Frankreich dekolonialisieren! Politik und Aktivismus in Pariser Banlieues

Franco Lollia, Mehdi Meftach, Philippe Greif

Der massive Abbau von Arbeitsplätzen im industriellen Sektor infolge neoliberaler Wirtschaftsmaßnahmen seit den 1970er Jahren besiegelte das Schicksal der sogenannten ‚roten Vorstädte‘ als traditioneller Bastion der Gewerkschaften und der kommunistischen Partei in Frankreich. Heutzutage werden mit dem Stereotyp ‚banlieue‘ überwiegend Politikverdrossenheit, Unorganisiertheit und mangelndes politisches Interesse beziehungsweise Engagement verknüpft. Doch gerade die landesweiten Aufstände von 2005, die mit dem Tod der beiden Jugendlichen Zyed Benna und Bouna Traoré in Clichy-sous-Bois ihren Ausgang nahmen, führten zu der Gründung einer Vielzahl an politischen Assoziationen und Initiativen. Im Oktober 2015 jährten sich die Aufstände zum zehnten Mal. Zeit zurück zu blicken. Eine Bestandsaufnahme aus Sicht von Aktivisten des Kollektivs Brigade Anti-Négrophobie (BAN) und der Parti des Indigènes de la République (PIR) aus Paris.

Interview mit Franco Lollia, dem Pressesprecher des Kollektivs Brigade Anti-Négrophobie aus Paris.

Philippe Greif: Hat sich Ihrer Meinung nach heute, 10 Jahre nach den landesweiten Aufständen von 2005, etwas Wesentliches an der Situation in den Vorstädten verändert?

Franco Lollia: Nein, im Wesentlichen hat sich an der Situation in den Vorstädten nichts geändert. Äußerlich scheint das vielleicht der Fall zu sein, und viele Jugendliche aus den Vorstädten haben jetzt einen größeren Zugang zu verschiedenen materiellen Dingen, aber strukturell hat sich nichts wirklich verändert. Betrachten wir beispielsweise die Justiz. Man sagt zwar generell, dass die Mühlen der Justiz langsam mahlen, aber in manchen Fällen bekommt man den Eindruck, dass dies auch nicht von ungefähr kommt. In dem Fall von Zyed und Bouna wird dies besonders deutlich. Beide Jugendlichen wären mittlerweile 25 und 27 Jahre alt. Zehn Jahre hat es gedauert, bis es durch die verschiedenen Instanzen hindurch schließlich zu einem Urteil im Prozess gegen die beiden Polizisten wegen unterlassener Hilfeleistung gekommen ist. Und dann wurden sie auch noch freigesprochen! Was bleibt zehn Jahre nach der größten Aufstandswelle in Frankreich von dieser legitimen Wut übrig? Zeit ist das beste Mittel, jedes revolutionäre Potential und jeden Protest zu schwächen und zum Schweigen zu bringen. Wenn man auf der anderen Seite die jüngsten Attentate in Frankreich nimmt, da hat es keine drei oder vier Jahre gedauert, um eine Entscheidung zu treffen und den Ausnahmezustand zu verhängen. Man sieht also, dass bestimmte Entscheidungen von der Justiz unterschiedlich getroffen werden, je nachdem wie es ihr am besten passt. Viele Leute, die sich an der Revolte beteiligt haben, dachten, dass sich etwas ändern würde, wenn sie sich massenhaft erheben. Wir denken, dass das nicht ausreicht, sondern dass man die kolonial geprägten Denk- und Wahrnehmungsmuster in den Köpfen der Menschen ändern muss, die dieses Macht- und Herrschaftsverhältnis erst möglich machen.

PG: Hatten die Aufstände auch eine Bedeutung für Ihr Kollektiv Brigade Anti-Négrophobie (BAN)?

FL: Die Brigade Anti-Négrophobie (BAN) ist eine Gruppe, die sich im Verlauf des Jahres 2005 als Reaktion auf verschiedene Fälle von anti-schwarzem Rassismus gegründet hat. Zum einen handelte es sich dabei um mehrere Fälle von Häuserbränden, bei denen insgesamt 52 Personen umgekommen sind, darunter 33 Kinder, die mehrheitlich aus Subsahara-Afrika stammten. Ein anderer Grund war der Tod von Zyed und Bouna infolge einer rassistisch motivierten Polizeikontrolle. Bouna war Schwarzer und Zyed Araber, beide stellen damit emblematische Figuren der Kolonisation in Frankreich dar. Das Phänomen des racial profiling[1] ist Ausdruck und Bestandteil einer unausgesprochenen rassistischen Logik. Das gleiche gilt für die Häuserbrände, die ich zuvor erwähnt habe. Bei den 52 Personen handelte es sich um Familien, die eigentlich nur provisorisch in stark heruntergekommenen und renovierungsbedürftigen Häusern der Pariser Stadtverwaltung untergebracht werden sollten. Nur dauerte diese ‚provisorische‘ Maßnahme mehrere Jahre, was wiederum Ausdruck rassistischer Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt ist. Hinter den Rauchschwaden dieser Brände verbirgt sich eine noch viel perversere und perfidere Logik.

Der dritte bedeutsame Vorfall für die Gründung der BAN war die Verurteilung von Marc-Olivier Fogiel, eines in Frankreich sehr bekannten Fernsehmoderators, durch die französische Justiz wegen rassistischer Beleidigung und Anstiftung zur Volksverhetzung[2]. Das sind Ausdrücke aus dem juristischen Fachvokabular, es handelt sich dabei jedoch auch um Akte von Negrophobie[3]. Hier möchte ich ausdrücklich präzisieren, dass es uns nicht darum ging beziehungsweise geht festzustellen, auf welche exakte Weise sich diese Person rassistisch geäußert hat, sondern darum, dass die französische Justiz gegen ihn ein Urteil ausgesprochen hat. Denn jedes Mal, sei es nun im Fall der 52 verbrannten Personen oder im Fall des Todes von Zyed und Bouna, wird unser Protest auf paternalisierende Weise als emotional abgetan. Dieser rassistischen Logik nach werden wir damit zu großen Kindern gemacht, die die Dinge nicht objektiv einschätzen können. Das Urteil gegen Fogiel trug zu einer Objektivierung unserer Forderungen bei. Man konnte nicht mehr einfach behaupten, es sei unsere Emotionalität, die aus uns spreche, denn es war schließlich die französische Justiz, die diesen Fall von Rassismus festgestellt und verurteilt hat. Da wir uns durch diesen Fall bestätigt sahen, wollten wir unseren Kampf gegen anti-schwarzen Rassismus weiter festigen und haben das Kollektiv Anti-Négrophobie gegründet.

PG: Wie definieren Sie Rassismus für Ihre Arbeit?

FL: Unser inhaltlicher Schwerpunkt liegt zwar primär auf der Frage des Rassismus, doch bei der BAN handelt es sich nicht ausschließlich um eine anti-rassistische Gruppe. Wir kämpfen insbesondere gegen die Kolonisation. Unsere gesellschaftskritische Perspektive ist explizit de-kolonial. Bei Anti-Rassismus handelt es sich nur um einen Bestandteil de-kolonialer Kämpfe. Unsere radikale Kritik zielt auf die koloniale Struktur der französischen Gesellschaft. Unserer Auffassung nach gibt es zwei Typen von Kolonisation: Bei dem ersten, historisch gesehen älteren Typ handelt es sich um ein im physischen Sinne gewaltvolles Verhältnis, das darauf angelegt ist, Individuen einer kolonialen Verwaltung zu unterwerfen. Der zweite, bis heute andauernde Typ ist wesentlich schwerer wahrzunehmen; wir nennen ihn die ‚Kolonisierung des Inneren‘[4]. Dieser Typ von Kolonialisierung prägt eine bestimmte vorherrschende Weltsicht und ist gezeichnet durch eine Propaganda, die letztlich darauf abzielt, rassistisches Verhalten und rassistische Ausdrücke zu normalisieren. Dies verlangt von uns, zwischen den Zeilen zu lesen. Wir kämpfen insbesondere gegen diese Form des Kolonialismus des Inneren, und damit vor allem gegen staatlichen Rassismus. Was wir hingegen vermeiden wollen, ist, Rassismus zu personalisieren, nach dem Motto, es gäbe ‚einen großen Bösewicht‘ wie Jean-Marie Le Pen, der dann den Rassismus in Frankreich symbolisiert. Wir finden, dass dies eine sehr verkürzte und beschränkte Sicht auf Rassismus ist. Der Staat ist zu großen Teilen für den strukturellen Rassismus verantwortlich, was ihm ermöglicht, seine Macht beziehungsweise die Kolonialität seiner Macht aufrechtzuerhalten.

PG: Mit dem Stereotyp ‚der banlieues‘ werden oft Politikverdrossenheit, Unorganisiertheit und mangelndes politisches Interesse bzw. Engagement verknüpft. Können Sie uns als BAN von Ihren alltäglichen Erfahrungen vor Ort erzählen?

FL: Bei dem allgemein vorherrschenden Bild von ‚der banlieue‘ handelt es sich um ein kolonial geprägtes Hirngespinst. Das Gesicht der ‚banlieue‘ ist das eines Schwarzen oder eines Arabers, was in großen Teilen nicht der Realität entspricht. Dieser Stereotyp ist stark an Frankreichs koloniale Vergangenheit geknüpft. Ein großes Problem in den Vorstädten ist racial profiling durch die Polizei. Es ist durch historische Fakten belegt, dass die Polizei als Repräsentantin der kolonialen Herrschaft die ‚Kolonisierten‘ oder ‚Indigenen‘ anders behandelt hat als weiße, sogenannte ‚Herkunftsfranzosen‘[5]. Die heutige Polizei, die vorgibt, republikanisch zu sein und alle gleich zu behandeln, geht nach demselben Muster vor. Man muss den Hintergrund für dieses ungleiche Verhalten der Polizei untersuchen. Auch wenn es vielleicht nicht die bewusste Absicht des individuellen Polizisten ist, die koloniale Herrschaft aufrechtzuerhalten, kann man doch erkennen, dass auf institutioneller Ebene ein gewisser Wille da ist, bestimmte äußerliche Unterschiede zur Aufrechterhaltung einer rassistischen Hierarchie zwischen ‚den Weißen‘ und ‚den Schwarzen‘ stark zu machen. In Frankreich ist racial profiling ein Ausdruck von kolonialem Rassismus und Instrument einer Logik, nach der versucht wird, den ‚minderwertigen Schwarzen‘ eine generelle Schuldhaftigkeit und den ‚überlegenen Weißen‘ eine generelle Unschuld anzuheften. Ohne jeglichen Anlass werden immer wieder die gleichen Personen verhaftet, das passiert uns selbst. Es bedarf schon einer bestimmten politischen Zurichtung, wenn man automatisch denkt, dass es schon seine Gründe haben muss, wenn da ein Schwarzer oder ein Araber verhaftet wird. Selbst wir denken, wenn wir einen Schwarzen sehen, der die Beine gespreizt an der Wand steht, im ersten Moment automatisch erst mal, dass das nicht unbegründet ist. Wenn man sieht, wie er durchsucht wird, sich ausziehen muss et cetera, vermittelt das den wirkmächtigen Eindruck, dass diese Person schon etwas angestellt haben muss. Sobald dieses Bild erst einmal im Kopf ist, wird es ständig wiederholt. Auf diese Weise wird die Wahrnehmung ‚der banlieue‘ durch ein negatives Stereotyp geprägt, für den in großen Teilen der französische Staat mit seiner unsichtbaren kolonialen Logik verantwortlich ist. Wir glauben, dass es heute eine Form der Kolonisation gibt, die man Neo-Kolonisation nennt, also die heutige Einflussnahme des französischen Staates im sogenannten Französisch-Afrika[6]. Dabei handelt es sich um eine brutale Neo-Kolonisation, die man in Frankreich selbst nicht wahrnimmt, weil man sich nicht dafür interessiert, was außerhalb des Landes geschieht. Innerhalb Frankreichs gibt es hingegen eine weniger sichtbare Form der Kolonisierung, die von der Polizei, dem Bildungssystem, den Medien und der Politik aufrechterhalten wird.

PG: Sie haben im Zusammenhang mit den Aufständen von 2005 von einem revolutionären Potential gesprochen. Anderen Lesarten nach handelt es sich dabei schlicht um kriminelle Gewalt. Welche Hintergründe sehen Sie für die Aufstände?

FL: Das größte revolutionäre Potential gibt es in den Vorstädten. Aus diesem Grund werden diese Viertel derart überwacht und mit Polizeipräsenz versehen. Deswegen gibt es dort so viele Fälle von racial profiling. Und weil der Staat das weiß, werden auch unsere Botschaft und unsere Arbeit missachtet und kolonisiert. Weil man weiß, dass uns nichts aufhalten könnte, wenn sich diese weiterverbreiten würden. Deswegen unterscheiden wir zwischen einer Kolonisierung des Inneren und einer Kolonisierung des Äußeren. So wie der afrikanische Kontinent unter dem Joch einer ununterbrochenen Kolonisierung leidet, damit er sich nicht erheben kann, werden die banlieues einer anderen Form der Kolonisierung unterworfen. Deswegen sieht man in jedem x-Beliebigen direkt einen potentiell systemfeindlichen Kriminellen. Wenn es sich dabei um einen potentiellen Revolutionär handelt, dann um jemanden, der nicht weiß, wie er seine Wut und seine Unzufriedenheit ausdrücken soll, und der sich für materielle Dinge interessiert. Wenn jemand versucht eine Bank zu überfallen, versucht er damit ein Jemand zu sein. Das hat er selbst aber noch nicht verstanden, weil er kein politisches Bewusstsein hat, das es ihm erlauben würde zu verstehen, wie er Jemand werden kann. Das größte revolutionäre Potential liegt in den Vorstädten und in allen kolonisierten Zonen. Jeder imperialistische Staat weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sich dieses entlädt, und dass er dieses ungerechte System nicht für immer aufrechterhalten kann.

PG: Können Sie uns erklären, wie Sie organisiert sind und welche Handlungs- und Aktionsformen dabei eine Rolle spielen?

FL: Es geht uns vor allem um die Hintergründe gesellschaftlicher Strukturen, darum, diese aufzuzeigen und für andere verständlich beziehungsweise nachvollziehbar zu machen. Deswegen müssen wir auch auf praktische Weise zur Tat schreiten und öffentlichkeitswirksame Aktionen machen. Solche politischen Interventionen haben uns letztlich bekannt gemacht. Es hat schon immer anti-koloniale Kämpfe gegeben, aber die offizielle Geschichtsschreibung versucht dies zu negieren und auszublenden. Warum werden wir wohl besser verstanden als andere, die vor uns oder gleichzeitig mit uns diese Kämpfe geführt haben? Weil wir auf kreative Weise zur Tat schreiten, damit die Leute auch Lust bekommen, uns zu verstehen. Dabei handelt es sich um einzelne politische Aktionen, bei denen zugleich nie aus den Augen verloren wird, dass es darüber hinaus um mehr, nämlich um gesellschaftliche Strukturen geht. Bei unseren Aktionen geht es darum, Fälle von vermeintlich unsichtbarem Rassismus aus der Deckung zu holen.

Ein Beispiel war unsere jüngste Intervention zu der Ausstellung Exhibit B. Das war eine Ausstellung von einem südafrikanischen Künstler, der explizit vorgab, anti-rassistisch zu sein[7]. Da haben wir uns dann selbst eingeladen, um ihm klarzumachen, dass seine Ausstellung entgegen seiner eigenen Überzeugung von einem Rassismus durchsetzt ist, der letztlich nur wesentlich schwieriger zu lesen ist. So etwas nennen wir Negrophobie: Wenn es explizit Schwarze betrifft. In seiner Ausstellung hat er Körper von Schwarzen ausgestellt, um Negrophobie und Rassismus anzuprangern. Dabei handelte es sich um verstümmelte Körper, Körper, die Opfer von verbrecherischer Sklaverei und kolonialen Verbrechen wurden. Allerdings gab es in der gesamten Ausstellung keinerlei Hinweise auf die Täter. Es handelte sich nur um einen Teil der Geschichte, nämlich um Schwarze als passive Opfer, die auf voyeuristische Weise zur Schau gestellt wurden. Wie es uns die offiziellen Geschichtsbücher glaubhaft machen wollen. Hierbei handelt es sich um ein Beispiel für strukturellen Rassismus, der seinen Ausdruck in der Arbeit eines Individuums findet, das zudem noch glaubt, dabei etwas Gutes zu tun[8].

PG: Wie waren die Reaktionen auf Ihre Intervention?

FL: Aktionen wie diese richten sich gegen eine bestimmte Art der Erinnerung an die ‚Abschaffung‘ der Sklaverei. Wenn ich das Wort ‚Abschaffung‘ hier in Anführungszeichen setze, dann deswegen, weil ich damit ausdrücken möchte, dass wir noch immer nicht in Freiheit leben und der französische Staat, der uns versklavt hat, diese Tatsache durch den sogenannten Humanismus zu verschleiern versucht. Wenn man die historischen Umstände betrachtet, wird jedoch klar, dass für diese Entwicklung in erster Linie kapitalistische Interessen verantwortlich sind und nicht der Humanismus. Während dieser Ausstellung zur Abschaffung der Sklaverei haben wir versucht vor Ort Präsenz zu zeigen. Doch bei solchen Aktionen scheint die französische Polizei jedes Mal den Befehl zu bekommen, uns daran gewaltsam zu hindern und nach Möglichkeit festzunehmen. In einem Land, das vorgibt demokratisch zu sein und die Meinungsfreiheit propagiert, scheinen négrophobie und die ‚question noire‘ ein enormes Problem darzustellen.

PG: Warum ist das so?

FL: Wenn man sich die Grundlagen kapitalistischer Strukturen anschaut, wird deutlich, dass diese direkt mit dem anti-schwarzen Rassismus zusammenhängen. Erst die Sklaverei von Schwarzen hat es den imperialistischen Staaten ermöglicht, in das industrielle Zeitalter einzutreten. Unser Verständnis von Rassismus beschränkt sich nicht auf zwischenmenschliche Beziehungen, sondern ist wesentlich komplexer. Wir glauben, dass in der staatlichen Gestaltung des Bildungssystems eine Strategie steckt, die die Menschen daran hindert, eine stark hierarchisierte Welt zu erkennen, in der die Schwarzen unten und die Weißen oben gehalten werden. Stattdessen gibt es diese ganze Augenwischerei, die uns glauben lassen soll, dass wir alle gleich seien. Doch diese Herrschaftsstrukturen werden von den einzelnen Individuen verinnerlicht und damit aufrechterhalten. Deshalb erschöpft sich unser Ziel nicht darin zu sagen, dass einzelne Personen rassistisch sind. Es gilt stattdessen, die staatlichen Strukturen zu bekämpfen, die dafür verantwortlich sind.

PG: Wenn sich Negrophobie ausschließlich gegen ‚die Schwarzen‘ richtet, frage ich mich, ob es nicht auch andere Gruppen oder Assoziationen wie die BAN gibt, die beispielsweise für die Rechte ‚der Araber‘ kämpfen. Wenn ja, gibt es da eine politische Zusammenarbeit?

FL: Bei der Negrophobie handelt es sich um Rassismus, der auf Schwarze abzielt. Vergleiche hinken zwar oftmals, aber wenn man als Arzt effektiv arbeiten will, muss man sich auch spezialisieren, beispielsweise in der HIV-Forschung oder der Krebsforschung. Mit dem Rassismus ist das ähnlich. Man kann nicht gegen Rassismus kämpfen, ohne anzuerkennen, dass dieser aus verschiedenen Bestandteilen und Formen besteht. Die Negrophobie ist eine davon. Um das Phänomen Rassismus effektiv anzugehen, muss man zunächst eine Diagnose stellen. Wir begrüßen es, wenn andere Gruppen, die ebenfalls von Rassismus betroffen sind, die jeweils spezifische Form benennen. Die Negrophobie hat, genau wie der anti-arabische Rassismus, ihren eigenen kolonialen Werdegang. Doch obwohl beide Entwicklungen den gleichen Ursprung haben, handelt es sich um verschiedene rassistische Ausdrucksformen und Stereotype, die man nicht mit den gleichen Mitteln bekämpfen kann. Was den Aspekt der Zusammenarbeit angeht, ist es uns wichtig, nicht unter uns Schwarzen zu bleiben, uns abzukapseln und nur für unsere Ziele zu kämpfen. Wir befürworten einen intersektionalen Ansatz in unserer politischen Praxis. Aber um gemeinsame Kämpfe zu führen, bedarf es zunächst einer Diskussion, aus der die gemeinsamen Aspekte herausgearbeitet werden müssen, um davon ausgehend einen gemeinsamen Fahrplan zu erstellen. Nur weil es verschiedene Formen der Unterdrückung gibt, heißt das noch nicht, dass man automatisch miteinander verbündet ist.

PG: Sie haben den Ausnahmezustand ja bereits erwähnt. Man hat den Eindruck, dass dieser hier in Frankreich zunehmend kritisch diskutiert wird. Wie schätzen Sie die Auswirkungen dieser Debatte ein?

FL: Der Ausnahmezustand und seine Verlängerung sind aktuell Gegenstand vieler Debatten. Erst vergangenen Sonntag, den 31. Januar 2016 gab es eine Demonstration gegen die Verlängerung des Ausnahmezustands, an der sich viele verschiedene soziale und ethnische Gruppen beteiligt haben. Dabei handelt es sich um eine ähnliche Grundsatzdebatte wie die zur Rechtfertigung der Sklaverei durch die imperialistischen Staaten. Es wird vermeintlich immer mit den besten Absichten gehandelt, um das nicht zu Rechtfertigende zu rechtfertigen. Die Anschläge waren etwas Schreckliches, das steht außer Frage. Aber es sind auch schon andere schreckliche Dinge geschehen, die von denen begangen wurden, die heute vorgeben, angegriffen worden zu sein. Die in diesen Fällen betroffenen Menschen haben nicht annähernd so viel Mitgefühl erfahren. Auch in dieser unterschiedlichen Wahrnehmung wird eine rassistische Logik offenbar.

Im Zusammenhang mit den Anschlägen ist immer wieder die Rede von ‚der Demokratie‘ und dass es sich dabei um einen Angriff auf unser Lebensmodell handelt. Aber ich frage mich, von welchem Lebensmodell da die Rede ist. Von dem, das uns versklavt und kolonisiert hat? Als die Weißen in Afrika eingefallen sind, wurde da diskutiert? Man muss diese einseitige Empörung in Frage stellen. An dem aktuell diskutierten Vorschlag des Entzugs der Staatsbürgerschaft wird diese Doppelmoral besonders deutlich. Soll ich Ihnen noch einmal in Erinnerung rufen, was Sklaverei bedeutet hat? Da wurden Afrikaner auch ihrer Staatsbürgerschaft beraubt, die sie bis heute nicht wiedergefunden haben. Aber dies spielt in der aktuellen Debatte zum Entzug der Staatsbürgerschaft keine Rolle! Stattdessen werden in dieser oberflächlichen Debatte die Menschen, denen es nicht erlaubt ist, ihre ursprüngliche Nationalität anzunehmen, völlig ignoriert. Das ist purer Rassismus. Wenn man diese Fragen stellt, wird man direkt in eine radikale und ‚rassistische‘ Ecke der ‚mangeurs des blancs[9] gestellt. Dabei sind wir schlicht Menschen, die selbst denken und versuchen gewisse Dinge aufzuzeigen. Vielleicht liegen wir damit auch manchmal falsch, und wir wollen auch nicht sagen, dass wir immer Recht haben. Aber warum nicht auch mal über die Fragen nachdenken, wie wir sie uns stellen? Warum sollen wir immer nur über die Fragen nachdenken, die uns vorgesetzt werden? Der Ausnahmezustand macht letztlich deutlich, dass es immer eine legitime Gewalt in der Gestalt der Polizei und des Strafvollzugssystems gibt. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass diese legitime staatliche Gewalt auch gerecht ist. Denn die Kolonisierung, die Sklaverei und die Neo-Kolonisierung waren beziehungsweise sind ungerecht. Wenn wir revoltieren, ist das eine illegitime Gewalt. Das ist letztlich eine rassistische Lesart von Gewalt. Gewalt gilt als gerecht, wenn sie vom Staat ausgeht. Ich spreche hier nicht von dem, was bei den Attentaten geschehen ist. Das ist ein anderes Thema, das ich nicht anschneiden möchte. Was dort geschehen ist, war schrecklich. Dennoch sollte man nicht einfach bei dieser Feststellung stehen bleiben, sondern sich auch fragen, was dazu geführt hat, dass Menschen so etwas tun. Man muss sich eben auch schwierige Fragen stellen und versuchen, darauf Antworten zu finden. Sonst gibt es keine Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens.

 

Übersetzung aus dem Französischen von Philippe Greif

 

Interview mit Mehdi Meftach, dem Pressesprecher der Parti des Indigènes de la République (PIR) aus Paris.

Philippe Greif: Hatten die Aufstände von 2005 eine Bedeutung für ihre Bewegung?

Mehdi Meftach: Ja, natürlich. Der Aufruf der Indigènes de la République[10] wurde einige Monate vor den Aufständen veröffentlicht. Wir waren die ersten, die nach den Aufständen ein Treffen zu diesem Thema organisiert haben. Wir denken, dass diese Aufstände eine politische Dimension hatten, die ganz Frankreich auf den Kopf gestellt hat. Drei Wochen lang dauerten die Aufstände in den Vorstädten. Und die Antwort der Regierung war, Minister_innen mit Migrationshintergrund für das Kabinett zu benennen. Das war Augenwischerei, denn es war eine Art zu sagen: Ihr habt eine psychische Verletzung und wir werden für euch einen Ausgleich schaffen, wir werden das Problem lösen, indem wir symbolisch einige bekannte Gesichter zu Minister_innen ernennen. Zum Beispiel die Justizministerin Rachida Dati. Wir sind nicht nur wegen der Anerkennung in der Politik. Wir sind dort, damit es einen Umbruch im Herzen der französischen Gesellschaft gibt, im Herzen ihrer Institutionen und ihrer Macht.

Die Aufstände waren ein Umsturz in der französischen Gesellschaft. Eines der Probleme ist, dass sie bis jetzt keine politische Form finden konnten. Es gab einfach hier und dort Aufstände. Sie waren politisch bedeutsam, weil ihre Botschaft an Frankreich war: „In der Theorie und laut der Verfassung sind wir Franzosen wie ihr, aber in Wirklichkeit werden wir immer noch aus dem Bildungssystem ausgeschlossen, sind bei der Arbeit Diskriminierung ausgesetzt, ebenso wie wir Polizeikontrollen und rassistische Verbrechen der französischen Polizei ertragen müssen – Verbrechen, die ungestraft bleiben, oder sogar vom französischen Gerichtswesen unterstützt werden“. Es war sehr wichtig, dass die Aufstände mit dem republikanischen Mythos gebrochen haben. Dem Mythos, dass in der französischen Gesellschaft alle gleich sind und dass wir deshalb kein Problem haben, weil das Problem in der Verfassung geregelt worden ist. Dieser offizielle Mythos ist auch in dem Aufruf der Indigènes de la République als Fiktion entlarvt worden. Zusammen mit anderen Mobilisationsformen hat er dafür gesorgt, dass die Menschen sich jetzt selbst autonom organisieren. Mit diesen Mobilisationsformen überlassen sie niemand anderem die Möglichkeit, an ihrer Stelle zu sprechen.

PG: Was war das Ziel dieses Aufrufs?

MM: Ziel des Aufrufs war es eine öffentliche Debatte zur kolonialen Frage in Frankreich durchzusetzen. Diese Frage ist für uns keine Frage der Vergangenheit, sondern eine, die zur „Vergangenheitsgegenwart“ Frankreichs gehört. Dem Aufruf folgend haben wir einen großen Marsch organisiert, den „Marche des Indigènes de la République“, der am 8. Mai 2005 stattfand. Als symbolträchtiges Datum wurde der 8. Mai gewählt. Das ist der Tag der Befreiung Frankreichs [im Zweiten Weltkrieg, Anm. PG] und auch der Tag, an dem Frankreich ein koloniales Massaker in den algerischen Städten Sétif, Guelma und Kherrata[11] begangen hat. Das Datum ist auch symbolisch, da es [von Seiten des Staates und der Gesellschaft, Anm. PG] ein bestimmtes Verhalten gegenüber Französinnen und Franzosen gibt, die der Kolonisation und der Sklaverei entstammen[12]. Diese Doppelmoral, diese zwei unterschiedlichen Arten, jemanden zu behandeln, haben für uns nichts mit einem Rassismus zu tun, der daraus entsteht, dass eine Unterscheidung zwischen sich selbst und dem Anderen gemacht wird und Unkenntnis oder Misstrauen gegenüber dem Anderen herrscht. Einem Rassismus, der mit der Zeit vorbeigeht. Nein, der Rassismus, den wir meinen, hat seine materiellen Wurzeln in der Kolonial- und Sklavereigeschichte Frankreichs. Frankreich hat nie mit der kolonialen Vergangenheit gebrochen – weder, was die staatlichen Praktiken, noch was die Institutionen anbelangt. Deshalb haben wir die Bewegung der Indigènes de la République gegründet. Eine politische Organisation für die Menschen zu schaffen, die nach wie vor von diesen kolonialen Praktiken betroffen sind, ist für uns der beste Weg, wirklich eine gesellschaftliche Veränderung durchzusetzen. Denn wir stellen fest, dass die anderen politischen Parteien sich dieser Fragen nicht annehmen – was in den meisten Fällen damit zu tun hat, dass sie weiß sind.

PG: Wie begegnen Sie dieser Ignoranz?

MM: Wir sind als politische Partei organisiert. Der wichtigste Unterschied ist, dass Personen, die zu den Betroffenen gehören, die Organisation leiten. Wir brechen dadurch mit dem, was die anderen politischen Parteien Frankreichs tun. Sie sprechen zwar von Rassismus, Sexismus, usw., aber die durch diese Strukturen Betroffenen bleiben ausgeschlossen. Unsere Partei besteht hauptsächlich aus Araber_innen und Schwarzen. Wir agieren mit politischen Mitteln wie Meetings und Demonstrationen. Und wir wollen den Menschen zu Hilfe kommen, die Hilfe brauchen. Zum Beispiel sind wir zu Fragen von Polizeiverbrechen gut organisiert. Wir handeln zusammen mit den Familien der Opfer von Polizeigewalt. Auch mobilisieren wir für die palästinensische Frage und für das Problem der Islamophobie. Nach dem Aufruf der Indigènes de la République haben wir uns 2006 in eine Bewegung verwandelt. Wir wollen mit der Illusion brechen, die etablierten politischen Parteien in Frankreich transformieren zu können. Doch dazu müssen wir zunächst ein ausreichend hohes politisches Gewicht entwickeln. Um auszudrücken, dass nur wir selbst uns unserer Fragen annehmen können, haben wir uns 2010 entschieden, die Form einer Partei anzunehmen.

Es gibt bereits eine soziale Kraft innerhalb der Gesellschaft. Aber diese soziale Kraft muss sich auch als politische Macht ausdrücken. Zum Beispiel haben wir nach den Attentaten im Januar ein großes Treffen gegen Islamophobie veranstaltet. Das war die erste Aktion, die sich gegen die rassistische Offensive der französischen Regierung und vieler politischer Parteien richtete. Wenn wir uns nicht zuvor als Partei organisiert hätten, wäre es schwer gewesen, gegen diesen Angriff anzugehen. Wir haben uns beispielsweise an dem Marsch für die Würde und gegen Rassismus beteiligt, der von dem migrantischen Frauenkollektiv MAFED[13] organisiert wurde. Es waren ausschließlich migrantische Organisationen, die über den politischen Inhalt dieser Demonstration bestimmt haben. Andere französische politische Parteien konnten diese Demonstration unterstützen, wenn sie wollten. Aber eben unterstützen und nicht an unserer Stelle über alles entscheiden, was sie bisher immer getan hatten. Es war ein sehr großer Marsch und für die Organisationen, die es nicht gewohnt sind, miteinander zu arbeiten, eine super Sache. Im Prozess des Aufbaus dieser politischen Kraft, von der ich sprach, war das sehr wichtig.

PG: Politikverdrossenheit, mangelnde Organisierung, mangelndes Interesse und politisches Engagement gehören zu den negativen Klischees der banlieues. Die PIR scheint genau das Gegenteil davon zu sein. Können Sie uns Ihre Erfahrungen in diesem Zusammenhang beschreiben?

MM: Die Leute sind politikverdrossen, weil die politischen Organisationen sich nicht für sie einsetzen. Das haben wir bei den letzten Wahlen gesehen. Die Mehrheit der Franzosen ist nicht zum Wählen gegangen. Das hat eine politische Bedeutung. In den Vorstädten ist diese Verdrossenheit noch signifikanter. Die Bevölkerung und die Jugend der Vorstädte erkennen sich in einer politischen Ausdrucksweise nur dann wieder, wenn sie den Eindruck haben, dass ihren Forderungen, ihren Wünschen auch Rechnung getragen wird. Wir haben uns niemals abgesprochen, aber es stellte sich heraus, dass 2005 drei Organisationen quasi gleichzeitig entstanden sind. Die Brigade Anti-Négrophobie, das CCIF[14], ein Kollektiv, das erfolgreich gegen Islamophobie kämpft, und die Organisation der Voix des Rroms[15]. Die Tatsache, dass die Indigènes de la République gemeinsam mit anderen Organisationen anfangen, sich dieser Fragen anzunehmen und die Bewohner_innen der Vorstädte weiter zu politisieren, ist bedeutsam. Aber der Weg wird lang sein, denn indigene Politik[16] ist in Frankreich etwas Neues. Es gibt sie erst seit knapp dreißig Jahren. Seit dreißig Jahren wollen wir Frankreich verändern. Und es wird noch viele Jahre dauern, mit Fortschritten und Rückschlägen. Aber dieser Weg ist für uns der Königsweg für eine wirkliche Veränderung in der französischen Gesellschaft und für die Beseitigung einer rassistischen Gesellschaftsordnung, die unser Leben untergräbt.

PG: Denken Sie, dass sich die Situation in den Vorstädten heute, zehn Jahre nach den Aufständen, verändert hat?

MM: Ich würde nicht sagen, dass sich die Dinge nicht verändert haben. Es gibt Dinge, die sich verschlechtert haben und es gibt Dinge, die sich ein wenig zum Besseren gewandelt haben. Aber wir stellen insgesamt mehr Rassismus, Repression und Marginalisierung durch staatliche Politik fest. Die einzigen politischen Antworten sind Klientelismus und Repression. Jedes Mal, wenn es einen Aufstand gibt, ist die Antwort die, die Leute zu inhaftieren. Das haben wir bei den Demonstrationen für Palästina gesehen. Die jungen Leute aus den Vorstädten, die von der Polizei verhaftet wurden, haben alle Gefängnisstrafen ohne Bewährung bekommen. Zuletzt nach den Attentaten gab es Hausdurchsuchungen bei mehreren Personen, die nichts damit zu tun hatten, aber Araber_innen oder Muslim_innen waren. Die Polizei hat die Türen eingetreten und alles zerstört, was ihnen im Weg stand. Sie haben dabei ganze Familien beleidigt. Dieses koloniale Verhalten ist leider nach wie vor die Behandlung, die die Regierung den Menschen in den Vorstädten zukommen lässt.

PG: Nach den Aufständen von 2005 wurden eine Vielzahl von politischen Organisationen und Assoziationen gegründet. Wo genau liegen die Schwierigkeiten politischer Arbeit in den Vorstädten bis heute?

MM: Die erste Schwierigkeit sind die mangelnden Mittel, die uns zur Verfügung stehen. Wenn man marginalisiert ist, wenn man unterdrückt wird, dann hat man keine Mittel. Und wenn wir es manchmal schaffen, Mittel zu bekommen, dann ecken wir mit den Ordnungskräften an oder müssen uns gegen ihre politischen Attacken wehren. Seien es die Kommunen, sei es die Regierung selbst, die uns nicht die nötigen Mittel geben, um die Probleme der Menschen, die in den Vorstädten leben, wenigstens teilweise zu beseitigen. Ich erinnere mich, dass zu der Zeit mehrere Organisationen Beschwerdebücher eingeführt haben, die sie auch im Parlament eingereicht haben. Aber das hatte keine realen Folgen, außer der, dass auch noch ihre Räumlichkeiten zerstört wurden. Hinter diesen Zerstörungen steht der Wille zu verhindern, dass Menschen sich erfolgreich unabhängig politisch organisieren können. Man muss sie auseinander treiben, damit sie sich nicht zu einer selbstorganisierten Masse zusammenfinden. Der Staat befürchtet, dass unabhängig von ihm kollektive Antworten auf Probleme gefunden werden, die uns die gegenwärtige politische Ordnung aufzwingt.

PG: Die Verlängerung des Ausnahmezustands, mit dem die Regierung auf die Attentate vom 13. November 2015 reagiert hat und die damit einhergehende temporäre Aussetzung der Grundrechte stehen zunehmend in der Kritik. Wie bewerten Sie diese Maßnahmen und ihre Konsequenzen?

MM: Diese Maßnahmen existierten schon vorher. Aber sie existierten gewissermaßen in Anführungszeichen und wurden nicht so genannt. Auch wenn es keinen Ausnahmezustand gab, wurden Leute mehrfach durchsucht. Man beruft sich dabei auf die berühmte „Kartei S“. Das ist eine Kartei, in die jeder beliebige Polizist irgendetwas schreiben kann, ohne dass es kontrolliert wird. Das kann reichen, um jemanden zum Hausarrest zu zwingen, jemanden daran zu hindern, arbeiten zu gehen, normal mit der Familie zu leben oder für den eigenen Unterhalt zu sorgen. Das gab es schon vorher und jetzt gibt es einen gesetzlichen Rahmen dafür, der dies sogar noch ausweitet. Das heißt, dass die französische Regierung nun dafür gesorgt hat, dass das offizielle Recht dem realen Recht angepasst wird. Wir wussten bereits vorher, dass es für uns doppelte Standards gibt. Man muss sich nur die Hausdurchsuchungen anschauen und die Moscheen, die vom Staat geschlossen werden. Sie gehen in die Moscheen rein und schmeißen den Koran auf den Boden. Sie benutzen Worte des Hasses und Beleidigungen. Es ist wirklich eine Erniedrigung, es gibt einen Willen zur Erniedrigung. Und die Polizisten bewegen sich jetzt in einem Zustand der absoluten Straflosigkeit.

 

Übersetzung aus dem Französischen von Janna Frenzel

Endnoten

Autor_innen

Franco Lollia ist Pressesprecher des Kollektivs Brigade Anti-Négrophobie aus Paris.

 

Mehdi Meftach ist Pressesprecher der Parti des Indigènes de la République (PIR) aus Paris.

 

Philippe Greif ist Soziologe mit Interesse an urbaner Marginalität, Ethnographie, Intersektionalität/sozialer Ungleichheit und Geschlechterforschung. Er forscht aktuell zum Alltag von Jugendlichen in Pariser Banlieues.

phi.greif@googlemail.com