Stigmatisierung dennoch Pfandflaschen gesammelt werden?” (ebd.)

Der erste Teil des Buches nähert sich dem Sammeln von Pfandgut über eine phänomenologische Analyse, welcher Beobachtungen und verdeckt geführte Interviews zugrunde liegen. Die Praktik des Pfandsammelns wird dabei analytisch in (Ein-) Sammeln, Zwischenlagern und Wegbringen unterteilt und das Alltagsleben der Sammler_innen beschrieben. Moser unterscheidet zwischen sogenannten Routen- und Veranstaltungssammler_innen und weist auf zusätzliche Formen der Spezialisierung auf verschiedene Orte und bestimmte Pfandtypen hin. Neben einer Geschichte des Pfandes und der Janusköpfigkeit des Pfandgesetzes analysiert Moser das Sammeln auf allgemeiner Ebene. In der Unterscheidung zwischen Sammeln und Einsammeln stellt Ersteres eine Tätigkeit zum Selbstzweck dar und erst Letzteres ist der Arbeit zuzuordnen. Die Tätigkeit des Pfandsammelns, so Moser, ist als „Lösung für Krisen prädestiniert, die sich aus einer als zu stark empfundenen Schließung der Zukunftsoffenheit ergeben und weniger zur Herstellung einer existenzsichernden Basis” (Moser 2014: 83). Neben der Erweiterung des individuellen finanziellen Handlungsspielraumes erwähnen viele der interviewten Sammler_innen auch die vorhandene Freizeit, die durch das Sammeln gefüllt werden kann, was auch eine wesentliche soziale Motivation dafür darstellt. Pfandsammeln für eine rein finanzielle Existenzsicherung findet eingeschränkt statt. Eher, so argumentiert Moser, handelt es sich um eine Tätigkeit, die sich auf die soziale Existenz bezieht. Ähnlich wie Erwerbsarbeit rettet sie aus der Einsamkeit und befriedigt den Wunsch nach einem strukturierten Alltag. Die Gruppe der Flaschensammler_innen wird bei Moser wider allgemeiner Erwartungen als sozial heterogen dargestellt: Angestellte, Arbeiter_innen, Arbeitslose, Obdachlose und Rentner_innen. Was diese Gruppe jedoch zu einer Gruppe macht, sei – neben Ihrer Tätigkeit – die soziale Vereinsamung.

Im zweiten Teil, der sich mit der Frage „Ökonomische Wohltat oder: Wohltätige Ökonomie?” beschäftigt, wird das Verhältnis der Sammler_innen zu ihren „Geber_innen“ analysiert, welches der Autor zuerst einer gabentheoretischen Interpretation unterzieht. Dieses Verhältnis entzieht sich dem Reziprozitätsprinzip anderer sozialer Beziehungen, weshalb das Sammeln auch als informelle Dienstbotenarbeit skizziert und eingeordnet wird. Durch diese Linse werden die ungleich verteilten Machtverhältnisse zwischen den zu Dankbarkeit verurteilten Sammlern_innen und den „wohltätigen“ Geber_innen detailliert herausgearbeitet. In der Analyse unterschiedlicher Organisations- beziehungsweise Professionalisierungsgrade widmet Moser der Internetplattform pfandgeben.de ein Kapitel. Die Internetplattform dient dem Autor als Beispiel der Institutionalisierung des Pfandsammelns, da sie gegründet wurde, um die Arbeit für Flaschensammler_innen zu erleichtern und profitabler zu machen. Das Herumwühlen in Mülleimern, das einen wesentlichen Beitrag zur Stigmatisierung der Praktik leistet, entfällt dabei und wohltätige Spender_innen können Pfandgut ganz ohne Aufwand loswerden.

Ein weiteres zentrales Kapitel stellt das Pfandsammeln in den Kontext neoliberaler Stadtpolitik, die Randgruppen zunehmend aus den Innenstädten und den von Tourismus geprägten Bereichen der Stadt zu verdrängen versucht. Verstärkte Kontrollen, Verordnungen, städtebauliche und architektonische Maßnahmen erschweren dabei auch die Tätigkeit der Pfandsammler_innen und ziehen damit auch deren Verdrängung nach sich: So verhindern zum Beispiel neue Mülleimer diese Tätigkeit, da sie oft so konstruiert sind, dass das Hineingreifen und Entnehmen von Pfandgut unmöglich ist. Zudem unterbinden Verordnungen wie beispielsweise jene der Städte Köln und Stuttgart sowie die Hausordnung der Deutschen Bahn grundsätzlich das Durchsuchen von Abfallbehältern und öffentlich aufgestellten Wertstoffcontainern. Verbote von Glasflaschen und Getränkedosen bei Großveranstaltungen unter dem Vorwand von Sicherheitsaspekten wirken sich ebenfalls negativ auf die Tätigkeit des Pfandsammelns aus. Viele der Sammler_innen sind auf die Toleranz von Ordnungspersonal angewiesen.

Im Abschlusskapitel diskutiert Moser die Grenzen sozialer Anerkennung, indem er alltägliche Beleidigungen sowie Situationen der Geringschätzung, die auch über Videos im Internet öffentlich verbreitet werden, aufzeigt. Somit erfahren Pfandsammler_innen nicht nur eine Diskriminierung von oben sondern auch von unten. Zusätzlich zu diesen Ausführungen sind drei Exkurse in den zweiten Teil eingeflochten, die Pfandsammler_innen den historischen Sozialfiguren der Ährensammler, Lumpensammler und Raffholzsammler gegenüberstellen.

Sowohl auf empirischer wie auch theoretischer Ebene betrachtet Moser die Praxis des Pfandsammelns in vielschichtiger Art und Weise und spannt so ein breites soziales Feld auf, in dem und durch das sich diese Sozialfigur bewegt. Konzeptionell zieht der Autor Referenzen zu Theorien der Anerkennung und der Diskriminierung, zu gabentheoretischen Ansätzen, der Frankfurter Schule und Adornos Ansatz von Wohltätigkeit, Agambens Ausnahmezustand, Urbaner Informalität, neoliberalem Urbanismus und historischen Texten wie Karl Marx’ Raffholzsammler oder Walter Benjamins Lumpensammler. Einerseits ist ein solch breites Spektrum durchaus hilfreich, die Komplexität sozialer Praktiken zu verstehen, andererseits jedoch bleibt uns Moser durch die mangelnde Tiefe seiner konzeptionellen Erläuterungen eine eindeutig formulierte Forschungsfrage schuldig. So faszinierend und anschaulich einige der thematischen Randbemerkungen, theoretischen Ansätze und Exkurse auch sein mögen, so sehr lenken diese auch von der Frage nach der Alltagswelt der Sammler_innen ab, die zumindest im ersten Teil des Buches zentral zu sein scheint, aber wenig tiefer gehend analysiert wird. Im zweiten Teil, der den strukturellen Kontext, in welchem die Pfandsammler_innen agieren, untersucht, verlieren wir nicht nur auf empirischer sondern auch auf theoretischer Ebene den Zusammenhang zur Alltagswelt der Sozialfigur, die im ersten Teil beschrieben wird – zu vielfältig sind die theoretischen Interpretationsansätze.

Ein Thema, das sich durch die gesamte Arbeit zieht, jedoch konzeptionell unbearbeitet bleibt, ist der informelle Charakter des Pfandsammelns, auf den Moser an mehreren Stellen verweist. Der in den letzten Jahren in der Stadtforschung verstärkt behandelte Informalitätsdiskurs (z. B. McFarlane/Waibel 2012, Roy/AlSayyad 2004, Varley 2013) hätte durchaus als eine konzeptionell vertiefende Bereicherung für die Erforschung des Alltagslebens der Pfandsammler_innen und des strukturellen Kontexts der Praktik dienen können. Moser streift diesen Diskurs jedoch nur am Rande und bezieht sich ausschließlich auf europäische Literatur und nicht auf konzeptionell weiter vorangeschrittene Debatten aus dem Globalen Süden.

Das am stärksten (empirisch) untermauerte Argument Mosers relativiert die allgemeine Annahme, dass Menschen aus ökonomischer Motivation Pfand sammeln, um dadurch aus der Armut auszubrechen oder zumindest ihr Einkommen aufbessern zu können. Vielmehr, und laut seiner Interviewpartner weit bedeutender, ist es ein sozialer Beweggrund, nämlich durch das Sammeln der Einsamkeit zu entfliehen. Für eine zunehmende Anzahl von (Stadt-) Bewohner_innen stellt allerdings die Erwerbstätigkeit in informellen Ökonomien eine Notwendigkeit dar, da sie zum formellen Arbeitsmarkt aus unterschiedlichen Gründen keinen Zugang haben oder dieser zu wenig einbringt und sie einer zusätzlichen Arbeit nachgehen müssen (vgl. Portes et al. 1989, AlSayyad 2004). Dieser Beweggrund, bei dem Menschen im Pfandsammeln die einzige ihnen zur Verfügung stehende Möglichkeit und ökonomisches Potenzial sehen, bleibt bei Moser jedoch untererforscht. Mitunter mag dies auch an der limitierten empirischen Basis liegen, die seinem Buch zu Grunde liegt.

Auch methodologisch ist Mosers Herangehensweise bruchstückhaft und in einigen Belangen durchaus problematisch. Die Studie basiert auf Beobachtungsprotokollen und Gesprächen mit Pfandsammler_innen, denen er mehr oder weniger zufällig beim Flanieren durch mehrere deutsche Städte begegnet. Insgesamt wurden 14 Gespräche mit verstecktem Mikrofon aufgezeichnet, von denen acht ausgesucht und transkribiert wurden. Daraus kommen allerdings nur sechs der Pfandsammler_innen in seinem Text zu Wort. Der Autor induziert einen ethnographischen Zugang, liefert jedoch keinen plausiblen, methodologisch nachvollziehbaren Ansatz. Die Auswahl der Gesprächspartner_innen wirkt eher zufällig und weist eine unzulängliche Varianz auf, was als Mangel der zu wenig stringenten Methodik zu werten ist. Zum Beispiel sind fünf der sechs zitierten Gesprächspartner_innen männlich. Des Weiteren lässt sich auch vermuten, dass die im Text zitierten Gesprächspartner_innen aufgrund der Namen allesamt deutsche Staatsbürger_innen sind. So werden für eine Studie zur Erforschung einer urbanen Sozialfigur wesentliche Kategorien wie Gender und Migration in der Diskussion völlig ausgelassen. Seine selektive Auswahl der Gesprächspartner_innen wird zudem in folgender Aussage klar: „Einige, so muss eingestanden werden, sprach ich ganz bewusst nicht an, weil sie mir schlicht und ergreifend aufgrund ihres Auftretens Angst machten; manchmal reichten schon mürrische Gesichtsausdrücke, um die Person nicht anzusprechen.” (Moser 2014: 24). Die Adäquatheit des Samples, das als Grundlage der Repräsentation des Alltagslebens der Sammler_innen angenommen wird, ist aufgrund dieser Beispiele äußerst streitbar.

Forschungsethisch zweifelhaft bleibt zudem auch die Aufzeichnung und Auswertung der Gespräche – mit einer Dauer von 42 bis 150 Minuten – bei denen die Gesprächspartner_innen weder über die Tatsache eines laufenden Mikrofons noch über Zweck und Zusammenhang der Studie aufgeklärt wurden. Mosers Hintergrund als Sozialforscher bleibt somit für sie unbekannt. Des Weiteren bleibt auch Mosers Positionalität als weißer und der Mittelklasse angehörender Mann unterreflektiert.

Einigen Abschnitten des Textes haftet eine Romantisierung der Pfandsammler_innen an, insbesondere durch deren Konstruktion als Sozialfigur; ein Eindruck der zudem noch durch die historischen Exkurse, die in den Text eingearbeitet sind, verstärkt wird. Moser versucht zwar, teilweise berechtigt, Mythen, welche die öffentliche Debatte um die Pfandsammler_innen prägen, aufzudecken, läuft dabei aber auch Gefahr, deren herausfordernde Alltagswelt zu bagatellisieren. Zum Beispiel verneint er Konflikte, die unter den Sammler_innen herrschen – wie etwa solche um bestimmte Sammelreviere – und verharmlost diese als mediale Übertreibung (Moser 2014: 240). Mit verstärkter Professionalisierung der Sammler_innen nehmen aber genau diese Konflikte und das Konkurrenzdenken innerhalb der Gruppe zu, wie meine eigene Forschung aufzeigt.[1]

Die Romantisierung des Themas zeigt sich des Weiteren in der Tatsache, dass Moser den Kontext, der zur Entstehung dieser noch sehr jungen Sozialfigur führt, in den Hintergrund rückt: zunehmende Ungleichheit und Armut, sowie prekäre Lebensumstände – alles strukturelle und wesentliche Faktoren für Menschen, die dieser Tätigkeit nachgehen – werden über weite Strecken ausgeklammert und entpolitisieren somit auch das Alltagsleben der Sammler_innen.

Als erste umfassende soziologische Auseinandersetzung mit dieser relativ jungen Sozialfigur in deutschen Städten liefert Sebastian J. Moser eine Studie, die die Praxis des Pfandsammelns aus einer Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven beleuchtet. Statt das Phänomen als reines Symbol von Armut anzusehen, zeigt Moser die komplexe Alltagswelt und die strukturellen Einschränkungen auf, die der Praxis innewohnen. Die Argumentation des Autors ist allerdings streckenweise diffus und teilweise spekulativ, insbesondere da er auf einen methodisch nicht ausgereiften Datensatz zurückgreift, der zudem forschungsethisch problematisch und wenig repräsentativ für die heterogene Gruppe der Sammler_innen ist. Insgesamt allerdings liegt die Stärke des Textes für dieses noch wenig erforschte Feld im Aufwerfen von Fragen und Anschneiden von Themen, die es noch weiter zu erforschen gilt – und zwar insbesondere des reziproken Zusammenhangs des Alltagslebens der Sammler_innen mit dem (neoliberalen) ordnenden Staat und der damit verbunden Machtverteilung. Damit könnte man dem Vorwurf der Entpolitisierung des Themas entgegenwirken.

Endnoten

Autor_innen

Christian Haid ist Stadtsoziologe und Architekt. Seine Arbeitsschwerpunkte sind urbane Informalität, Diversität und öffentlicher Raum.

christian.haid@metropolitanstudies.de

Literatur

AlSayyad, Nezar (2004): Urban informality as a „new“ way of life. In: Ananya Roy / Nezar AlSayyad (Hg.): Urban Informality. Transnational Perspectives from the Middle East, Latin America, and South Asia. Lanham: Lexington Books,7-30

McFarlane, Colin / Waibel, Michael (Hg.) (2012): Urban Informalities. Reflections on the Formal and Informal. Surrey: Ashgate.

Moser, Sebastian. J. (2014): Pfandsammler. Erkundungen einer urbanen Sozialfigur. Hamburg: Hamburger Edition.

Portes, Alejandro / Castells, Manuel / Benton, Lauren A. (Hg.) (1989): The informal economy. Studies in Advanced and Less Developed Countries. Baltimore: The Johns Hopkins University Press.

Varley, Ann (2013): Postcolonialising informality? Environment and Planning D: Society and Space, 31(1), 4-22.

Roy, Ananya / AlSayyad, Nezar (Hg.) (2004): Urban Informality. Transnational Perspectives from the Middle East, Latin America, and South Asia. Lanham: Lexington Books.