Imagination, poetisches Bild und Subjekt. Eine Replik zur Debatte um Bachelards Poetik des Raumes

Julia Weber

„[A] new idea is extremely difficult to think of.
It takes a fantastic imagination.“

Richard Feynman

1.  

Gaston Bachelards Poetik des Raumes heute zu lesen ist ein besonderes und eigentümliches Erlebnis. Das kleine Büchlein, das der französische Philosoph und Epistemologe 1957 unter dem Titel La Poétique de l’espace veröffentlicht hat – zu einer Zeit als von einem spatial turn noch keine Rede war –, ist zwar keineswegs unverständlich formuliert, erweist sich aber dennoch als höchst kompliziert. Dies liegt vor allem daran, dass Bachelard in diesem späten, phänomenologisch argumentierenden Werk versucht, mit den „philosophischen Forschungsgepflogenheiten“ des „aktiven Rationalismus“ (Bachelard 1987: 7) zu brechen, um sich der Bedeutung dichterischer Einbildungskraft unvoreingenommen anzunähern. Bachelard zielt in der Poetik des Raumes darauf ab, der „direkten Ontologie“ (1987: 8) des dichterischen Bildes nachzugehen und scheut sich dabei weder vor großen metaphysischen Bezügen noch vor einer emphatischen – in der deutschen Übersetzung oftmals heideggerianisch anmutenden – Sprache, die man von einem als Wissenschaftshistoriker bekannt gewordenen Autor so nicht erwarten würde.

Bachelards besonderer Fokus auf die räumlichen Bezüge, die er in den Ausdrucksformen der poetischen Imagination ausmacht, hat dazu geführt, dass seine Poetik im Zuge der raumtheoretischen Wenden der letzten Jahrzehnte nicht nur von Literaturwissenschaftler_innen und Philosoph_innen, sondern auch von einem breiteren sozial- und kulturwissenschaftlichen Publikum (wieder)gelesen wurde. Die Rezeption des Werkes spaltet sich seit jeher in zwei Lager. Während die Poetik vor allem in den USA begeistert aufgenommen wurde,[1] stieß sie in anderen Ländern aufgrund ihrer universalisierenden Tendenzen und ihrer unsystematisch-assoziativen Argumentation oftmals auf Ablehnung oder wurde schlichtweg ignoriert.[2] Gerade im deutschsprachigen Raum hat man die Poetik bisher nur selten genaueren Analysen unterzogen.[3] Im Rahmen der hier geführten Debatte, die den ‚Klassiker‘ der Raumtheorie einer kritischen Neulektüre unterzieht, möchte ich daher zunächst die wesentlichen Argumentationszusammenhänge von Bachelards raumanthropologischen Überlegungen genauer bestimmen und sie im Kontext der zeitgenössischen Diskussionen der 1950er Jahre verorten. Daran anschließend geht es mir darum, unter Einbeziehung der Beiträge von Jan S. Hutta, Thomas Dörfler und Stephan Günzel die Schwierigkeiten seiner Imaginationsphilosophie kritisch zu beleuchten und mögliche Anknüpfungspunkte für aktuelle Diskussionen aufzuzeigen.

2.  

Gaston Bachelard (1884-1962), der in der Philosophie vor allem für seine zahlreichen wissenschaftstheoretischen und wissensgeschichtlichen Arbeiten bekannt ist, hat sich seit den 1940er Jahren zunehmend mit Fragen der Imagination beschäftigt. Den Auftakt hierzu bildete La Psychanalyse du feu (1938), der mit L’Eau et les rêves. Essai sur l’imagination de la matière (1942), L’Air et les songes. Essai sur l’imagination du mouvemenent (1943), La Terre et les rêveries de la volonté. Essai sur l’imagination des forces (1948) und La Terre et les rêveries du repos. Essai sur les images de l’intimité (1948) weitere Analysen zur Bedeutung der vier Elemente für die menschliche Imagination folgten. Auch wenn Bachelard in der Poetik 1957 schließlich den Raum ins Zentrum seiner Analyse gerückt und damit den engen Fokus auf die vier Elemente hinter sich gelassen hat, tut man gut daran, das Werk im Rahmen dieser langfristig angelegten Auseinandersetzung mit Imaginationsprozessen zu betrachten. Denn auch in der Poetik geht es zentral um die „dichterische […] Einbildungskraft“ (1987: 7), die Bachelard als eines der wichtigsten menschlichen Vermögen begreift und die er, wie ich zeigen möchte, in den Dienst nimmt, um einen Zugang zu einem neuen – nicht-euklidischen – Raumverständnis zu eröffnen.

Der Poetik geht eine Publikation Bachelards zu physikalischen Raumkonzepten voraus, die bis heute nur wenigen bekannt und aktuell vergriffen ist: Bereits 1937 hatte sich der Philosoph in einem Text mit dem Titel L’Expérience de l’espace dans la physique contemporaine mit verschiedenen zeitgenössischen wissenschaftlichen Raumtheorien aus dem Feld der Quantenmechanik auseinandergesetzt. Im Zentrum dieser konzisen und von mathematischen Gleichungen durchzogenen Schrift steht die Auseinandersetzung mit der Heisenberg’schen Unschärferelation von 1927. Darüber hinaus bezieht sich Bachelard hier auf Raumüberlegungen, die sich bei Aristoteles, Descartes und Kant finden, sowie auf die zeitgenössischen quantenmechanischen Theorien von Erwin Schrödinger, Niels Bohr, Max Planck, Wolfgang Pauli, Bernhard Riemann, Louis de Broglie und Jean-Louis Destouches. Diese abstrakten Theorien diskutiert Bachelard in L’Expérience de l’espace mit Blick auf das ‚Realismusproblem‘, also mit Blick auf die Tatsache, dass den neuen Einsichten zum physikalischen Raum keinerlei empirische Raumerfahrung korrespondiert. In der Einleitung erklärt er, sein Ziel sei es, den Realismus so weit wie möglich zu verabschieden, der sich mit dem Argument, die Dinge seien im Raum eindeutig lokalisierbar, den neuen physikalischen Erkenntnissen versperre: „Wenn man ihn [den Realismus, J. W.] schon nicht aufgeben kann, so müsste man ihn zumindest von Grund auf verändern. Dann könnte man ihm aber auch gleich einen anderen Namen geben.“ (Bachelard 1937: 13)[4]

Das Problem besteht Bachelard zufolge darin, dass die neuen Hypothesen der Mikrophysik tiefgreifende Umbrüche in den Naturwissenschaften markieren, die auch die seit Euklid vorherrschende Vorstellung eines dreidimensionalen Raumes betreffen. Dieser neue, jenseits des jahrhundertealten ‚Geometrismus‘ angesiedelte Raum lasse sich philosophisch jedoch kaum fassen, denn die philosophischen Begriffe selbst seien aus der gewohnten dreidimensional-räumlichen Erfahrung heraus entstanden und würden die alte geometrische Raumvorstellung daher unweigerlich reproduzieren. Folgt man der These, die Sandra Pravica in ihrer Dissertation zu Bachelards tentativer Wissenschaftsphilosophie vertritt (die Arbeit wird im Herbst 2015 im Passagen Verlag publiziert), so hat es sich Bachelard in seinen späteren philosophischen Texten zur Aufgabe gemacht, ein Vokabular zu finden, das „die irreduzible Andersheit der neuen physikalischen Wirklichkeit präsentiert und bestätigende Referenzen auf eine vorgängige Realität und ein Subjekt unterlässt“ (Pravica 2015: 248 im Manuskript). Im Schlusskapitel zu L’Expérience de l’espace jedoch ist Bachelard von dieser programmatischen Neuausrichtung noch weit entfernt, wenn die erörterten Neukonzeptualisierungen des Raumes auch bereits einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen haben. Er stellt sie lediglich in einen größeren historischen Kontext und vertritt die These, die neuen quantenmechanischen Entdeckungen bezüglich der Struktur des Raumes würden langfristig auch die Struktur des menschlichen Geistes affizieren:

„Denn eine Neuentdeckung bezüglich der Struktur des Raumes oder der Zeit hat immer eine Wirkung auf die Struktur unseres Geistes. […] Solche Umbrüche waren früher so selten, dass man mit gutem Recht von einem unveränderlichen Bewusstsein sprechen konnte. Kant, der nach zweitausend Jahren eines monotonen, einzig und allein in der Richtung des euklidischen Denkens vorangetriebenen Fortschritts schrieb, konnte sich einigermaßen berechtigt fühlen, das geometrische Paradigma für eine apriorische Anschauungsform zu halten. Die Unbegrenztheit des euklidischen Raumes, seine Isotropie, seine Gleichförmigkeit, seine Indifferenz […] trugen zur Legitimierung der monotonen Anwendung desselben Rahmens bei. Ein Raum, eine Erfahrung, ein Bewusstsein. Aber nun multiplizieren sich die ‚Räume‘ und mit ihnen spaltet sich die Erfahrung auf: Die Arten zu verstehen müssen sich vervielfachen, das Bewusstsein muss sich weiterentwickeln. Im Besonderen muss eine ‚kopernikanische Revolution‘ der Abstraktion gewagt werden. Da der Geist das Abstrakte nicht mehr vom Konkreten ableitet, da der Geist, im Gegenteil, nun in der Lage ist, das Abstrakte direkt zu bilden, liegt es nahe, der Erfahrung dieses rationale Abstrakte zu unterbreiten; der Geist muss mit einem Wort dazu gebracht werden, die Erfahrung aus neuen, abstrakten Darstellungen zu produzieren. Diese Produktion übertrifft in ihrer Tragweite die mehr oder weniger erweiternde Induktion auf einzigartige Weise, ja sie führt zu einer Umkehrung der Achse der empirischen Erkenntnis.“ (Bachelard 1937: 138-140)[5]

Es fällt auf, dass Bachelard in seinen Formulierungen schwankt: Während er zunächst davon auszugehen scheint, dass die neuen Raumkonzeptionen der Quantenmechanik auf längere Sicht unweigerlich auch den menschlichen Geist neu ,konfigurieren‘ würden, haben die nachfolgenden Formulierungen einen eher kämpferischen Unterton – wenn er beispielsweise fordert, der Geist müsse sich entwickeln und „eine ‚kopernikanische Revolution‘ der Abstraktion gewagt werden“.[6] Nachdem die euklidische Geometrie als Erkenntnismodell über Jahrtausende scheinbar zeitlose Gültigkeit hatte – ihre Sätze, die jedem Laien anschaulich vor Augen geführt werden konnten, galten als absolut evident –, würde die von Bachelard geforderte „kopernikanische Revolution“ einen epochalen Umbruch in der Geschichte des Wissens markieren. Denn die neuen Raumkonzeptionen, die bislang nur wenigen Mathematiker_innen und Physiker_innen vorbehalten waren, würden in Zukunft auch die Denkgewohnheiten und Ausdrucksformen in den anderen Wissenschaften von Grund auf verändern. Die Tatsache jedoch, dass nur wenige Mathematiker_innen und Physiker_innen in der Lage sind, nicht-euklidische Raumkonzeptionen theoretisch zu verstehen, hat zur Folge, dass die neuen Einsichten sich nicht, beziehungsweise viel zu langsam, in den anderen Wissenschaften durchsetzen. Hinzu kommt, dass die Darstellungen und Vergleiche zur Veranschaulichung der mathematischen und physikalischen Thesen oftmals Gefahr laufen, die alte Kontinuitätstheorie (des Raumes) zu reproduzieren. Die Frage lautet also: Wie lassen sich Raumvorstellungen generieren, die mit den höchst abstrakten Einsichten zur Relativität des Raumes in der Mikrophysik korrespondieren und dennoch vermittelbar sind? Welche Möglichkeiten gibt es, den menschlichen Geist daran zu gewöhnen, sich nicht-euklidische, gekrümmte oder mehrdimensionale Räume vorzustellen?

3.  

Ich möchte argumentieren, dass Bachelard in seiner zwanzig Jahre später erschienenen Poetik des Raumes auf diese Problematik zurückkommt und ihr auf neue Weise zu begegnen versucht. Im Gegensatz zu seiner naturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit abstrakten mathematischen Theoremen fokussiert er diesmal auf konkrete künstlerische Raumdarstellungen. Ähnlich wie Maurice Merleau-Ponty (2003), der die Malerei von Paul Cézanne als künstlerischen Versuch interpretiert, einem nicht-euklidischen Raum ein Bild zu geben, meint Bachelard in der Lyrik des neunzehnten Jahrhunderts (allen voran bei Rilke und Baudelaire) und in den surrealistischen Texten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts (unter anderem bei Michaux, Tardieu und Breton) alternative, nicht-euklidische Raumdarstellungen zu erkennen. Sein Anliegen ist es, so meine These, die Fähigkeit seiner Leser_innen, nicht-euklidische Räume wahrzunehmen, durch den Fokus auf poetische Raumproduktionen zu fördern.

Liest man Bachelards Poetik vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit den neuen Raumkonzeptionen der Quantenphysik, so offenbaren sich unterschwellige Verbindungslinien zwischen der Beschäftigung des Autors mit naturwissenschaftlichen Studien und seinem späteren Interesse an der menschlichen Imaginationsfähigkeit. Gegenläufig zu der oftmals erfolgten Gegenüberstellung und mitunter behaupteten Inkompatibilität von Naturwissenschaften und Literatur setzt er die beiden Forschungsbereiche in der Poetik „in einen aktiven Austauschprozess“, bei dem die „Literatur als Ideengeber der Naturwissenschaften“ fungiert „und die Naturwissenschaften als Antrieb der Literatur“ (Günzel 2006: 122). Seine Untersuchungen beschränkt er von vornherein auf den fest umrissenen und auch für Nicht-Physiker_innen nachvollziehbaren Gegenstand der positiven Raumerfahrungen, die Bachelard zufolge eine Art anthropologische Grundkonstante des menschlichen Daseins darstellen:

„Im vorliegenden Buch hat unser Forschungsfeld den Vorzug, genau begrenzt zu sein. Wir wollen nämlich sehr einfache Bilder untersuchen, die Bilder des glücklichen Raumes. Dieser Einstellung gemäß verdienten unsere Forschungen den Namen Topophilie. Sie gehen darauf aus, den menschlichen Wert der Besitzräume zu bestimmen, der gegen feindliche Kräfte verteidigten Räume, der geliebten Räume. Aus Gründen, die oft sehr verschieden sind, und mit den Unterschieden der dichterischen Nuance, sind es gepriesene Räume. Zu ihrem ursprünglichen Schutzwert, der durchaus real sein kann, kommen noch imaginierte Werte hinzu, und diese Werte sind bald die dominierenden Werte. Der von der Einbildungskraft erfaßte Raum kann nicht der indifferente Raum bleiben, der den Messungen und Überlegungen des Geometers unterworfen ist. Er wird erlebt. Und er wird nicht nur in seinem realen Dasein erlebt, sondern mit allen Parteinahmen der Einbildungskraft. Im besonderen [sic] ist er fast immer anziehend. Er konzentriert das Sein im Innern der Grenzen, die es beschützen. […] Diesen Reichtum imaginierten Seins wollen wir erforschen.“ (Bachelard 1987: 25)

Im Gegensatz zu Martin Heidegger, der das Wohnen in seinem 1951 gehaltenen Vortrag „Bauen Wohnen Denken“ als eine allgemeine und bis zu einem gewissen Grad abstrakte metaphysische Kategorie in den Blick genommen hat, versucht sich Bachelard an der ganz konkreten Analyse des Hauses. Er versteht das Haus als einen geschützten Raum, der ontogenetisch in der Kindheit jedes Menschen, zu einer Zeit, in der dieser sein (Selbst-)Bewusstsein gerade erst ausbildet, von zentraler Bedeutung ist. Dieser Bezugspunkt ermöglicht es ihm, die positiven Werte des Raumes herauszustellen, der den Menschen umgibt. Der Mensch werde, so Bachelards programmatische (und durchaus fragliche) Ausgangsthese, in einen behüteten Raum hineingeboren: „Das Leben beginnt gut, es beginnt umschlossen, umhegt, ganz warm im Schoße des Hauses“ (Bachelard 1987: 33), erklärt er und widerspricht mit dieser Formulierung ganz explizit Heideggers Diktum des ‚in-die-Welt-geworfen-Seins‘. Bachelards Analyse der unterschiedlichen Räume frühkindlicher Erfahrung vom Keller bis zum Dachboden, von Nischen, Schränken, Truhen und Schubladen, zielt darauf ab, die jeweiligen Funktionen dieser Räume für die Genese des menschlichen Geistes so konkret wie möglich zu untersuchen. Er versucht in der Poetik, die in L’Expérience de l’espace nur abstrakt formulierte Relation zwischen dem Raum (l’espace), der Erfahrung (l’expérience) und dem Bewusstsein (la raison) genauer zu bestimmen.

Dabei kommt eine Reihe impliziter Vorannahmen ins Spiel, die sich den Leser_innen aufgrund der unsystematischen Darstellungsweise der Poetik oftmals nur zwischen den Zeilen erschließen. Einige Zusammenhänge, mit denen sich Bachelard auf die in den 1950er Jahren in Paris rege geführten psychoanalytischen Diskussionen bezieht, hat er bereits in seinen vorangehenden Schriften zur Imagination entwickelt und erwähnt sie in der Poetik daher eher beiläufig. Sie betreffen vor allem (1) den Status des dichterischen Bildes als autonomes Gebilde, (2) die Rolle der Imagination für die Subjektkonstitution und (3) die anthropologischen Grundbestimmungen zur Relation zwischen dem Subjekt und der es umgebenden Räumlichkeit.

(1) Den Ausgangspunkt für die Poetik bildet Bachelards Faszination für den „wahrhaft unerwarteten Charakter des [dichterischen] Bildes“ (1987: 8) und dessen Wirkungsmacht: „In seiner Neuheit, in seiner Aktivität, besitzt das dichterische Bild ein eigenes Wesen, eine eigene Dynamik. Es beruht auf einer direkten Ontologie. An dieser Ontologie wollen wir arbeiten“ (1987: 8), proklamiert er gleich zu Beginn seiner Studie.

Bachelard geht in der Poetik von einer absoluten Autonomie des Bildlichen aus. Im Gegensatz zu einer philosophischen Idee lasse sich ein poetisches Bild nicht kausal erklären und besitze insofern keine Vergangenheit, „zumindest keine nahe Vergangenheit, in deren Verlauf seine Vorbereitung und seine Heraufkunft verfolgt werden könnte“ (1987: 7-8). Das Bild sei weder subjektiv noch objektiv, es bilde nichts ab, sondern eröffne vielmehr in seinem „plötzliche[n] Hervortreten“ (1987: 7) eine neue Perspektive auf eine mögliche Zukunft.

In seiner Konzeption des poetischen Bildes beruft sich Bachelard auf die Theorie des „Widerhalls“ (le retentissement), die der russisch-französische Psychiater und Phänomenologe Eugène Minkowski in seiner 1936 erschienenen Studie Vers une cosmologie entwickelt hat.[7] Minkowski versteht unter dem Widerhall ein vorrangig (aber nicht ausschließlich) akustisches Phänomen, bei dem sich das Subjekt derart von seiner Umwelt erfüllen lässt, dass es gewissermaßen zu ihrem Resonanzkörper wird:

„Der Widerhall ist also viel ursprünglicher als die Gegenüberstellung von Ich und Welt, wie sie die Psychologie üblicherweise vornimmt. Er ist beiden Seiten eigen, und da wo man von einer solchen Gegenüberstellung ausgeht, vereint er sie in ein und derselben Bewegung. Wir erleben, wie sich eine Melodie, eine Symphonie, ja wie sich ein einzelner Ton – vor allem wenn er erhaben und tief ist – in uns ausdehnt, wie er bis in die Tiefe unseres Seins vordringt, mit uns mitschwingt und tatsächlich, gleich einer Welle der Zuneigung, in uns widerhallt.“ (Minkowski 1936: 106)[8]

Minkowski zufolge ermöglicht der „Widerhall“ einen ‚ursprünglichen‘ Zugang zum menschlichen Dasein, den es zu intensivieren beziehungsweise zu reaktivieren gilt, um eine alternative Heilungsmöglichkeit für schizophren erkrankte Patient_innen zu erforschen, denen mit den sprachlich basierten Ansätzen der Psychoanalyse meist nicht zu helfen ist. Wenn sich diese auf das Phänomen des Widerhalls einließen, so Minkowski, könnten sie ursprüngliche, harmonische Formen eines Weltzugangs diesseits von sprachlichen Zuschreibungen und Vorstellungen erproben und von ihren Störungen geheilt werden.

Ich möchte behaupten, dass Bachelard an Minkowskis (quasi-metaphysisches) Sympathiekonzept anschließt, um anhand des dichterischen Bildes ähnliche Formen eines alternativen affektiven Weltverhältnisses zu erkunden. Denn im dichterischen Bild, wie Bachelard es versteht, kommt ein ähnlich ‚ursprüngliches‘ räumliches Verhältnis zum Ausdruck wie es in Momenten des „Widerhalls“ erlebt wird. „In diesem Widerhall“, so erklärt Bachelard in Anlehnung an Minkowskis Theorie, „bekommt das dichterische Bild eine Klangfülle des Seins. Der Dichter spricht an der Schwelle des Seins.“ (1987: 8) Bachelard zufolge entsteht das dichterische Bild im Moment der rêverie, der „kreativen Träumerei“. Die Einzigartigkeit und Neuheit, die in solchen Momenten zum Ausdruck kommt, könne eine Intensität entfalten, so Bachelard, die die Subjekt-Objekt-Relation, welche unser Denken sonst bestimmt, außer Kraft zu setzen vermag: „Auf der Ebene des dichterischen Bildes wird die Dualität von Subjekt und Objekt in schillernden Spiegelungen gebrochen und unaufhörlich in ihren Umkehrungen wirksam.“ (1987: 10) Gelingt es den Leser_innen, sich beim Lesen eines poetischen Textes (wie der Dichter während des Schaffensprozesses) in den Zustand der kreativen Träumerei zu versetzen, so wird es ihnen möglich, diesen anderen Zugang zur Welt zu erfahren, sich von den „zweckgebundenen geometrischen Systemen [zu] befreien“ (Bachelard 1987: 72) und damit auch den ersehnten neuen Zugang zum Raum zu gewinnen. In der ekstatischen Hingabe an das dichterische Bild kann der schöpferische Zugang zum Sein von den Leser_innen nachempfunden werden – vorausgesetzt, diese sind in der Lage, sich völlig unvoreingenommen auf die besondere Ontologie des Bildes einzulassen. „[…] die Phänomenologie der Einbildungskraft verlangt, daß man die Bilder erlebt“, schreibt Bachelard, „daß man die Bilder als jähe, unvermittelte Ereignisse des Lebens nimmt. Wenn das Bild neu ist, dann ist die Welt auch neu.“ (1987: 68)

Bachelards Herleitung des poetischen Bildes aus der kreativen Träumerei erinnert an Ludwig Binswangers Schrift Traum und Existenz von 1930, die 1954, drei Jahre vor Erscheinen von Bachelards Poetik des Raumes, mit einer ausführlichen „Einführung“ von Michel Foucault in Frankreich veröffentlicht worden war.[9] Foucault spricht hier von der „anthropologische[n] Bedeutung des Traumes“ (2001: 144), den er im Rekurs auf philosophische Konzeptionen von Spinoza bis Wittgenstein als eine „absolut besondere Erfahrungsform“ (2001: 125) und eine „konkrete Form der Offenbarung“ (2001: 128) bezeichnet:

„Es ist nicht möglich, auf den Traum die klassischen Dichotomien der Immanenz und der Transzendenz, der Subjektivität und der Objektivität anzuwenden; die Transzendenz der Traumwelt [...] lässt sich nicht in der Begrifflichkeit einer Objektivität definieren, und vergeblich würde man sie im Namen ihrer ,Subjektivität‘ auf eine mystifizierte Form von Immanenz zurückführen wollen. [...] Die Kosmogonie des Traumes ist der Ursprung der Existenz selbst.“ (Foucault 2001: 137)

Vor dem Hintergrund von Minkowskis und Foucaults Überlegungen wird verständlich, warum Bachelard immer wieder von einer „direkten Ontologie“ (1987: 8) des dichterischen Bildes spricht. Beide Autoren interessieren sich für „ursprüngliche […] Formen des Denkens“ (Foucault 2001: 107). Während Minkowski für den ursprünglichen Zugang zur Existenz die affektive Ebene stark macht, betont Foucault die Bedeutung imaginativer Prozesse für das Verständnis existenzieller Strukturen des menschlichen Daseins. In seiner „Einführung“ erwähnt der junge Foucault auch die Rolle der Dichtkunst: Die „,Dichtkunst‘ […] lehrt, wie man die Faszination der Bilder zerbricht, um der Imagination wieder einen freien Weg hin zu dem Traum zu eröffnen, der ihr als absolute Wahrheit ihren ,unzerbrechlichen nächtlichen Kern‘ darbietet“ (2001: 172). Drei Jahre später wird Bachelard das poetische Bild aus der kreativen Träumerei hervorgehen lassen, die mit den „Träumen der Nacht“ (1987: 36) korrespondiert.[10] Zugleich wird er (mit Minkowski) die affektive Wirkung des poetischen Bildes hervorheben.

Doch wie verhalten sich poetische Bilder im Allgemeinen zu den poetischen Bildern des Hauses, die im Zentrum der Poetik stehen? Bachelard gesteht ein, dass die Wahl dieses Gegenstandes irritieren mag:

„Im ganzen [sic] ist die Diskussion unserer Thesen auf einen Boden gestellt, der uns ungünstig ist. Das Haus ist allerdings zunächst einmal ein Objekt für die Geometrie. Man ist versucht, es rational zu analysieren. Seine erste Wirklichkeit ist sichtbar und greifbar. Es ist aus genau zugeschnittenen festen Körpern gemacht, aus sorgfältig zusammengesetzten Balken. Die gerade Linie ist vorherrschend. Das Bleilot hat ihm das Merkmal seiner Weisheit, seines Gleichgewichts gegeben. Ein solches geometrisches Objekt sollte eigentlich den Metaphern widerstreben, die den menschlichen Körper, die menschliche Seele aufnehmen.“ (1987: 68)

Die besondere Bedeutung des Hauses liegt für Bachelard in der Tatsache begründet, dass das menschliche Dasein fundamental auf die frühkindliche Erfahrung einer behütenden Räumlichkeit angewiesen ist, um die Vorstellung einer „beschützte[n] Innerlichkeit“ (1987: 30) zu entwickeln. Das Haus stellt für ihn einen „Raum des Trostes und der Intimität“ (1987: 68) dar und wirkt als „eine der großen Integrationsmächte“ (1987: 33) für die Gedanken, Erinnerungen und Träume des Menschen. Anders – aber nicht minder metaphorisch – ausgedrückt: Das Haus gibt der „weiche[n] Materie der Innerlichkeit“ eine „Form“ (1987: 69), ohne die der Mensch „ein verstreutes Wesen“ (1987: 33) wäre. An dieser Stelle kommt die Rolle der Imagination ins Spiel.

(2) Bachelard betont in seiner Studie mehrfach, der Raum werde „nicht nur in seinem realen Dasein“ erlebt, „sondern mit allen Parteinahmen der Einbildungskraft“ (1987: 25) wahrgenommen. Diese Aussage kann mit zeitgenössischen psychoanalytischen Diskussionen der 1950er Jahre über die Imagination als zentrale Komponente bei allen Akten der Subjektkonstitution in Verbindung gebracht werden, die vor allem an Jacques Lacans berühmten, bereits 1936 gehaltenen Vortrag „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“ anknüpften.[11] Da das Ich, das sich im Spiegelstadium konstituiert, letztlich auf einem Bild basiert, ist für Lacan die ganze Sphäre des Bildhaften – die er mit dem Begriff des Imaginären bezeichnet – für die Subjektbildung zentral. Ähnlich wie Lacan weist auch Bachelard den imaginativen Kräften eine besondere Bedeutung für die Subjektkonstitution zu. Während Lacan in seiner Spiegeltheorie auf die imaginäre Erfahrung der Ganzheit des Individuums und die mit ihr zusammenhängende Trennung von der zuvor als verbunden empfundenen Außenwelt abhebt, fokussiert Bachelard in der Poetik auf den anthropologischen Zusammenhang zwischen dem schützenden Raum des Hauses und den imaginativen Fähigkeiten des Kindes. Die bildgebenden Eigenschaften des Hauses (wie auch anderer Geborgenheitsräume) führen Bachelard zufolge dazu, dass das Kind im Zuge seiner frühkindlichen Selbstkonstitution positive Gefühle von Geborgenheit imaginiert und als eine Art psychische Disposition ausbildet. Bachelards grundlegende Prämisse besagt, dass der Mensch die räumliche Erfahrung des Hauses im positiven Sinne in seine Selbstkonstitution integriert und mithilfe der Einbildungskraft – gewissermaßen in Analogie zu den als schützend erfahrenen Grenzen des Hauses – die Vorstellung von sich selbst als einem abgegrenzten und behüteten Ich mit einer räumlich verstandenen Innerlichkeit entwickelt: „Überall im Laufe unseres Werkes werden wir sehen, wie die Einbildungskraft in diesem Sinne arbeitet, wenn das Sein die geringste Zuflucht gefunden hat“, heißt es in der Poetik, „wir werden sehen, wie die Einbildungskraft ,Mauern‘ aus ungreifbaren Schatten baut, wie sie sich mit Illusionen von Umhegtsein stärkt“ (1987: 32).

(3) Die Rolle, die dem das Subjekt umgebenden Raum bei der Ausbildung von Innerlichkeit im Zuge der Selbstkonstitution des Ichs zukommt, lässt sich Bachelard zufolge besonders gut anhand poetischer Texte untersuchen, die sich dem Haus und anderen räumlichen Behältnissen wie Nestern, Muscheln, Schubladen, Truhen und Schränken widmen. Da das dichterische Bild des Hauses der „reinen Einbildungskraft“ (Bachelard 1987: 15) entspringt, die wie die frühkindliche Selbstkonstitution und wie das von Minkowski beschriebene Phänomen des Widerhalls vorbegrifflich operiert, können im Bild des Hauses Formen einer unmittelbaren, nicht diskursivierten Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Raum zum Ausdruck kommen. Sie werden denjenigen Leser_innen, die sich von der Intensität des poetischen Bildes affizieren lassen, (wieder) erfahrbar. Im affektiven Erlebnis der dichterischen (Raum-)Bilder soll letztlich – und das ist gewissermaßen der Fluchtpunkt der Poetik – ein Raumerlebnis in Gang gesetzt werden, das den Erkenntnissen der neueren Mikrophysik über nicht-euklidische Räume gerecht wird. Bachelard versucht, mit dem raumanthropologischen Ansatz der Poetik die Leerstelle aus L’Expérience de l’espace von 1937 neu und anders zu füllen und entwickelt ein Verfahren, das auf das Ziel der „kopernikanischen Revolution“ hin ausgerichtet bleibt. Doch anders als zwanzig Jahre zuvor schlägt er diesmal den umgekehrten Weg ein: In der Poetik beruft sich Bachelard nicht mehr auf mathematische und physikalische Abstraktion, um neue Raumerfahrungen anzuregen, sondern auf künstlerische Konkretion.

Unklar bleibt freilich, auf welche Weise der vorsprachliche Prozess, bei dem das Subjekt anhand des ihn umgebenden Raumes erste Vorstellungen von Innerlichkeit entwickelt, mit der Sprachlichkeit des dichterischen Bildes zusammengedacht werden kann. Möglicherweise hat Bachelard (mit Roman Jakobson) schlichtweg vorausgesetzt, dass die Poetizität des dichterischen Bildes die Regeln normaler Alltagssprache zu überwinden vermag und nicht mit ihr in eins gesetzt werden kann – er äußert sich hierzu jedoch nicht explizit. Mit seiner Theorie, die Bachelard in Anlehnung an Minkowski eine „Anthropo-Kosmologie“ (1987: 68) nennt, zielt er auf die großen Zusammenhänge, die bereits 1937 in der zuvor zitierten kryptischen Formulierung „Ein Raum, eine Erfahrung, ein Bewusstsein“ aus L’Expérience de l’espace anklangen. Dass die theoretischen Feineinstellungen bei seiner Analyse der grundsätzlichen Auswirkungen der Raumerfahrung auf den menschlichen Geist mitunter ins Hintertreffen geraten, nimmt er in Kauf. Denn letztlich geht es Bachelard um eine allgemeine raumanthropologische Grundbestimmung des menschlichen Daseins. Er hat nichts Geringeres zum Ziel, als „darüber Rechenschaft ab[zulegen], daß der Kosmos den Menschen formt“ und „daß das Haus den Menschen verwandelt“ (Bachelard 1987: 68).

4.

Inwiefern lassen sich nun die raumanthropologischen Überlegungen Bachelards für zeitgenössische Diskussionen fruchtbar machen? Welche Aspekte eignen sich, um an sie anzuknüpfen und sie kritisch weiterzuentwickeln?

Der Beitrag von Jan S. Hutta leistet in meinen Augen eine kritisch-produktive Auseinandersetzung mit Bachelard, wie sie im deutschsprachigen Raum bisher kaum stattgefunden hat. Hutta beschäftigt sich in seinem aktuellen Forschungsprojekt mit Formen „subjekt-räumlicher Relationalität“ und sucht nach Erklärungsansätzen, denen es gelingt, das ihm zufolge in sozialwissenschaftlichen Ansätzen bis heute weitgehend unterbelichtete komplizierte Wechselverhältnis zwischen Raum- und Subjektkonstitution zu erhellen. Um Bachelards Überlegungen für sich fruchtbar zu machen, unterzieht er die Poetik zunächst einer „grundlegenden Demontage“ und versucht abzustreifen, was er die „humanistisch-essentialisierenden Züge“ Bachelards nennt. Daran anschließend überführt er die Impulse, die ihn an Bachelards ,Theorie‘ interessieren, in seine Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Geborgenheit“.

Hutta interessiert sich vor allem für die erfahrungsgenerierende Kraft des poetischen Bildes bei Bachelard und betrachtet dieses als Produkt einer generativen Phase, in der die wechselseitige Hervorbringung von Raum und Subjektivität – oder, in Huttas Worten, die „Konstitution von Subjektivität-im-Raum“ – beobachtbar wird. In seiner affekttheoretischen Deutung Bachelards korreliert Hutta dessen Überlegungen zum poetischen Bild mit neueren nicht-repräsentationalen Ansätzen von Deleuze und Massumi. So kann er das poetische Bild als eine „verdichtete Form räumlicher Intensitäten“ begreifen, die ereignishafte, erfahrungsgenerierende affektive Momente von besonderer Intensität entfalten kann. Mit seiner abschließenden Analyse der Werke der australischen Künstlerin Patricia Piccinini rückt Hutta die affektiven Dimensionen von Kunst in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Er deutet die paradoxen Wirkungen von Piccininis Skulpturen in Anlehnung an Bachelard als affektive Intensivierungen von gegenläufigen Prozessen im Betrachter, die zu einer verstörenden „Subjektivität-im-Raum“ führen.

Hutta begreift das poetische Bild bei Bachelard als einen künstlerischen Zugang zur Welt, der ebenso wie in der Literatur auch in den bildenden Künsten zum Ausdruck gebracht und den jeweiligen Rezipient_innen eröffnet werden kann. Die besondere Sprachlichkeit des poetischen Bildes spielt für ihn dabei ebenso wenig eine Rolle wie Bachelards Bezugnahme auf die Entdeckung und Erforschung nicht-euklidischer Räume in der modernen Physik. Zwar stimmt Hutta mit Bachelard darin überein, dass wir die Erfahrung des poetischen Bildes nicht auf soziale oder subjektive Determinierungsmechanismen reduzieren sollten, andererseits jedoch fordert er von Bachelards Überlegungen eine stärkere gesellschaftlich-historische Verankerung. Diese ließe sich im Anschluss an Benjamins dialektische Bilder entwickeln, so gibt Hutta zu verstehen – eine interessante Idee, die er leider nicht weiter ausführt. Denn in der Tat ließen sich Benjamins Miniaturen über die Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, die historisch konkret zu verorten sind und die eigene historische Situiertheit kontinuierlich reflektieren, für eine differenzierte historisierende Betrachtung produktiv machen, schließlich behandeln sie eben die frühkindliche Raumwahrnehmung, die Bachelard so interessiert.[12]

Im Beitrag von Thomas Dörfler gerät die konkrete Lektüre von Bachelards Poetik angesichts eines Rundumschlags gegen den Poststrukturalismus, die Postmoderne und den Konstruktivismus etwas in den Hintergrund. Obgleich Dörflers Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung des Leiblichen zuzustimmen ist, scheint mir, dass er mit seiner allzu pauschalen Kritik an den genannten evil theories über das Ziel hinausschießt und letztlich nicht deutlich machen kann, ob und – wenn ja – weshalb er die Auseinandersetzung mit der Poetik empfiehlt. Anders als Dörfler bin ich der Meinung, dass es sinnvoll ist, Bachelard vor dem Hintergrund der poststrukturalistischen und konstruktionistischen Einsichten der letzten vier oder fünf Dekaden neu zu lesen. Denn interessant wird die Relektüre der Poetik in meinen Augen erst dann, wenn man Bachelards Überlegungen, die auf radikale Weise von einer subjektiven Perspektive ausgehen, mit den eher subjektvergessenen poststrukturalistischen Theorien korreliert – und zwar mit dem Ziel, alternative Beschreibungen jenseits altbekannter Grabenkämpfe zu ermöglichen.

Ein solcher Ausweg deutet sich im Beitrag von Stephan Günzel an. Denn das Besondere an Bachelard liegt Günzel zufolge darin, dass er die im Anschluss an Descartes in der Philosophie oftmals unhinterfragt übernommene Unterscheidung zwischen einer im Inneren des Subjekts angesiedelten res cogitans und der außerhalb des Subjekts befindlichen res extensa zu unterlaufen versucht. Günzel betont, dass sich die von Bachelard untersuchten literarischen Raumbilder primär aus der ‚Erfahrung‘ ableiten und daher jenseits der philosophischen Leitdifferenz zwischen Innen und Außen zu verorten sind. Zwar bezweifle ich, dass sich der Begriff der ‚Erfahrung‘ eignet, um ein Weltverhältnis jenseits der traditionellen Innen/Außen-Dichotomie zu begründen, doch würde auch ich Bachelards Poetik als Versuch deuten, Descartes’ folgenreiche philosophische Unterscheidung zu überwinden.[13] Ich glaube aber, dass Bachelard hierfür im Anschluss an Foucaults Binswanger-Diskussion bewusst sein Konzept der ‚kreativen Träumerei‘ entwickelt hat, das in seinen komplexen Anleihen auf den philosophisch traditionsreichen Begriff des ‚Traumes‘ für die Begründung eines solchen alternativen Weltverhältnisses einstehen sollte. Geht man mit Pravica davon aus, dass Bachelard im Rahmen seiner wissenschaftstheoretischen Überlegungen einen neuen tentativen Zugang zur Welt erproben möchte, so lässt sich seine Auseinandersetzung mit der Literatur zugleich als Versuch deuten, sich für die Entwicklung dieses neuen Zugangs deren experimentelle Beschreibungsformen zu eigen zu machen. Da die kontraintuitiven nicht-euklidischen Geometrien kaum zu veranschaulichen sind und sich dem Vorstellungsvermögen weitgehend entziehen, bedarf es einer besonderen Form der Vermittlung, um diese Raumstrukturen denkbar werden zu lassen. Es verwundert nicht, dass Bachelard in der Poetik vor allem auf Lyrik zurückgreift, die die Zeit-Raum-Relationen auf besondere Weise zu verdichten weiß.

Es handelt sich bei Bachelards Herangehensweise keineswegs um einen Rückfall in eine neue Form des Essentialismus, wie es Huttas Anschuldigung nahelegt, Bachelard mache von einem „essentialistisch getönten Raumbegriff“ Gebrauch. Wenn Bachelard jedes dichterische Bild als singulär begreift, so bedeutet dies, dass das dichterische Bild nicht essentialistisch, sondern, ganz im Gegenteil, differenztheoretisch gedacht werden muss. Die Pointe – und zugleich die Hauptschwierigkeit – seiner Konzeption besteht in meinen Augen vielmehr darin, dass er einem derart flüchtigen und kaum zu fassenden Phänomen wie dem poetischen Bild dennoch eine Art ,ontischen Status‘ zuzusprechen versucht.

Viele der anderen Kritikpunkte, die Hutta an Bachelards „ontologischem Okular“ anführt, sind natürlich gerechtfertigt. Bachelard argumentiert in der Poetik nicht historisch, sondern universalistisch. Er liest, wie Hutta bemängelt, in der Tat nur weiße männliche Autoren und erweist sich insofern vielleicht nicht als besonders progressiver Theoretiker (diese Kritik würde jedoch ebenso auf Lacan, Foucault oder Deleuze zutreffen). Auch fällt es schwer, darüber hinwegzusehen, dass der Prototyp des ‚Hauses‘, das Bachelard in der Poetik vor Augen steht, das Landhaus einer gutsituierten bürgerlichen französischen Familie zu sein scheint – ein Haus, das Erinnerungen ermöglicht, welche bei weitem nicht jedermann zur Verfügung stehen. Die Beschränkung auf das Haus erweist sich ohnehin als problematisch: Landschafts- und Stadträume, denen bei der Ausbildung positiver Gefühle im Zuge der Selbstkonstitution ebenfalls eine wichtige Rolle zukommen kann, werden von Bachelard nicht berücksichtigt. Und auch wenn man wie Anthony Vidler die von Bachelard angeführten Hausbeispiele als Sehnsuchtsbilder begreift – als nostalgische Reaktion auf die Erfahrung einer um sich greifenden „unhomeliness“ (Vidler 1992: 64) in der Moderne –, so schleicht sich doch in manchen Formulierungen der Eindruck einer nostalgischen Rückwärtsgewandtheit ein.

Liest man Bachelard hingegen mit Blick auf sein Anliegen, die mit der euklidischen Geometrie verbundenen repräsentationalen Begrifflichkeiten zu unterlaufen, so offenbart sich hinter dem Hang der Poetik zum Heimelig-Nostalgischen ein ungleich radikalerer theoretischer Zug zum Offenen und Gewagten. Bachelards Auseinandersetzung mit poetischen Bildern will uns bewusst machen, wie stark wir in unserer Raumwahrnehmung von der euklidischen Geometrie und von Kontinuitätstheoremen beeinflusst sind und wie schwer es uns fällt, diese zu überwinden. Ist man bereit, die ,geometrische Brille‘ bei der Lektüre der Poetik zumindest versuchsweise abzustreifen, so lassen sich Leseerfahrungen machen, die das Vorstellungsvermögen von nicht-euklidischen Räumen durchaus befördern können. Hierfür jedoch muss man sich als Leser_in, ähnlich wie es Minkowski in Vers une cosmologie beschrieben hat, in einen ‚mitschwingenden‘ Lesemodus begeben und die eigene begrifflich operierende analytische Beobachterposition bis zu einem gewissen Grad suspendieren. Es ist nicht zuletzt der Problematik dieses Unternehmens geschuldet, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Poetik bis heute so große Schwierigkeiten bereitet.

Als Literaturwissenschaftlerin kann ich Bachelards Herangehensweise einiges abgewinnen. In zahlreichen literarischen Werken besonders des späten neunzehnten und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts lassen sich Versuche ausmachen, die Beschränkungen der menschlichen Wahrnehmung aufzuheben und mit neuen Raumlogiken zu experimentieren. In Texten von Robert Musil, Franz Kafka oder Virginia Woolf beispielsweise werden mithilfe von neuen Erzählperspektiven, syntaktischen Konstruktionen und Metaphern verschiedene neue Erzählformen erprobt, die einer dreidimensionalen Raumlogik zuwiderlaufen. Produktiv an Bachelard anzuschließen hieße für mich, diese und andere literarische Texte genauen Analysen zu unterziehen, um die jeweiligen poetischen Verfahren zur Generierung neuer Raumlogiken möglichst genau zu bestimmen. Auf diese Weise wird es möglich, dem komplexen Zusammenhang zwischen der Hervorbringung von Raummodellen und der Verwendung bestimmter Erzählperspektiven, Narrative und Metaphern nachzuspüren. Eine solche Analyse kommt problemlos ohne den Bezug auf eine ‚direkte Ontologie‘ aus. Ihr Ziel bestünde darin, die Bedeutung von metaphorischen Ausdrucksformen und von perspektivischen Einstellungen für unsere Raumproduktion zu betonen – und auf die besondere Rolle hinzuweisen, die der Literatur in diesem Prozess zukommt.

Endnoten

Autor_innen

Julia Weber ist Literaturwissenschaflerin mit Schwerpunkten in der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft.

julia.weber@fu-berlin.de

Literatur

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