Orwell Court. Gegen/Blicke in einer betongewordenen Wohnutopie im Londoner Nordosten

Raul Gschrey

Orwell
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Smile – you’re on 24 hour CCTV

Es ist nun schon einige Jahre her, seit ich zum ersten Mal an dem Wohnkomplex im Londoner Distrikt Hackney vorbeikam. Auf einer rötlichen Ziegelsteinwand, gegenüber eines grauen, nicht gerade pittoresken Kanals, erregte ein Schild meine Aufmerksamkeit: „Orwell Court“. Direkt neben dem Namensschild des sozialen Wohnungsbaus forderte eine Plakette mit einem Kamerasymbol dazu auf, für die 24-Stunden Videoüberwachung zu lächeln. Bei genauerem Hinsehen zeigte sich, dass die Ankündigung nicht zu viel versprach: überall waren große und kleine, alte und neue Kameras installiert. Schätzungen zufolge hat London bis zu einer Million Überwachungskameras, die Tag für Tag jede_n Bürger_in durchschnittlich 300 Mal aufnehmen (Doyle/Lippert/Lyon 2011). Ich war spät dran für ein Treffen, also ging ich schnell weiter, aber dieses Bild blieb mir im Kopf.

Little Sisters

Orwell – an diesem Ort der Name des Autors des berühmten dystopischen Romans 1984, der wie kein anderes Buch für die totale Überwachung und Unterdrückung ganzer Gesellschaften steht. Das London des Romans lebt im permanenten Ausnahmezustand und unter dauerhafter Beobachtung. Allgegenwärtige Bildschirme proklamieren die Losungen des Staatsfernsehens und schauen als Kameraaugen zurück in jedes Zimmer, auf jede Straße. Das Volk wird durch die ständige Angst vor externen und internen Feinden ruhig gehalten. Nur in den elenden Proletariervierteln hält sich subversives Verhalten und gibt es letzte Orte, die nicht dem stechenden Blick der Führerfigur ‚Big Brother‘ ausgesetzt sind. Blicke in die teilweise heruntergekommenen Fenster erinnern in der Tat an den Wohnkomplex des Protagonisten aus 1984 und überall in den düsteren Betonkorridoren des „Orwell Court“ mahnen Verbotsschilder. Die allgegenwärtigen Kameraaugen sind aber nicht verborgen, sondern selbst zu metallenen Warnungen geworden: ‚Little Sisters‘, jedoch nicht im Auftrag des ‚Ministry of Truth‘, das Orwell auf das Londoner Informationsministerium der Kriegszeit münzte, sondern als ‚Spione‘ schwer zu fassender privater und staatlicher Akteure.

Auch die architektonische Struktur des Wohnblocks zeigt interessante Perspektiven auf. So ist der U-förmige Komplex nur zu einer Seite geöffnet und die Fenster und Türen weisen in Richtung eines zentralen Hofes. Eigentlich als grüner Gemeinschaftsraum konzipiert, stellt sich hier ein spezielles Raumgefühl ein, es scheint keine Bewegung unbeobachtet, nur konformes Verhalten erwünscht. Unwillkürlich kommt das Panoptikon in den Sinn: ein kreisförmiger architektonischer Entwurf um eine zentrale, alles sehende Instanz, der von Jeremy Bentham im achtzehnten Jahrhundert entwickelt und für Gefängnisse und öffentliche Anstalten vorgeschlagen wurde. Später wurde das Konzept von Michel Foucault benutzt, um ein gesellschaftliches Modell zu beschreiben, das durch die andauernde Überwachung und Kontrolle und die Internalisierung des Blickes und die damit verbundene Selbst-Sanktionierung des Verhaltens eine Disziplinargesellschaft begründet (Foucault 1977). Wenn auch viel kritisiert und unter anderem unter den Begriffen ‚Kontrollgesellschaft‘ (Deleuze 2002) und ‚Postpanoptikon‘ (Bauman 2000) weiterentwickelt, bildet dieses architektonisch-gesellschaftliche Konzept eine der zentralen theoretischen Referenzen zur Beschreibung der zeitgenössischen Überwachungsgesellschaft. Ebenso sind die Figur des alles sehenden ‚Big Brother‘ und der Roman 1984 zu Bezugspunkten überwachungs- und gesellschaftskritischer Stimmen geworden. Wie das Panoptikon sind es Utopien[1] bzw. Dystopien, visionäre (Sozial-)Raumbeschreibungen und emotionsbehaftete Metaphern, die in die Betrachtung von Räumen, Architekturen und in deren emotionale Rezeption hineinwirken.

My Home is My Castle

In den späten 1940er Jahren, zur Zeit der Veröffentlichung des Romans von George Orwell, war dieses Gebiet in London noch von Viktorianischen Arbeiterhäusern dominiert, der „Regents Canal“ hatte seine Wichtigkeit als Transportweg verloren und die Häuser und Straßen waren düster und heruntergekommen. So konnten hier stadtplanerische Phantasien verwirklicht werden, auch als Impuls, Licht und Ordnung in das chaotische Dunkel des Viertels zu bringen. In den frühen 1960er Jahren entstand der „Suffolk Estate“ mit den drei Gebäudehöfen: „Debenham Court“, „Laxfield Court“ und „Orwell Court“ – und damit fast 300 moderne Wohneinheiten in der Nähe der High Street des Stadtteils, in der die historischen Häuser erhalten blieben. Die Räume, die hier neu entstanden, entsprachen den hehren Zielen einer Lebensverbesserung für breite Bevölkerungsschichten, mit einer Trennung von Automobilität und Fußgängerraum, mit Gemeinschaftsgärten und einer engeren Nachbarschaft. Doch die Räume, die so entstanden, waren seriell konstruiert und erschwerten emotionale Bindungen. Und so zeigten sich bald die Kehrseiten des neuen Bauens und Zusammenlebens auf engstem Raum. Auch ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis ging damit einher, das in den allgegenwärtigen Überwachungskameras, in Zäunen, Gittern, Stacheldraht und in Hinweis- und Verbotsschildern seinen sichtbarsten Ausdruck findet.

Im Gebäudekomplex stehen den industriell gefertigten Wohnmodulen Individualisierungsversuche entgegen: Bewohner_innen dekorieren die Fenster und Türen – Farbkleckse in der grauen und rotbraunen Architektur, die in den Schwarz-Weiß-Bildern der Überwachungskameras notwendigerweise unsichtbar bleiben. Doch was macht die ständige Präsenz der alles-sehenden Kameraaugen mit dem öffentlichen Raum? An manchen Transitorten des Gebäudekomplexes gibt es gleich mehrere Kameras, die nicht nur jede Bewegung, sondern auch einander zu beobachten scheinen. Eine Bestätigung der eigenen Präsenz oder Ausdruck eines Zweifels an der Visualisierung selbst? Haben die Kameras gar unterschiedliche Adressaten? Wer schaut hier eigentlich zu? Ist da Jemand? Ein Misstrauen gegenüber der Beobachtung zeigt sich in subversiven Gesten. So sind einige Kameras verdreht, sie weisen nach oben und zeigen Ausschnitte des Londoner Himmels.

Self-Fulfilling CCTV

Die dunklen, durch Kameras und Warnungen markierten, neuralgischen Orte vermitteln jedenfalls mir kein Sicherheitsempfinden und, wie viele Studien zeigen, hat sich Videoüberwachung auch nicht als adäquates Mittel der Verbrechensprävention erwiesen. Es findet eine Verlagerung an unbeobachtete Orte statt, die damit ihrerseits zu potentiell gefährlichen Orten werden und so eine weitere Ausdehnung der Videoüberwachung befördern (Klauser 2006). Auch im „Orwell Court“ kann man diese Entwicklung beobachten: Kameras verschiedener Generationen ergänzen sich und in der Umgebung wurden hohe, martialisch gesicherte Maste errichtet, die die anliegenden Straßen und Parkplätze dominieren. Doch trotz ihrer erhabenen Position und entgegen häufiger Annahmen erweitern Überwachungskameras nicht zwangsläufig den Blick: Orte werden ausschnitthaft auf zweidimensionale Mattscheiben reduziert; Unschärfe und Lichtverhältnisse schränken die Sicht ein. Auf den Monitoren einer Überwachungszentrale flimmern die immer gleichen Ausschnitte: Langeweile in Echtzeit. Da kommt es sehr gelegen, dass neuere computergestützte Systeme die ermüdende Aufgabe der Datenauswertung übernehmen können. Automatisierte Bewegungsmuster- und Gesichtserkennungssysteme schlagen nur dann Alarm, wenn verdächtiges Verhalten oder vordefinierte Personen(gruppen) erscheinen. Der fehleranfällige menschliche Blick wird hier durch Computererkennung ersetzt, doch bleibt die Ungewissheit, wer welche Parameter für normales Verhalten bestimmt.

In or Out?

Als ich im Sommer 2014 den Ort mit der Fotokamera erneut erkundete, war seit meinem ersten Besuch viel geschehen. Die Olympischen Spiele haben den Nordosten Londons entscheidend verändert. Die Bewohner_innen haben mit der Militarisierung während der Spiele eine Sicherheitsarchitektur erlebt, die wahrhaft ‚orwellsche‘ Dimensionen hatte. Marschland wurde zu Kapital und Hackney avancierte von einem „Geheimtipp“ zu einem Spekulationsort. Der Kanal und die High Street erstrahlen in neuem Glanz. Der „Orwell Court“ erschien mir jedoch nahezu unverändert, die Fenster, die auf den Innenhof blicken, die Ziegelwände, Warnschilder und Überwachungskameras. Mit der Kamera in der Hand fühlte ich mich wie ein Eindringling, eine weitere Linse, die das Leben in dem Wohnkomplex fremden Blicken aussetzt. Doch Aufnahme für Aufnahme erschien mir mein Blick weniger voyeuristisch, sondern wie ein Blick zurück – eine Form der Gegenbeobachtung, war doch meine Aufmerksamkeit auf die (Sicherheits-)Architektur und nicht auf die Bewohner_innen gerichtet. Auch die Reaktionen der Menschen waren bestenfalls indifferent – eine Wirkung der allgegenwärtigen Kameras? Doch nach den Kommentaren zweier Männer, die mir im auf dem Vorplatz begegneten: „Jetzt werden die Mieten wieder teurer“ wurde mir klar, das mich die Meisten wohl für einen beauftragten Architekturfotografen hielten. Und wirklich sind die Immobilienpreise in Hackney seit 2009 sprunghaft auf das Doppelte gestiegen. Selbst der nicht gerade ansehnliche „Orwell Court“ wird zum lukrativen Spekulationsobjekt. Vielleicht sind die stacheldrahtbewehrten Mauern, der unverputzte Beton und die drohenden Überwachungskameras die letzten Abschreckungsmechanismen gegen einen Gentrifizierungsprozess, der das soziale Leben des Wohnkomplexes in seiner jetzigen Form bedroht? Auf einmal erscheint mir das triste Umfeld als eine derbe Schale, hinter der sich individuelles Leben und bewusste Entscheidungen verbergen. Denn trotz der fast allgegenwärtigen Kameras gelingt es den Einzelnen und ihren Gardinen bisher, nur dann Einblicke in die privaten Wohnzimmer zu gewähren, wenn sie selbst es wollen.

Endnoten

Autor_innen

Raul Gschrey ist Künstler, Kurator und Kulturwissenschaftler. Seine Schwerpunkte sind Stadtentwicklung, Gentrifizierung, (Video)Überwachung, Migration,  historische Visualisierungstechniken, Fotografie und Videokunst.

www.gschrey.org

Literatur

Bauman, Zygmunt (2000): Liquid Modernity. Cambridge: Polity Press.

Deleuze, Gilles (2002): Postscript on Control Societies. In: Thomas Y. Levin / Ursula Frohne / Peter Weibel (Hg.), CTRL[SPACE] – Rhetorics of Surveillance from Bentham to Big Brother. Cambridge, London: MIT Press, 317-321.

Doyle, Aaron / Lippert, Randy / Lyon, David (Hg.) (2011): Eyes Everywhere: The Global Growth of Camera Surveillance. London: Routledge.

Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Foucault, Michel (1994): Precisions sur le pouvoir: reponses a certaines critiques. Interview with P. Pasquino. In: Dits et Ecrits 1954-1988, Vol 2. Paris: Editions Gallimard, 628.

Klauser, Francisco (2006): Die Videoüberwachung öffentlicher Räum. Zur Ambivalenz eines Instruments sozialer Kontrolle. Frankfurt am Main/New York: Campus Forschung.