Mächtiger Boden. Essay über den Versuch, einen Staatsapparat zu erlaufen

Marie Luise Birkholz

Gerade der städtische Boden, den jeder Bewohner und jede Bewohnerin tagtäglich mit all ihrem Gewicht begehen oder befahren, besitzt wissenschaftlich ein ausgesprochen dünnes Fundament. Das diesem Text zugrunde liegende Forschungsvorhaben thematisiert die Art und Weise des gestaltgebenden politischen Kontexts horizontaler Architekturen. Wie formt die Intentionalität deutscher Stadt- und Bundespolitik die Gestaltung von Böden auf repräsentativen Plätzen? Die Analyse setzt bei der Größendimension von Oberflächentextur, Fugenformation und Kantenqualität an. Das in der Urbanistik institutionalisierte Forschungsvorhaben verortet sich methodisch interpretativ-qualitativ im Feld der Kulturwissenschaften. 2014 ermöglichten der DAAD und die Bauhaus-Universität Weimar der Autorin einen Forschungsaufenthalt in Brasilien. Im Vorfeld wurde die Bodengestaltung zwischen dem Amt der Kanzlerin und dem Haus der Parlamentarier in Berlin untersucht, die offiziell nicht als Platz, sondern als öffentliche Grün- und Erholungsanlage gewidmet ist. Als Pendant fiel die Wahl des Reiseziels auf den Praça dos Três Poderes (Platz der drei Gewalten), der in Brasília vom Präsidialpalast und dem Höchsten Gericht eingefasst wird.

29.10.2014, Brasília

Ich lande, finde den Bus und schließe Bekanntschaft mit Raul, dessen Geburtsstadt Brasília ist. Der Flughafentechniker kann also nicht über 55 Jahre alt sein, denn erst so kurz existiert Brasiliens Hauptstadt hier, im Landesinneren. Er beginnt zu schwärmen: Brasília sei wunderschön! Gerade fange die Regenzeit an und die Flammenbäume blühten – rot blühende Bäume, deren Blütenblätter die Krone zieren und gleichzeitig wie ein roter Schatten auch den Boden bedecken (Abb. 1). Die verschiedenen Farben der Blüten zeigten die Zeit des Jahres an. Brasília sei wunderschön – seine Begeisterung steckt mich unmittelbar an, denn sie kommt vollkommen unerwartet. Ich war hier gelandet, konzentriert auf die Architektur und die Bodengestaltungen und innerlich gewappnet gegenüber einer eher unwirtlichen Stadt. Freund_innen und Kolleg_innen hatten ambivalent über mein Reiseziel berichtet. Ich würde vor allem viel Rasen sehen, war die Prophezeiung. Die Stadt sei „interessant“ – aber ein einziger Besuch hätte ihnen gereicht.

Abb. 1 Brasília ist wunderschön (Quelle für alle Abbildungen außer Abb. 2 und 3: Eigene Fotos Marie Luise Birkholz) Abb. 2 Square of the Three Powers, Autor: Mário Fontenelle 1957 (fotografiert von Marie Luise Birkholz im Espaço Cultural Lúcio Costa)
Abb. 1 Brasília ist wunderschön (Quelle für alle Abbildungen außer Abb. 2 und 3: Eigene Fotos Marie Luise Birkholz)
Abb. 2 Square of the Three Powers, Autor: Mário Fontenelle 1957 (fotografiert von Marie Luise Birkholz im Espaço Cultural Lúcio Costa)

Die Anzahl der Stunden, die der Arbeitsweg einer Person in Brasília in Anspruch nimmt, und der Kontostand dieser Person seien immer genau entgegengesetzt, erklärt Raul. Wir durchfahren diese flache Stadt, deren Weite am Flughafen, im Botschaftsviertel und auch im Stadtzentrum spürbar ist. Mit Nachdruck regt Raul einen Besuch der Kathedrale an – Platzgestaltungen empfiehlt er nicht. Ich achte darauf, denn ich war angereist, um mir die horizontale Gestaltung im Regierungsviertel und den Platz der drei Gewalten anzusehen.

Vor 55 Jahren noch breitete sich hier der Cerrado – die Savanne – aus (Abb. 2). Wie würde das politische Zentrum eines Landes gestaltet worden sein an einem Ort, an dem es für diese Gestaltung keinerlei physische Grundlage gab – außer Sand? Warum war mir in persönlichen Gesprächen vor allem von Rasenflächen erzählt worden, obwohl die Reiseführer ausführlich von Oskar Niemeyers Bauten berichten? Welchen Stellenwert würden öffentliche Plätze besitzen in einer Stadt, die nach wie vor kritisch als Autostadt charakterisiert wird? Konnte mir die Gestaltung dieses Regierungssitzes etwas über die des Regierungssitzes in Berlin verdeutlichen? Ich verabschiede mich von Raul, steige auf der Eixo Monumental, der zentralen Ost-West-Achse Brasílias, aus dem Bus und beginne – zu laufen.

Planhauptstadt in der Savanne

Die Planhauptstadt Brasília wurde am 21. April 1960 eröffnet und liegt wie eine Markierung, wie ein Kreuz in der Mitte dieses aus europäischer Perspektive riesigen Landes (Abb. 3). Brasília ist eine Hauptstadt vom Reißbrett, deren Regierungsviertel sich entlang einer ungefähr neun Kilometer langen Hauptachse ausbreitet. Diese Eixo Monumental bildet mit der gebogenen Eixo Rodoviário de Brasília ein Kreuz, das, wie landläufig behauptet wird, aus der Luft wie ein Flugzeug aussieht. Die Interpretation gründet auf der Bezeichnung Plano Piloto, die der Architekt Lúcio Costa ungefähr 1957 an seinen Entwurf der Hauptstadt geschrieben hatte. Der Platz der drei Gewalten, das Ziel meines Ausflugs, ist auf dem Plan der Bug des Flugzeugs. Er liegt gemeinsam mit dem Kongress einzig und allein auf der ansonsten durch Rasen bedeckten Achse, die von zwei jeweils sechsspurigen Einbahnstraßen längsseitig flankiert wird. Rechts und links reihen sich sämtliche Ministerien aneinander, am Bug jeweils flankiert durch den Präsidialpalast und das Höchste Gericht. Dieser Bug liegt geografisch erhöht auf einem Plateau.

Abb. 3 Plano Piloto, Autor: Lúcio Costa (fotografiert von Marie Luise Birkholz im Espaço Cultural Lúcio Costa)
Abb. 3 Plano Piloto, Autor: Lúcio Costa (fotografiert von Marie Luise Birkholz im Espaço Cultural Lúcio Costa)

Rasen und Laufen

Ich möchte nicht Auto fahren, da mein Ziel die Feldforschung ist und ich den Boden nur zu Fuß gut im Blick habe. Den vollen und lauten Busbahnhof im Rücken, erstreckt sich vor mir die endlos weite und vollständig leere Rasenfläche der Monumentalachse (Abb. 4). Die Fläche besitzt weder sichtbare Begrenzungen noch Wege oder Unterbrechungen. Um der Orientierung willen wähle ich schließlich einen asphaltierten schmalen Weg am Rand, der sich später als Radweg entpuppt. Das sandige Rot der Savanne scheint durch das trockene Grün des Rasens hindurch. Die Regenzeit fängt gerade erst an. All die noch im Flugzeug betrachteten Pressefotografien, auf denen saftig dichter Rasen dominierte, wurden offensichtlich erst am Ende dieser Regenzeit aufgenommen. Ich laufe und laufe geradeaus und gleiche gedanklich Fotografien mit dem ab, was ich sehe, und Erzähltes mit Aufgeschriebenem. Die Rasenfläche wirkt so wenig einladend, dass ich sie vergesse, nur laufe und gedanklich abschweife. Ihre Monotonie, das gleichbleibende rötliche Grün, die identische Rasenhöhe, also die unveränderte Qualität dieser Monokultur langweilen mich. Sie sorgen dafür, dass ich das Areal gern und dringend hinter mich bringen würde. Ich denke an den Hinweis, dass ich in Brasília vor allem Rasen sehen würde, und wundere mich über diese schnelle Beweisführung.

Die Fläche hier besitzt trotz ihrer Trockenheit eine besondere Qualität, denn sie zeigt keinerlei Fugen. Der Rasen, den ich bisher in Brasilien beobachten konnte, war verlegt. Fertigrasenquadrat an Fertigrasenquadrat bedeckte die Flächen um Brücken, Shoppingcenter, Kreuzungen und dergleichen mehr. Dieses laut meiner Beobachtung typisch brasilianisch-alltägliche visuelle Phänomen sandig-rötlicher Zwischenräume, wo eine vertrocknete Fertigrasenkachel auf die jeweils benachbarte trifft, fehlt hier. Ein Urbanist aus Belo Horizonte spricht davon, dass der Rasen Teil eines „aesthetic war“ sei. Die Rasenkacheln, deren vier Ecken sich vor Trockenheit bald in die Höhe bögen, würden verlegt, aber nicht bewirtschaftet. Plätze würden im Moment ihrer Gestaltung einladend präpariert, doch die verbauten Materialien – und so zum Beispiel kurzlebiger und schlecht gepflegter Rasen – besäßen eine Verfallszeit von oft nur zwei bis drei Jahren. Dieser Umstand sorge dafür, dass nach Ablauf der Zeitspanne keiner der Plätze mehr die Qualität besitze, die zum Verweilen einladen würde.

29.10.2014, Brasília

Ich lande, finde den Bus und schließe Bekanntschaft mit Raul, dessen Geburtsstadt Brasília ist. Der Flughafentechniker kann also nicht über 55 Jahre alt sein, denn erst so kurz existiert Brasiliens Hauptstadt hier, im Landesinneren. Er beginnt zu schwärmen: Brasília sei wunderschön! Gerade fange die Regenzeit an und die Flammenbäume blühten – rot blühende Bäume, deren Blütenblätter die Krone zieren und gleichzeitig wie ein roter Schatten auch den Boden bedecken (Abb. 1). Die verschiedenen Farben der Blüten zeigten die Zeit des Jahres an. Brasília sei wunderschön – seine Begeisterung steckt mich unmittelbar an, denn sie kommt vollkommen unerwartet. Ich war hier gelandet, konzentriert auf die Architektur und die Bodengestaltungen und innerlich gewappnet gegenüber einer eher unwirtlichen Stadt. Freund_innen und Kolleg_innen hatten ambivalent über mein Reiseziel berichtet. Ich würde vor allem viel Rasen sehen, war die Prophezeiung. Die Stadt sei „interessant“ – aber ein einziger Besuch hätte ihnen gereicht.

Abb. 4 Abb. 5
Abb. 4, Abb. 5

Auf der Monumentalachse ist der Rasen angewachsen. Ein anderer Gedanke amüsiert mich: dass Bauherren eine Monumentalachse planen, bauen, sie mit der Zuschreibung „monumental“ betiteln und gleichzeitig beschließen, sie – in einer Savannenlandschaft – mit Rasen zu belegen. Die prophezeite Aussage, dass ich am Rasen im wahrsten Sinne des Wortes „nicht vorbeikommen“ würde, bekommt eine physisch-geografische Dimension. Denn ich laufe und sehe nichts als Rasen. Dem entmutigend konstant fern bleibenden Horizont weiche ich aus, indem ich über sechs Fahrbahnspuren auf die bebaute südliche Straßenseite wechsle.

Beton wie ein Teppich

Abwechslung folgt: Vor mir breiten sich auf einer weiten und leeren Fläche Niemeyers bekannte Bauten der Nationalbibliothek und des Nationalmuseums aus. Der Boden ist auf diesem Areal anders gestaltet (Abb. 5). Ich laufe jetzt über eine gegossene, fugen- und irritationslose, monochrome, helle Fläche. Rigoros flach und wie alles in Bodennähe leicht rötlich eingefärbt, reicht diese Ebene nahtlos an die Bibliothek, das Museum und die Flutlichtstrahler heran, auch an die Straßen. Aus einem Guss. Runde Wasserbecken sind randlos in den Boden eingelassen – besonders auf meinen Fotografien wirken die ruhigen Wasserflächen wie ein artifizieller und besonders gelungener Schatten für das Halbrund des Museums. Bis auf einige wenige schnurgerade Dehnungsfugen und weniger schnurgerade Entwässerungsrinnen liegt der Boden glatt – und auf der Wasserfläche spiegelnd – wie eine Schlittschuhbahn unter den zwei skulpturalen Gebäuden. Einige Schmutzflecken haften am Boden, sonst unterbricht oder strukturiert ihn nichts – keine Fuge, keine Form, keine Farbe, keine Einfassung, keine Erhebung. Er zeigt weder Spuren von Bewegung noch Veränderungen an. Kein Pflanzenhalm, keine Verwerfung weit und breit. Es gibt keinerlei taktile Bodenleitsysteme für sehbenachteiligte Menschen – ein Umstand, der auffällt, werden solche Leitsysteme doch zurzeit in den großen brasilianischen Städten flächendeckend (geradezu „obsessively“, so der Urbanist aus Belo Horizonte) in begehbare Flächen integriert. Dieser monochrome Boden aus am Ort gegossenem Kunststein, der in seiner Qualität einem Sockel ähnelt, lenkt alle Aufmerksamkeit auf das, was er präsentiert. Er leitet nicht, er strukturiert nicht, er schafft keine Orientierung. Es geht allein um die Architektur, und es war auch der Architekt selbst, der diesen Boden gestalterisch erdacht hat.

Blick nach unten

Ich schaue nach unten und fotografiere fortwährend den Boden unter meinen Füßen. Die Aufmerksamkeit der Menschen, denen ich begegne, ist mir sicher, denn mein Verhalten scheint aufzufallen. Dass ich Touristin bin, wird von weitem erkannt – lasse ich raten, dann komme ich vermeintlich aus den USA oder Europa. Mein häufiges Stehenbleiben und Notieren sowie der Gegenstand, auf den ich mich konzentriere, machen neugierig. Ich füge mich weder sprachlich noch visuell noch durch meine Fortbewegung ein. Die Forschung selbst stellt mich sichtbar vor klimatische Herausforderungen. Meine bisherige Praxis der Feldforschung funktioniert nicht. Hier bin ich exponiert – bisher zog ich es vor, Teil des Forschungsfeldes zu werden. Trotz angelesenem Hintergrundwissen ist mir sehr viel von dem, was ich beobachte, neu. Es tun sich immense Diskrepanzen auf. Zur Einordnung suche ich im Anschluss verstärkt das Gespräch mit Bekannten und Kolleg_innen vor Ort. Das hier Festgehaltene ist die Momentaufnahme meines bisher einmaligen Besuchs von Brasília im Oktober 2014.

Scharfkantig blendend und abgesperrt

Nach der beeindruckend fugenlosen Bodengestaltung um das Museum bewege ich mich weiter in Richtung Bug des Flugzeugkörpers. Die Ministerien folgen aufeinander. Eins gleicht dem nächsten, und so richtet sich mein Blick schnell wieder nach unten. Wo ist der Gehweg? Im Gegensatz zu den groß angelegten Rasen- und Betonflächen ist der breite Streifen zwischen Gebäuden und Straße nicht klar definiert. Größere, oft zerbrochene Platten liegen mit teilweise bis zu zehn Zentimeter breiten Abständen nebeneinander (Abb. 6). Kunststein, Rasen, Sand und Asphalt wechseln sich ab. Auffällig ist, dass ich trotz der Materialvielfalt das Gefühl habe, nicht von der Stelle zu kommen. Welcher gestalterische Aspekt provoziert – neben der Monotonie – dieses subjektive Empfinden? Oder anders: Was verbindet dieses – in meinen Augen – wenig ansehnliche, unzweckmäßige und gleichzeitig funktionale Areal mit dem großflächig ausgebreiteten Rasen oder Kunststein? Die simple Beobachtung, dass ich als Fußgängerin auf keiner dieser Flächen weiß, wo mein Weg ist, und dass ich diese Freiheit nicht als positiv erlebe, fällt mir als erstes ein.

29.10.2014, Brasília

Ich lande, finde den Bus und schließe Bekanntschaft mit Raul, dessen Geburtsstadt Brasília ist. Der Flughafentechniker kann also nicht über 55 Jahre alt sein, denn erst so kurz existiert Brasiliens Hauptstadt hier, im Landesinneren. Er beginnt zu schwärmen: Brasília sei wunderschön! Gerade fange die Regenzeit an und die Flammenbäume blühten – rot blühende Bäume, deren Blütenblätter die Krone zieren und gleichzeitig wie ein roter Schatten auch den Boden bedecken (Abb. 1). Die verschiedenen Farben der Blüten zeigten die Zeit des Jahres an. Brasília sei wunderschön – seine Begeisterung steckt mich unmittelbar an, denn sie kommt vollkommen unerwartet. Ich war hier gelandet, konzentriert auf die Architektur und die Bodengestaltungen und innerlich gewappnet gegenüber einer eher unwirtlichen Stadt. Freund_innen und Kolleg_innen hatten ambivalent über mein Reiseziel berichtet. Ich würde vor allem viel Rasen sehen, war die Prophezeiung. Die Stadt sei „interessant“ – aber ein einziger Besuch hätte ihnen gereicht.

Abb. 6 Abb. 7
Abb. 6, Abb. 7

Später erreiche ich den Nationalkongress. Ich wechsle über die Monumentalachse auf die nördliche Seite. Eine weiß blendende Rampe (vor der brasilianischen Fußballweltmeisterschaft 2014 besetzten sie Demonstrierende) führt hinauf auf den ebenfalls weiß reflektierenden Platz, der die wohl am meisten fotografierten weißen halbrunden Aufbauten des Kongresses präsentiert. Hinter dem Kongress entdecke ich schlussendlich den Planalto-Palast – den offiziellen Arbeitsplatz von Präsidentin Dilma Rousseff, der am Platz der drei Gewalten steht. Nach drei Stunden Fußweg bin ich endlich am Ziel meines Ausflugs angekommen. Ein Fernsehjournalist spricht vor dem Gebäude einen Text in die Kamera; die Präsidentinnengarde vertritt sich auf der Stelle die Beine. Das Weiß ihrer Uniformen überstrahlt noch das Weiß des glitzernden Quarzes der Rampe, auf der sie stehen, und die hier, wie beim Kongress, aufwärts in das Gebäude, den Palast, führt (Abb. 7). Das Gebäude steht nach hinten versetzt, davor ein provisorischer Zaun. Ich merke, wie die Blicke der Garde mir folgen, meine auf den Boden gerichtete Kamera zieht wohl ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Die Steine dieses präsidialen Aufgangs sind glatt, rechtwinklig und scharfkantig, die Fugen dünn. Die verlegten Reihen folgen in zwei unterschiedlichen Tiefen aufeinander. Pro Reihe variiert die Breite der Steine. Weder Schmutz noch Gebrauchsspuren oder Unkraut stören die Flächenwahrnehmung. Sie blendet – auch, wenn Wolken die Sonne bedecken. Durch ihr Material heben sich die Rampen am Kongress sowie am Palast und, wie ich später sehen werde, auch am Höchsten Gericht von ihrer Umgebung ab. Der Stein liegt in Variationen auf all diesen Flächen im Reihenverband, auch die Intensität seiner Zeichnung ist verschieden. Diese weißen Rampen, Aufgänge oder architektonischen Formen setzen sich durch ihre schnurgeraden Kanten, ihre Helligkeit und Gepflegtheit präzise von ihrer Umgebung ab.

Endlos ankommen

Der Platz der drei Gewalten, den sie einfassen, ist mit Kleinsteinen gepflastert (Abb. 8). Dieser Kleinstein ist behauen und nicht gesägt, was bedeutet, dass kein einziger Stein dem nächsten gleicht. Es bedeutet auch, dass die Fugen im Vergleich zu den bisher gesehenen Flächen aus gesägtem Quarz im Verhältnis zum Stein viel Raum einnehmen. Der rötliche Sand färbt die eher grauen Steine. Im ersten Moment bin ich überrascht. Der Platz wurde mir als ausgesprochen hell und blendend beschrieben – unter mir liegt gewöhnlicher, günstiger und simpel verlegter Kleinstein.

Indem er so breit ist wie zuvor die Rasenfläche, kann ich auch hier die gegenüberliegende Seite nur erahnen. Später werde ich auf einer Karte nachmessen und feststellen, dass der Kopf der Monumentalachse nur 120 mal 220 Meter misst – gefühlt war das Areal fünfmal so groß. Vereinzelt stehen Objekte auf dieser weiten Fläche, die auf mich leer und doch unübersichtlich wirkt. Vermutlich bedingt durch die fehlende Randbebauung empfinde ich das Areal nicht als Platz. Es ist vielmehr ein Vorplatz der mit großem Abstand anliegenden Gebäude. Dadurch, dass das Gelände hinter ihnen abfällt, kann ich Richtung Horizont schauen.

Die Betonung der drei Gewalten im Namen des Platzes der drei Gewalten fügt den Kongress als dritte Instanz in das Arrangement dieses Platzes ein, der jedoch weiter südlich Teil der Monumentalachse ist. Am Ort selbst ist diese auf Plänen sehr eindrücklich dreieckige Verbindung für mich nicht nachvollziehbar. Den rechtwinkligen Platz der drei Gewalten – den Bug – trennt eine breite Straße, eine weite, ebenfalls rechtwinklige Wasserfläche, ein ebenso angelegter Parkplatz und ein linear aufgereihter Palmenhain von der spürbaren Anbindung zum Kongress.

Ich konzentriere mich auf den homogen steinernen Platz, der seitlich von den Zäunen des Palastes und des Höchsten Gerichts begrenzt wird. An der langen Stirnseite steht die wohl größte Fahne der Welt sowie die Gedenkstätte Pantheon des Vaterlandes und der Freiheit Tancredo Neves. Ein Ort der Ehre ‚aller‘, dieser Geschichtsschreibung nach offensichtlich fast ausschließlich männlichen, Vorkämpfer der Brasilianischen Republik. Namensgeber ist der durch seinen Tod nicht ins Amt gekommene, aber 1985 mit großer Mehrheit gewählte, erste demokratische Präsident Brasiliens.

29.10.2014, Brasília

Ich lande, finde den Bus und schließe Bekanntschaft mit Raul, dessen Geburtsstadt Brasília ist. Der Flughafentechniker kann also nicht über 55 Jahre alt sein, denn erst so kurz existiert Brasiliens Hauptstadt hier, im Landesinneren. Er beginnt zu schwärmen: Brasília sei wunderschön! Gerade fange die Regenzeit an und die Flammenbäume blühten – rot blühende Bäume, deren Blütenblätter die Krone zieren und gleichzeitig wie ein roter Schatten auch den Boden bedecken (Abb. 1). Die verschiedenen Farben der Blüten zeigten die Zeit des Jahres an. Brasília sei wunderschön – seine Begeisterung steckt mich unmittelbar an, denn sie kommt vollkommen unerwartet. Ich war hier gelandet, konzentriert auf die Architektur und die Bodengestaltungen und innerlich gewappnet gegenüber einer eher unwirtlichen Stadt. Freund_innen und Kolleg_innen hatten ambivalent über mein Reiseziel berichtet. Ich würde vor allem viel Rasen sehen, war die Prophezeiung. Die Stadt sei „interessant“ – aber ein einziger Besuch hätte ihnen gereicht.

Abb. 8
Abb. 8

Im Zentrum: kleine Steine auf weiter Flur

Heller Kleinstein erstreckt sich ungerichtet gepflastert bis zu den Straßen rund um dieses rechtwinklige Areal – gefühlt bis zum Horizont (Abb. 9). Die Fläche ist weder so perfekt und glatt wie die kunststeinerne ‚Schlittschuhbahn‘ um das Museum, noch so gepflegt und schimmernd wie der Quarzstein um die repräsentativen Gebäude. Die Fugen sind zu weiten Teilen verwittert, manchmal neu verfüllt. Die Steine selbst sind nicht besonders homogen. Ihre Färbung ändert sich leicht von Areal zu Areal. Allen gemein ist der durch den sandigen Grund bedingte rötliche Schleier. Der Verbund ist fest, aber verwittert, kleine Pflanzen wachsen, besonders nahe an den Rändern, zwischen den Steinen hervor. Es handelt sich um eine homogene Fläche, die viel weniger blendend, glitzernd und weiß ist, als ich es während dieser Tage in Gesprächen über die Platzgestaltung von einer Urbanistin an der Universität höre („almost shining“). Das rechteckige Areal wird alle 15,6 Schuhlängen (Größe 41 EU) durch längs und quer parallel angeordnete, deutlich dunklere Streifen gerastert. Diese kräftigen, aus einer grobkörnigen Kunststeinmasse hergestellten Linien verbinden optisch die vier gegenüberliegenden Gebäude. Vor allem machen sie den Platz zu einem – wenn auch mit Kunst und Stadtmobiliar ausgestatteten – Exerzierplatz. Die Linien rastern den monochromen Boden in identisch quadratische Flächen. Der rechte Winkel hält durch dieses Element Einzug in die Fläche. Die Platzgestaltung, so die erwähnte Urbanistin, sei „more symmetric, more focused, more conducted and less distracted“ als alle anderen in Brasília. Truppen können sich am Raster der gebrochenen Natursteinfläche schnurgerade in Reih und Glied aufstellen. Die Funktionalität der Repräsentation findet durch sie ihren Ausdruck. Drei meiner fünf Bekannten in Brasília berichten amüsiert von der Teilnahme an politischen Zeremonien auf dem Platz der drei Gewalten. Auch wenn tausende Personen auf diesem Platz aufmarschierten, demonstrierten und sich versammelten – jede noch so große Masse wirke „vollständig verloren“. Später wird mir erklärt, dass diese Leere, dieser „big scale“, den Maßstab setze. Die Offenheit sei Bestandteil der Stadt. Sie erzeuge Sicherheit, sie fokussiere, sie schaffe rechtwinklige Symmetrie, sie vermeide Ablenkung.

Vom Boden zur Postkarte

29.10.2014, Brasília

Ich lande, finde den Bus und schließe Bekanntschaft mit Raul, dessen Geburtsstadt Brasília ist. Der Flughafentechniker kann also nicht über 55 Jahre alt sein, denn erst so kurz existiert Brasiliens Hauptstadt hier, im Landesinneren. Er beginnt zu schwärmen: Brasília sei wunderschön! Gerade fange die Regenzeit an und die Flammenbäume blühten – rot blühende Bäume, deren Blütenblätter die Krone zieren und gleichzeitig wie ein roter Schatten auch den Boden bedecken (Abb. 1). Die verschiedenen Farben der Blüten zeigten die Zeit des Jahres an. Brasília sei wunderschön – seine Begeisterung steckt mich unmittelbar an, denn sie kommt vollkommen unerwartet. Ich war hier gelandet, konzentriert auf die Architektur und die Bodengestaltungen und innerlich gewappnet gegenüber einer eher unwirtlichen Stadt. Freund_innen und Kolleg_innen hatten ambivalent über mein Reiseziel berichtet. Ich würde vor allem viel Rasen sehen, war die Prophezeiung. Die Stadt sei „interessant“ – aber ein einziger Besuch hätte ihnen gereicht.

Abb. 9 Abb. 10 Abb. 11
Abb. 9, Abb. 10, Abb. 11

Ich war aus Rio de Janeiro nach Brasília geflogen. Ich hatte das omnipräsente, kunstvoll gepflasterte Wellenmuster mar largo an der Copacabana bewundert und viele andere gepflasterte Bilder am Boden entdeckt. Die von Kolonisierenden und Einwandernden importierte portugiesische Pflasterkunst, der zu Ehren 1986 in Lissabon eigens eine Schule gegründet wurde, hatte mir ganz neue Welten meines Untersuchungsgegenstandes eröffnet. Diese calçada portuguesa war jedoch offensichtlich kein Bestandteil des politisch repräsentativen Stadtzentrums von Brasília. Ich dachte an bildhafte, mehrfarbige und kunsthandwerklich anspruchsvolle Gestaltungen jenseits rechter Winkel. Als Touristin waren mir auch die unzähligen Accessoires aufgefallen, die das mar largo ziert. In Brasília finde ich nichts dergleichen. Das Stadtmarketing konzentriert sich hier auf die architektonischen Solitäre. Die in Rio und São Paulo besondere Aufmerksamkeit für Bodengestaltungen fehlt.

Im Gegensatz zu Feldstudien, die ich in Deutschland und Polen gemacht hatte, war mir in Rio de Janeiro und São Paulo die in besonderem Maße identitätsstiftende Funktion der Texturen des Straßenpflasters aufgefallen. So gibt es in Rio de Janeiro ganze Läden voller Handtücher, T-Shirts, Tassen oder ähnlichem, die großflächig mit dem schwarz-weißen Wellenmuster ihrer Strandpromenade bedruckt sind (Abb. 10) – Gegenstände, die wohlgemerkt gerne sowohl von Brasilianer_innen als auch von Tourist_innen erworben und genutzt werden. Die calçada portuguesa in São Paulo und Rio de Janeiro ist aufgrund ihrer im Gegensatz zu Betonflächen geringen Praktikabilität ein nur mit großem Aufwand zu erhaltendes Gut. Wo dies – nicht zuletzt aus marketingstrategischen Gründen – gelingt, ist das Pflaster „in bester Verfassung“ und der Stolz der Stadtbewohner_innen.

Gedanklich in Berlin

Der Belag auf dem Platz der drei Gewalten provoziert in mir alles andere als Stolz. Ich hatte mich auf die erste Bank gesetzt, der ich, während meines Wegs überraschend, genau auf diesem Platz begegnet war. In Erinnerung an den festen Verbund der Copacabana, der keinen Stein als Souvenir freigab (am Brandenburger Tor verschwinden immerfort Pflastersteine aus „unerklärlichen“ Gründen), überrascht es mich, hier eine Vielzahl loser Steine im Pflaster zu entdecken (Abb. 11). Ich kann Pflastersteine aufheben und gleichzeitig den Palast der Präsidentin sehen. Sind Pflastersteine im politischen Kontext nicht Objekte mit Wurfpotenzial? Ich erinnere mich, dass in der Berliner Geschichte manche Straßen nicht gepflastert wurden, mit der expliziten Begründung der Polizei, kein Material für den Widerstand liefern zu wollen. Das Forum vor dem Bundeskanzleramt in Berlin ist – selbstverständlich – nicht kleinteilig gepflastert. Ein sicherer Boden im befriedeten Bezirk der Bundesrepublik Deutschland liegt mindestens im festen Verbund oder ist aus Steinen größeren Formats verlegt. So großformatig, dass kein Individuum auf die Idee käme, einen Stein – aus diesen oder jenen Gründen – hochzuheben. Ich halte einen Stein in den Händen und mir fällt auf, weshalb er überhaupt kein sicherheitspolitisches Problem darstellt. Denn wohin sollte ich meinen Wurf richten? Nur einige Menschen können sehr weit werfen, und so liegen zumindest die repräsentativen Gebäude deutlich außerhalb der Reichweite eines Steinwurfs. Ich lege das Stück Belag wieder auf das Pflaster.

Wüsten im Stadtzentrum

Die Bank, auf der ich sitze, strahlt wie eine Heizung Wärme ab, ebenso der Boden. Die thermische Aufladung der verwendeten Materialien des Außenraumes war im Gespräch mit einer Professorin der Urbanistik in Brasília ein wichtiges Thema. Mir ist es in Deutschland bisher anders herum begegnet: Sitzgelegenheiten mit hoher Wärmeleitfähigkeit aus Granit oder Metall stehen vor allem in Bereichen, die von den für sie Zuständigen aus diversen und oft zu kritisierenden Gründen als Transitorte eingeordnet werden – wie gerade die großen Bahnhöfe der Deutschen Bahn oder so manche privatisierte Fußgängerzone.

Auch hier hält es mich nicht lange. Ein rennender Mann, der einen scheppernden Einkaufswagen vor sich her schiebt, veranlasst mich aufzustehen, doch dem Geräusch ist in Laufweite nicht zu entgehen. Ich kann den Mann nicht nur hören, sondern auch fortlaufend sehen. Er trägt dunkle, funktionale Kleidung, in dem Einkaufswagen eines Supermarkts transportiert er zwei Eimer und diverse Lappen. Diese benutzt er dazu, ein Auto zu putzen, das später von einer in Schwarz gekleideten Businessfrau in hochhackigen Schuhen abgeholt wird, die bar bezahlt. In Gedanken an die erwähnten 20.000 Menschen, die auf dieser Fläche verloren wirken würden, fällt auf, dass es gleichzeitig kein Problem wäre, sie vollständig unter Kontrolle zu halten. Ich kann feststellen, dass ich meine Kamera auf diesem repräsentativen Platz in der Hand behalte und nicht verstecke, wie ich es anfangs am Busbahnhof noch getan hatte. Die freie Sicht schafft ein Gefühl von Sicherheit im politischen Zentrum Brasiliens – jedoch nur bis zu dem Punkt, an dem sich dieses Gefühl in sein Gegenteil verkehrt: der Punkt, ab dem ich nicht mehr beobachtet werden möchte. Für die Tauben, die sich dösend auf den 26.400 Quadratmeter weiten Boden schmiegen, ist offensichtlich nur der erste Punkt wesentlich.

Abb. 12
Abb. 12

Die Sonne senkt sich und ich mache mich auf den Rückweg. Gern wäre ich Bus gefahren, doch intuitiv in Richtung Hotel laufend, befinde ich mich auf der sechsspurigen Einbahnstraße – in die verkehrte Richtung. Die Weite erinnert mich daran, dass sich Brasília in der Mitte der brasilianischen Savanne befindet. Das halbe Jahr über liegt die geplant saftig grüne Monumentalachse rot, sandig und vertrocknet in der Mitte dieser Stadt, dieses Landes. Die Farbigkeit der Pflasterung auf dem Platz im Bug dieser Staatsmaschine nimmt das rötliche Grau der axialen und monumentalen Rasenfläche während der Trockenzeit vorweg. Was den Gedanken nahelegt, dass auch die Monumentalachse gern gepflastert gesehen worden wäre und der Rasen womöglich lediglich pragmatisch dazu dient, den staubigen Grund zu befestigen. Die Flammenbäume, von denen mir Raul erzählt hat, gibt es hier nicht. Ich habe überhaupt keine Blüten gesehen. Im Umfeld der Kathedrale, die mir als einziges Gebäude auf der Monumentalachse zum Betreten empfohlen worden war, gibt es Leben (Abb. 12). Hier fotografieren sich Brautpaare und Kinder schreien. Ist es ein Zufall, dass ausgerechnet um diesen Bau kein weites, monochromes Boden-Passepartout liegt? Der regelmäßig unterbrochene Betonboden wirkt nicht endlos; er bedeckt nur in Streifen den Grund und Grün wächst, wo es ihm möglich ist; die Fläche ist durch Vorsprünge, Markt- und Taxistände oder Plastiken unterbrochen, die deutlich in Bezug zum Bauwerk platziert wurden. Die einladende Geste der Plastiken und Skulpturen, der Bänke und Bühne an die kulturinteressierten Spaziergänger_innen schafft es, vor der Kathedrale – aber nicht auf dem Platz der drei Gewalten – gegen den Boden anzukommen. Es ist die Weite, die sich um ihrer selbst Willen ausbreitet und mich wissen lässt, dass ich an diesem Ort nur geduldet werde.

Sowohl als auch. Paradox

Einige meiner Aussagen über den Platz der drei Gewalten widersprechen sich: Ich berichtete zum einen von rigoroser Einsehbarkeit. Doch die Plastiken, Bänke, die Plattform oder das Touristenbüro werden visuell so sehr eins mit der Fläche, dass sie untergehen. Sie stehen auf dem Areal, nehmen jedoch keine Strukturen oder baulichen Beziehungen von ihm auf. Die gebauten Volumina entschwinden der (oder besser: meiner) Aufmerksamkeit. Positiv gewendet ist dieses Phänomen sehr beeindruckend, denn es unterstützt den offensichtlich intendierten Eindruck der Weite dieses Ortes. Ich erfahre diese Art negativer Fata Morgana unfreiwillig: An drei Tagen besuche ich den Platz der drei Gewalten – und bei jedem einzelnen Besuch vergesse, verpasse oder übersehe ich den Espaço Cultural Lúcio Costa (Abb. 13). 1992 wurde dieser unterirdisch gelegene Gedenkort zu Ehren des federführenden Architekten und Stadtplaners von Brasília eingeweiht. Er beherbergt das Modell des Plano Piloto und Originalskizzen. Ich erkenne den Eingangsbereich erst, als ich ihn explizit aufsuche – was im Nachhinein vollständig unverständlich erscheint. Meine Wahrnehmung kapituliert vor der Weite, vor dieser Leere, die genau genommen gar nicht so leer und gar nicht so weit ist. Denn der Vergleich zeigt, dass der Platz der drei Gewalten in seinen metrischen Ausmaßen das Forum vor dem Bundeskanzleramt nur unwesentlich übersteigt. Beide entsprechen ungefähr zwei Fußballfeldern und sind somit kleiner als andere Plätze oder flächige Anlagen ihrer Städte.

Abb. 13
Abb. 13

Auch die meinerseits und von Gesprächspartner_innen beschriebene Dominanz des rechten Winkels ist am Bug zumindest auf dem Boden nicht haltbar. Der Ruf dieses Areals scheint eher von den repräsentativen Gebäuden zu kommen, die sehr wohl blendend, weiß und rechtwinklig-scharfkantig daliegen. Das lose, offensichtlich kostengünstige und klassisch gebrochene Kleinsteinpflaster des Platzes jenseits der Gebäudeabsperrungen widerspricht diesen Zuschreibungen.

Ebenso möchte ich die Bezeichnung vom Bug als dem repräsentativen Platz relativieren. Nach meinen Beobachtungen der Medien wird der durch seitliche Hänge, die Rampe, geschwungene Wasserflächen, das imposante Dach und Höhenunterschiede gekennzeichnete Eingangsbereich des Kongresses wesentlich öfter als Kulisse der Regierung oder ihrer Kritiker_innen für mediale Inszenierungen genutzt. Auch wenn zwischen verschiedenen Formen der Repräsentation unterschieden werden muss, kann festgehalten werden, dass sich der vollständig ebene Platz der drei Gewalten für Inszenierungen dieser Art offensichtlich weniger gut eignet – oder eignen soll? – als der Eingang des Kongresses. Seine repräsentative Strahlkraft besitzt er vielmehr durch die exponierte Lage und die physische Präsenz am Ort als durch mediale Inszenierungen. Er ist vor allem für die Gesamtanlage der Monumentalachse in ihrer Draufsicht wesentlich. Die Strahlkraft des Platzes, also sein Image, entsteht, wie gezeigt wurde, eher durch die Projektion der Eigenschaften der Regierungsgebäude auf seine Fläche.

Abb. 14
Abb. 14

Das Gefühl, auf den qualitativ mehr oder minder hochwertigen Bodengestaltungen dieses repräsentativen Areals nicht von der Stelle zu kommen, möchte ich ebenfalls noch einmal erwähnen. Hier besteht eine Zweischneidigkeit: Einerseits sind die Flächen sehr wohl in sich gerastert oder durch Gebäudekomplexe rhythmisiert, doch funktioniert ihr Leitsystem andererseits nicht für Fußgänger_innen. Eine Beobachtung, die für die „Autostadt“ womöglich akzeptiert werden kann – doch indem die Plastiken, Gedenkorte und renommierten Architekturen auf den Plätzen und ebenso die Ministerien gar nicht anders erreicht werden können als zu Fuß, ist diese sich selbst verteidigende Zuschreibung haltlos. Flächen zu rhythmisieren, Straßen passierbar zu machen und Kunst, Stadtmobiliar oder Bepflanzungen so zu platzieren, dass sie Orientierung bietenden Sinn ergeben, würde dem Status als Weltkulturerbe nicht widersprechen. Dieses Hin und Her zwischen Attraktivität und ausladender Beliebigkeit führte meinen Beobachtungen nach zu der kritischen Frage vieler Ortskundiger: „Und?! Wie war Brasília?“ Meine Antwort: „Fifty-fifty“, bestätigten die meisten. Mit Worten wie „aber“ oder „sowohl als auch“ beschreiben auch sie dieses Areal.

Szenenwechsel

Zurück in Berlin fällt mir der gerade bei Berliner_innen meines Bekanntenkreises unbeliebte Spreebogen samt den drei Regierungsgebäuden positiv auf (Abb. 14). Mein Fokus wandert von der abgetretenen und somit nicht mehr vorhandenen Rasenfläche vor dem Bundestag hin zu den vielen Personen, die diese dennoch und ganz selbstverständlich liegend, sitzend, hüpfend, radelnd beleben. Die Bänke im Schatten vor dem Kanzleramt fallen auf, genau wie die grundsätzliche Strukturiertheit des Areals. So macht es einen großen Unterschied, ob Rasen- und Steinstreifen – wenn auch nur in eine Richtung – den Bewegungsfluss lenken oder ob der Boden eben keinerlei Richtungen offeriert. Ebenso gewinnt die Materialität an Bedeutung bzw. ihr Verhältnis zur anliegenden Bebauung. Ein Gefälle zwischen der Materialqualität der Platzgestaltung und derjenigen der anliegenden Gebäude wie auf dem Platz der drei Gewalten wirkt sich meiner Ansicht nach auf die Menschen aus, die Platz oder Palast – und eben selten beides – nutzen. Denn bewertet die Materialität der deutlich verschiedenen und durch einen Zaun getrennten Areale nicht diejenigen, die ‚ihren‘ Bereich nutzen, sowohl in der eigenen Wahrnehmung als auch in der von außen? Die Materialität der Platzgestaltung vor dem Amt der Kanzlerin ist und wirkt einerseits anspruchsvoll; andererseits fällt sie nicht als ausgesprochen besonders oder andersartig auf. Dass die fehlende adäquate Bewirtschaftung der Fläche – oder anders herum: ihre für die Art der Bewirtschaftung ungünstige Bauweise – genau diese geplant anspruchsvolle Gestaltung in der Nutzung über nur eine Saison auf Null setzt, konnte am Beispiel der repräsentativen Gestaltung in Brasília nachvollzogen werden.

Immer wieder Rasen und Stein

Rasen und Naturstein sind elementare Gestaltungselemente horizontaler Architekturen. Dass sie vielerorts in öffentlichen Räumen eingesetzt werden, erscheint uns selbstverständlich. Der repräsentative Anspruch einer Gestaltung entscheidet nicht über deren Wahl, sondern über die Art und Weise ihres Einsatzes. Wie diese Elemente eingesetzt werden, ihre Kombination zueinander, die Intensität ihres Einsatzes, die Ordnungsstruktur und Dimensionen sowie ihre Form- und Farbgebung entscheiden darüber, ob diese Elemente schlichtweg und für sich genommen das bleiben, was sie sind, oder ob sie die Tür zu einem komplexen Wirkungshorizont öffnen. Findet diese Öffnung statt, so stellen sich – gerade in der Gestaltung öffentlicher Räume – sofort eine Reihe von Fragen: Welche Art des repräsentativen Ausdrucks findet das Gemeinwesen, in diesem Fall ein nationales Gefüge? Welche Art der Machtdemonstration ist intendiert und wie erneuert sie sich? Inwiefern verschiebt sich der Bedeutungshorizont einer Gestaltung, wenn ihre statischen Elemente über die Jahre aus der Zeit fallen? In welchem Maße fördert oder behindert eine Gestaltung die Nähe zu den Bürger_innen und somit die Entfaltung sozialen Lebens?

Autor_innen

Marie Luise Birkholz ist Meisterschülerin der Bildhauerei und Raumforscherin mit dem Ziel, die Beziehung zwischen der gebauten Umwelt und ihren politischen Implikationen herauszuarbeiten.

marie.luise.birkholz@uni-weimar.de