„Wir sind der Zorn“ (Exoume thn Orgh). Die Romanos-Bewegung 2014 in Griechenland als konstituierender Bruch im postpolitischen Krisenregime

Dilan Köse

1. Einleitung

Die Geschichte von Nikos Romanos liest sich wie ein Drehbuch: Am Abend des 6. Dezember 2008 ist Nikos Romanos Augenzeuge, als sein Freund Alexandros Grigoropoulos kaltblütig von einem Polizisten im Athener Stadtteil Exarchia erschossen wird. Der Mord an dem fünfzehnjährigen Alexandros, der in den Armen seines Freundes Nikos stirbt, löst die größten Proteste in Griechenland seit Jahrzehnten aus. Als Dezemberproteste 2008 markieren sie den Beginn eines neuen globalen „Protestzyklus“[1] (Seferiades/Johnston 2012). Nikos Romanos, der den Mord an seinem besten Freund als „Exekution aus kürzester Entfernung“[2] (The Press Project 2014) bezeichnet, lehnt es anschließend ab, in den Gerichtsverhandlungen zum Mord an seinem Freund anwesend zu sein.

Mehr als vier Jahre später befindet sich der bekennende Anarchist selbst vor Gericht. Gemeinsam mit drei seiner Genossen versucht er im Februar 2013 einen, eigenen Aussagen zufolge politisch motivierten, bewaffneten Überfall auf eine Bankfiliale in Kozani, im Norden Griechenlands, durchzuführen. Beim anschließenden Fluchtversuch werden Nikos Romanos, Andreas-Dimitris Bourzoukos, Giannis Michailidis und Dimitris Politis von der Polizei gestellt. Im anschließenden Gewahrsam werden sie von Polizeibeamten dermaßen misshandelt, dass die Fahndungsfotos vor ihrer Veröffentlichung[3] digital überarbeitet werden müssen, um die Verletzungen zu kaschieren (Papoutsi 2013). Die vier jungen Männer, denen unter anderem vorgeworfen wird, Mitglieder der Stadtguerilla-Gruppe „Sunomosia Purinon tis Fotias“ („Verschwörung der Feuerzellen“, kurz: SPF) zu sein, werden unter dem Vorwurf des bewaffneten Banküberfalls zu Haftstrafen zwischen zehn und sechzehn Jahren verurteilt[4] (Limneou 2014). Nikos Romanos, der sich während seiner Haftzeit auf das nationale Examen zur Studienzulassung vorbereitet hat, wird dann im Frühjahr 2014 offiziell zum Studium an der technischen Hochschule in Athen (TEI) zugelassen. Laut Gesetz steht ihm daher ab Semesterbeginn im September 2014 Bildungsurlaub zu, um regelmäßig an den Vorlesungen teilnehmen zu können. Im Herbst soll Nikos Romanos neben anderen Insassen sogar bei einer staatlichen Zeremonie für seine akademischen Leistungen geehrt werden. Romanos, der aus politischen Gründen an der Veranstaltung nicht teilnimmt, erhält bald darauf eine Absage für seinen Antrag auf Bildungsurlaub. Laut Gesetz muss der Antrag von einem speziellen Richter genehmigt werden. Dieser lehnt den Antrag jedoch ab – mit Hinweis auf das Vorstrafenregister Romanos‘ und angebliche Fluchtgefahr (The Toc 2014a).

Nikos Romanos tritt daraufhin am 10. November 2014 in einen Hungerstreik, um sein Recht auf Bildung einzufordern. In einer ersten öffentlichen Erklärung mit dem Titel „Ersticken für einen Atemzug Freiheit“ schreibt er:

„Im vorigen Frühling beteiligte ich mich vom Gefängnis aus an Aufnahmeprüfungen verschiedener Universitäten und wurde an einer Fakultät in Athen angenommen. Ihren Gesetzen entsprechend habe ich seit September 2014 das Recht auf Bildungsurlaub […]. Wie erwartet trafen meine Anfragen hierfür auf taube Ohren, was mich dazu bringt, meiner Forderung nach Hafturlaub Nachdruck zu verleihen, indem ich meinen Körper als Barrikade benutze […]. Ich verteidige nicht ihre Legitimität; im Gegenteil, ich verwende das politische Mittel der Erpressung, um Atemzüge der Freiheit aus den vernichtenden Bedingungen der Einkerkerung zu gewinnen […]. Keinen Schritt zurück, mit Anarchie für immer in meinem Herzen. SOLIDARITÄT HEISST ANGRIFF.“ (Romanos 2014a)

In den folgenden Wochen finden in Griechenland landesweit Proteste in Solidarität mit dem Nikos Romanos‘ Hungerstreik statt. Dabei deuten Reichweite, Intensität, Kontinuität sowie die Zusammensetzung der Proteste und die Solidarität innerhalb der Bevölkerung darauf hin, dass die Proteste über die bloße Forderung von Bildungsurlaub für Nikos Romanos hinausreichen und in einem breiteren gesellschaftspolitischen Kontext zu verstehen sind. Die Bewegung, die sich nun formiert, setzt sich zusammen aus unterschiedlichen sozio-politischen Hintergründen. So beteiligen sich neben breiten Teilen der Anarchistischen und Antiautoritären Bewegung (kurz: AA/AK[5]) und Mitgliedern linker Gruppen und Parteien auch Student_innen, Schüler_innen, Eltern, Arbeiter_innen und Arbeitslose. Neben zahlreichen Demonstrationen, Kundgebungen und temporären Besetzungen von Universitäten, Rathäusern, TV- und Radiosendern und anderen öffentlichen Institutionen sind die Proteste zudem immer wieder durch Phasen von riots geprägt, in welchen Protestierende gezielt Angriffe gegen die Polizei, öffentliche Institutionen und Banken ausüben.

Dieser Artikel ist der Versuch eines umfangreichen Einblicks in die Protestereignisse, welche hier vor dem Hintergrund politischer Entwicklungen in der heutigen Ära europäischer Austeritätspolitiken diskutiert werden. Es wird argumentiert, dass die Situation Griechenlands, insbesondere in der letzten Dekade, durch eine Zunahme staatlicher Repression und damit einhergehend einer Eliminierung jeglichen Widerspruchs (Shantz 2014) gekennzeichnet ist. In Anknüpfung an das Verständnis von Politik im Sinne der neueren Theorien des Politischen (Rancière 2014; 2008, Žižek 2006) führt der Artikel diese theoretischen Überlegungen weiter aus und diagnostiziert für Griechenland die Entwicklung hin zu einer postpolitischen Ordnung, in welcher es keinen Raum für politische Subjektwerdung und die Artikulation von Dissens gibt.

Der Artikel vertritt die These, dass es der Romanos-Bewegung gelang – und damit ist sie in den Kontext der griechischen Krisenbewegung seit 2008 einzubetten – diesen postpolitischen Zustand temporär zu unterbrechen, indem sie mithilfe eines Zusammenspiels verschiedener politischer Praktiken – Besetzungen öffentlicher Institutionen, Demonstrationen, Kundgebungen und riots – ihren eigenen Raum konfigurierte, in welchem die Protestierenden als politische Subjekte ihren Streit mit dem Opponenten austragen konnten (Rancière 2014: 41). Damit kommt den riots, entgegen hegemonialer Deutungen als „anomische, spontane und apolitische“ (Della Porta/Gbikpi 2012: 88; Übers. d. A.) Ereignisse, durchaus eine politische Dimension zu. Riots werden hier keinesfalls als isolierte oder abgegrenzte Ereignisse verstanden, sondern als Teil des Prozesses der Wiederaneignung und Umgestaltung von Raum zur Austragung des Streits und politischer Subjektkonstitution, welcher sich innerhalb des Protestzyklus der Romanos-Bewegung vollzog (Simiti 2012: 2). Ferner argumentiert der Artikel, dass sich die Romanos-Bewegung in Phasen des rioting, anders als bei Demonstrationen und Kundgebungen, welche sich insbesondere durch im institutionellen Rahmen herangetragene Forderungen auszeichneten (Day 2006:89), vor allem durch die Anwendung kollektiver physischer Gewalt (Della Porta 1995) als Gegenspieler im politischen Streit mit dem Staat konstituierte.

Riots sind im Folgenden definiert als räumlich und zeitlich begrenzte Protestereignisse mit geringem Organisierungsgrad (Simiti 2012: 1f.), welche aus der „Radikalisierung eines Konflikts zwischen verschiedenen Akteuren, institutionell oder nicht-institutionell“, entstehen und durchaus die Fähigkeit besitzen, Protestakteuren als „politisches Instrument zur Verhandlung“ zu dienen sowie als Strategie, um sich Anerkennung und Gehör zu verschaffen (Della Porta/Gbikpi 2012: 88ff.; Ü. d. A.). Als eine kollektive Form „politischer Gewalt“ kommen sie dabei oft zielgerichtet zur Anwendung gegen die Polizei, öffentliche Institutionen, Banken sowie gegen Privateigentum, mit dem Ziel, das Eigentum zu zerstören oder zu entwenden (ebd., Della Porta 1995: 4). Riots werden daher von der hegemonialen Ordnung als illegitim aufgefasst (Della Porta 1995: 3f.)[6]. Als ideologisch gefärbter Begriff werden riots von sozialen Bewegungen oder politischen Gruppen meist jedoch durch das Prinzip der „Gegengewalt“ (Marcuse 1966) theoretisch legitimiert.

Die empirische Analyse der Protestereignisse bedient sich verschiedener Datenerhebungsmethoden. So wurden vor allem Dokumente der Romanos-Bewegung gesichtet und ausgewertet, die im Zeitraum November und Dezember 2014 digital und in Druckform erschienen sind. Recherchiert und analysiert wurden zudem zahlreiche Artikel in den digitalen Archiven verschiedener griechischer und internationaler Tageszeitungen und Nachrichtenmagazine.

Eigenes empirisches Material wurde einerseits mithilfe von leitfadengestützten Einzelinterviews erhoben, welche im Mai 2015 mit vier Bewegungsmitgliedern geführt wurden[7]. Darüber hinaus wurden im Zeitraum November-Dezember 2014 weitere Daten in Athen im Rahmen teilnehmender Beobachtungen in Vollversammlungen, Demonstrationen und Kundgebungen der Bewegung gewonnen. Das gesamte Datenmaterial wurde anschließend mittels qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet. Die methodische Triangulation der Analyse gewährleistet eine Verdichtung des empirischen Datenmaterials.

Zusammen mit den aus der Literaturanalyse gewonnenen Ergebnissen bieten die Interviewaussagen und die Notizen der Feldprotokolle einen tiefen Einblick in die Protestereignisse, welche in Abschnitt 2 in Form einer Ereignischronologie detailliert dargelegt sind. Abschnitt 3 liefert eine ausführlichere Diskussion der zuvor dargelegten zentralen Thesen dieses Artikels, während Abschnitt 4 einen Blick auf die Wirkungen der Proteste wirft und einen vorsichtigen Ausblick vornimmt.

2. Zwischen Forderung und Aktion – Eine Chronologie der Ereignisse

Solidarische Akte für Nikos Romanos

Bereits wenige Tage nachdem Nikos Romanos seinen Hungerstreik beginnt, üben verschiedene politische Untergrundgruppen kleinere Angriffe auf öffentliche Institutionen aus, die sie nach eigener Aussage in Solidarität mit Nikos Romanos und mit dem ebenfalls in Haft sitzenden Iraklis Kostaris durchführen (Athens Indymedia 2014a). Iraklis Kostaris, Gründungsmitglied der Stadtguerilla-Gruppe 17N[8], befindet sich bereits seit dem 29. Oktober 2014 ebenfalls im Hungerstreik, weil ihm der Bildungsurlaub entzogen worden ist. Am 17. November schließt sich dann auch Giannis Michailidis, der im Februar 2013 gemeinsam mit Romanos verhaftet worden war, seinem Freund und Genossen im Hungerstreik an (Limneou 2014).

In den Folgetagen führen Unbekannte weitere Aktionen in Solidarität mit den hungerstreikenden Gefängnisinsassen durch. Unter anderem wird am 19. November das Büro der Regierungspartei Nea Dimokratia (ND) in Athen angegriffen (Athens Indymedia 2014a). Am 23. November bringt eine Gruppe Unbekannter eine aus Gaskanistern gebastelte Bombe vor dem Haus des Präsidenten der Polizeigewerkschaft in Thessaloniki zur Detonation. In einem Bekennerschreiben betonen die Täter_innen, dass es notwendig sei, in einer Zeit, in welcher der Staat „massive Angriffe“ auf diejenigen ausübt, die kämpfen, sich solidarisch mit dem Kampf von Nikos Romanos zu zeigen, da sein Kampf „im Falle eines Sieges als ein Bollwerk gegen den Repressionsangriff und als Sprungbrett für neue Kämpfe dienen wird“ (Asirmatista 2014).

Aufgrund der Verschlechterung seines Gesundheitszustands wird Nikos Romanos am 24. November 2014 ins staatliche Krankenhaus Gennimatas in Athen eingeliefert, wo er sich unter strenger polizeilicher Bewachung befindet. Am nächsten Tag findet sich eine erste Protest-Versammlung mit circa 200 Mitgliedern der Anarchistischen/Antiautoritären Bewegung vor dem Krankenhaus ein. In den folgenden Tagen finden weitere Solidaritätsaktionen statt. Unter anderem beteiligen sich am Sonntagabend, den 30. November, circa 200 Mitglieder der AA/AK-Bewegung in Athen an einer Motorrad-Patrouille. Die Patrouille fährt auch am Parlamentsgebäude vorbei, wo sie einen kurzen Zwischenstopp macht, um ihre Solidarität mit den circa 300 syrischen Flüchtlingen zu bekunden, die seit dem 19. November vor dem Parlament zelten[9]. Noch am selben Abend kommen circa 2.000 Menschen zu der bereits dritten Kundgebung vor dem Krankenhaus zusammen.

In der Nacht finden im Stadtteil Exarchia im Athener Zentrum in kleinerem Ausmaß riots statt. Protestierende zünden mehrere Autos und Mülltonnen an. Es kommt zu Ausschreitungen zwischen den riotern und der Polizei. In weiteren Städten im Land finden Motorrad-Patrouillen und Kundgebungen in Solidarität mit den Hungerstreikenden statt (Athens Indymedia 2014a).

Aus den Reihen des Parlaments werden zu diesem Zeitpunkt erste Stimmen laut, die den Antrag von Romanos als gerechtfertigt betrachten und sich daher für eine Gewährung des Bildungsurlaubes aussprechen. So fordert die damalige Oppositionspartei Syriza die Regierung auf, „das Leben und die Gesundheit eines jungen Menschen“ zu schützen, während die Menschenrechtsgruppe der sozialdemokratischen Koalitionspartei PASOK in einem Statement betont, dass Romanos „alle Rechte, die durch das Gesetz unterstützt werden“ zustehen und „Demokratie“ sich „nicht durch Rache“ erzielen lasse, nicht einmal wenn es dabei um einen „Todfeind“ geht (To Vima 2014a).

Wenig beeindruckt von den Äußerungen der anderen Politiker_innen unterbreitet Justizminister Athanasiou am 1. Dezember den Vorschlag, dass Nikos Romanos und Iraklis Kostaris ihr Studium per Fernunterricht durchführen können – ein Akt der „Machtdemonstration“, wie die Professorin für Politikwissenschaft Anastassia Tsoukala ihn einen Tag später bei einer Pressekonferenz interpretiert (The Toc 2014b). Fast prophetisch äußert Giorgos Romanos, der im Verlauf des Hungerstreiks seines Sohnes immer häufiger in den Fokus der Presse gerät, in einem Interview zu dem Vorschlag von Justizminister Athanasiou, dass der Justizminister und die Regierung „die alleinige Verantwortung für das tragen, was von jetzt an geschieht“ (The Toc 2014b).

Tatsächlich führen Protestierende, welche die Reaktion des Justizministers als rachsüchtige Taktik und als Versuch der Depolitisierung des Kampfes von Nikos Romanos interpretieren, noch am selben Tag weitere Protestaktionen durch. Unter anderem versammeln sich mehrere Mitglieder der AA/AK-Bewegung am Abend des 2. Dezembers zu einer Intervention vor dem Haus des Vizepräsidenten Evangelos Venizelos (To Vima 2014b).

Gleichzeitig treten nun auch Andreas Bourzoukos und Dimitris Politis, die beide ebenfalls im Februar 2013 an dem Überfall auf die Bank beteiligt waren, solidarisch in den Hungerstreik. Am selben Abend wird die polytechnische Hochschule, die ihren Standort im Athener Stadtteil Exarchia[10] hat, von Mitgliedern der AA/AK-Bewegung besetzt. In ihrem ersten Statement interpretieren die Besetzer_innen die andauernden Hungerstreiks als Teil des Widerstands gegen repressive Staatspolitiken und nehmen Bezug auf die Dezemberproteste 2008:

„Seit heute, 1. Dezember 2014, ist das Athener Polytechnikum besetzt, um ein Zentrum der Solidarität und des Engagements für den anarchistischen Hungerstreiker Nikos Romanos […] und den Rest der Genossen, die sich in Solidarität mit Nikos im Hungerstreik befinden, […] zu werden. […] Die politischen Entscheidungen von Nikos Romanos und sein militantes Engagement für den Kampf markieren die Fortsetzung der Revolte im Dezember 2008 […] Der Kampf der hungerstreikenden Gefangenen um einen Atemzug Freiheit, gegen die Brutalität der Einkerkerung und die stetig zunehmende Repression des Gefängnissystems (z. B. die Aussetzung und Verweigerung des Urlaubs, der umfassende Gebrauch der Einzelhaft, der Bau von neuen Typ-C-Maximum-Sicherheitsgefängnissen) geht Hand in Hand mit dem Kampf aller unterdrückten Menschen gegen die Unterwerfung und Verwüstung unserer Leben […] “ (Versammlung des besetzten Polytechnikums 2014a)

Innerhalb der Gefängnisse treten landesweit zahlreiche Häftlinge für mehrere Tage in den Hungerstreik, während sich Petros Damianos, der Schullehrer von Romanos, der ihn während seiner Haftzeit unterrichtet hatte, an die Öffentlichkeit wendet und um Unterstützung für den Kampf seines Schülers für das Recht auf Bildung bittet (Prifti 2014).

Die Solidarität weitet sich aus

Es sind diese Ereignishintergründe, vor denen die gesellschaftliche Reichweite der Solidaritätsproteste eine neue Dimension gewinnt. Der Hungerstreik von Nikos Romanos erfährt Zustimmung von Teilen der Bevölkerung, die sich nicht unbedingt mit den politischen Überzeugungen und Aktionen der anarchistischen Gefängnisinsassen identifizieren, jedoch das willkürliche Verhalten des griechischen Staates als Unrecht empfinden, durch das Romanos und anderen Häftlingen wesentliche Grundrechte verweigert werden.

Neben Mitgliedern der AA/AK-Bewegung, linker Gruppen und Parteien beteiligen sich immer mehr Schüler_innen, Student_innen, Eltern, Lehrer_innen und Ärzte an den Protesten. Die Motive für die Partizipation verschiedener Bevölkerungsteile in der Solidaritätsbewegung gehen besonders deutlich hervor aus der öffentlichen Erklärung des besetzten Rathauses in Agia Paraskevi, im Norden Athens. Demnach scheint sich im Zuge der Austeritätspolitik und der damit einher gehenden Verschärfung staatlicher Repression eine allgemeinere politische Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung verbreitet zu haben:

„Es ist kein Zufall, dass angesichts des Kampfes von Nikos Romanos Arbeiter_innen, Arbeitslose und Student_innen in Solidarität heute hier zusammengekommen sind, um sich dem [...] Autoritarismus der Notstandsregierung zu widersetzen, der heutzutage unser aller Alltagsleben bestimmt [...]“(Athens Indymedia 2014b).

Die Protestierenden Dimos und Danai beschreiben die Motive für ihre Partizipation wie folgt:

„Ich bin in keiner politischen Gruppe organisiert oder so. Aber ich nehme an Protesten teil [...]. Die Situation mit Romanos hat mir nicht gefallen [...], dass er keinen Bildungsurlaub bekommen hat. Ich meine, die gesamte politische Situation in Griechenland gefällt mir nicht. Der Staat foltert uns. Und mit Folter meine ich nicht Folter, wie wir sie normalerweise verstehen. Ein Monatslohn von 500 Euro ist Folter.“[11]

„Für mich war die Sache ziemlich simpel. Ich wollte nicht, dass Nikos stirbt. Ich war beeindruckt von seinem Kampf. Der Staat fühlte sich erpresst und wollte nicht nachgeben. Nikos war bereit, für sein Grundrecht auf Bildung zu sterben. Es war ein symbolischer Kampf [...]. Dafür brauchte er unsere Unterstützung. Sein Kampf war unser aller Kampf. Sein Scheitern wäre eine Niederlage für uns alle gewesen.“[12]

Die Solidaritätsbewegung tritt Anfang Dezember in eine durch riots dominierte Protestphase. Die Bewegung, welche das Verhalten des Staates gegenüber dem Hungerstreik von Romanos als Angriff und als systematischen Versuch interpretiert, die gesamte Protestbewegung in Griechenland zu unterdrücken und zu schwächen, erklärt das Anzünden von Autos und Anschläge auf Banken zum legitimem Mittel der politischen Verhandlung mit dem Staat, wie Protestteilnehmer Arsenis beschreibt: „Du schaffst deine eigenen Bedingungen für die politische Debatte. Du diskutierst nicht, du kommunizierst mit anderen Mitteln. Du zwingst sie [die Regierung und den Staat], auf deinem Terrain zu spielen.“[13]

Am 2. Dezember findet im Zentrum von Athen die erste große Massendemonstration mit circa 15.000 Menschen statt, wobei sich im Stadtteil Exarchia anschließend mehrere hundert Demonstrant_innen Straßenschlachten mit der Polizei liefern. Dutzende Autos werden dabei von den Demonstrant_innen angezündet. Vor dem besetzten Polytechnikum halten die rioter einen öffentlichen Bus an, bitten die Passagiere und den Fahrer, den Bus zu verlassen und setzen den Bus anschließend in Brand.

Mehrere Demonstrant_innen werden an diesem Abend verletzt. Zehn Personen werden festgenommen und zur Haupt-Polizeiwache abgeführt, wo sie von der Polizei misshandelt werden. Zwei Abgeordnete der Syriza, welche die Festgenommenen in der Nacht besuchen wollen, berichten später von „blutüberströmten Zwischengängen“ in dem Stockwerk, in dem die Festgenommen sich aufgehalten hätten (Left.gr 2014). Informationen über Zustand oder Aufenthalt der Verhafteten werden den Abgeordneten von der Polizei verweigert. Die Festgenommenen dürfen weder mit ihren Familien noch mit ihren Anwälten kommunizieren.

Die Besetzer_innen der polytechnischen Hochschule nehmen Stellung zu den Ereignissen am Abend und fordern in einer weiteren Erklärung unter anderem zur Anwendung jeglicher – auch gewalttätiger – Aktionsformen auf:

„Wir rufen alle Kämpfenden dazu auf, jede notwendige Initiative zu ergreifen, um dem Hungerstreikenden Nikos Romanos zum Sieg zu verhelfen: von Universitätsbesetzungen zu Blockaden der Produktion; von Verstößen gegen die Omertà der Medien bis zu Angriffen gegen die Wächter der Ordnung [...]“. (Versammlung des besetzten Polytechnikums 2014b)

Noch in derselben Nacht wird der Antrag von Romanos offiziell ein zweites Mal abgelehnt. Justizminister Athanasiou äußert sich dazu wie folgt: „Auch wenn Gott selber herunter käme, würde Romanos seinen Bildungsurlaub nicht genehmigt bekommen“ (Farmakidis/Marchetos/Laskaridis 2014). Damit unterstreicht er die Entschlossenheit der Regierung, der Forderung von Romanos nicht nachzugeben.

Doch auch Nikos Romanos zeigt sich entschlossen, seinen Hungerstreik fortzuführen. In einem Statement mit dem Titel „Tanz mit dem Tod seit 24 Tagen” schreibt er am 3. Dezember: „Ich meinerseits werde weitermachen, ich gehe an jeder Wahrscheinlichkeit, klein beizugeben, vorüber und antworte mit den Worten: KAMPF BIS ZUM SIEG, ODER KAMPF BIS ZUM TOD.“ (Romanos 2014b)

Einen Tag später gibt die Verwaltung des Krankenhauses Gennimatas bekannt, dass Nikos Romanos das Bewusstsein verloren hat. Die Zahl der landesweiten Solidaritätsaktionen nimmt daraufhin schnell zu. Noch am selben Tag finden in mehr als zehn griechischen Städten Demonstrationen statt. Protestierende besetzen kurzweilig zahlreiche TV- und Radiosender im ganzen Land (Athens Indymedia 2014a). In Athen wird die TEI, die Hochschule, zu der Romanos zugelassen ist, von Student_innen und politischen Gruppen besetzt. Als Zentrum der Koordination und Organisation der Bewegung dient fortan jedoch vor allem die von AA/AK-Gruppen besetzte Zentrale der GSEE (Dachverband der Gewerkschaften im Privatsektor) in Athen. In ihrer ersten Erklärung interpretieren die Besetzer_innen den Kampf von Nikos Romanos vor dem Hintergrund einer verschärften staatlichen Repression und im Kontext europäischer Austeritätspolitiken:

„Heute, am 04.12., haben wir das Gebäude des Gewerkschaftsverbunds GSEE in Solidarität mit […] Nikos Romanos besetzt […]. Jene, die versuchen, ihn zu zerstören oder zum Aufgeben zu zwingen, sind:

- die Regierung, die sich loyal zu den Anordnungen des lokalen und internationalen Kapitals verhält und die Umsetzung des Sparpakets, eine Politik schärfster Austeritätsmaßnahmen und die Entwertung der Arbeitskraft anregt.

- der Staat, der einen Ausnahmezustand auferlegt, um die gesellschaftliche Zustimmung zu erpressen und Angst zu verbreiten. Die Sammellager für Migrant_innen, die Knäste des Typs C […], die gewaltsame Unterdrückung von Demonstrationen [...] ergeben ein Puzzle von Griechenland als Festung.

Die Spitze der repressiven Politik heute ist der Fall des anarchistischen Hungerstreikenden Nikos Romanos. Durch seine Vernichtung verfolgt der Staat den Zweck der Neutralisierung von revolutionären Projekten der Selbstorganisation, des Widerstands und der Solidarität. All jener Projekte, die den Gegenangriff von Gesellschaft und Klasse, die Revolution, entzünden könnten […]. KAMPF BIS ZUM SIEG ODER KAMPF BIS ZUM TOD.“ (Besetzung GSEE 2014)

In den abendlichen Vollversammlungen der verschiedenen Besetzungen diskutieren hunderte Protestteilnehmer_innen über den Gesundheitszustand von Nikos Romanos und organisieren neue Solidaritätsaktionen. Noch in derselben Nacht kommt es im Großraum von Athen zu mehreren Anschlägen auf Banken, Gerichtsgebäude und auf eine Polizeistation (Protothema 2014). Am 5. Dezember sind bereits zahlreiche Hochschulen, Rathäuser und Arbeiterzentren[14] im ganzen Land besetzt (Athens Indymedia 2014a). Über Indymedia und andere soziale Medien werden Informationen zu den verschiedenen Solidaritätsaktionen in Windeseile im Internet[15] veröffentlicht.

Die Produktion eines Ausnahmezustands

Anlässlich des Hungerstreiks von Nikos Romanos und der bevorstehenden alljährlichen Demonstration in Gedenken an den ermordeten Grigoropoulos befürchtet die griechische Regierung Ausschreitungen unberechenbaren Ausmaßes. „Aus Gründen der öffentlichen Sicherheit“ ruft sie für den Zeitraum vom 5. bis zum 6. Dezember ein offizielles Kundgebungs- und Demonstrationsverbot im Zentrum von Athen aus (TvXs 2014). Im Internet werden trotzdem bereits Orte und Zeitpunkte der landesweit geplanten Demonstrationen bekannt gegeben.

Im Vorfeld des erwarteten Protestwochenendes kommt es am Freitagabend im Zentrum von Athen zu Ausschreitungen zwischen der Polizei und Protestierenden, welche unter anderem die Zentrale der PASOK in Exarchia angreifen (Athens Indymedia 2014a). Inzwischen sind die Straßen von Athen plakatiert mit Postern zur Demonstration am 6. Dezember. Neben dem ermordeten Alexis Grigoropoulos ist in diesem Jahr auf vielen Plakaten auch Nikos Romanos abgebildet.

Am Morgen des 6. Dezember werden landesweit weitere Rathäuser und andere öffentliche Institutionen in Solidarität mit den Hungerstreikenden besetzt. In allen größeren griechischen Städten Griechenlands finden seit dem Morgen Demonstrationen statt. An der ersten Demonstration in Athen, welche – wie in den Vorjahren auch – überwiegend von Schüler_innen und Student_innen organisiert wird, nehmen mehr als 5.000 Menschen teil. Dabei kommt es zu ersten Ausschreitungen zwischen Demonstrant_innen und Polizist_innen, von denen an diesem Wochenende im Namen der staatlichen „Null-Toleranz“ allein in Athen 8.000 im Einsatz sind (TvXs 2014). Auch in vielen Städten außerhalb der nationalen Grenzen demonstrieren Menschen in Solidarität mit Romanos und im Gedenken an Alexis (Athens Indymedia 2014a).

Gegen 18 Uhr findet die zweite, diesmal von politischen Gruppen und Parteien initiierte, Demonstration im Zentrum Athens statt. Der Demonstrationszug führt vorbei an Geschäften und Banken, von denen ein Großteil in den folgenden Stunden durch meist vermummte Demonstrant_innen zerstört oder angezündet werden. Bis auf kleinere Kiosks, die von Angriffen verschont bleiben, haben an diesem Abend alle Geschäfte im Athener Zentrum bereits geschlossen. Als die Großdemonstration das Parlament erreicht, fangen die riot-Einheiten der Polizei an, mehrmals hintereinander Tränengas abzufeuern und erstmals seit dem Ende der Militärdiktatur 1973 wieder Wasserwerfer gegen die meist friedlichen Demonstrant_innen einzusetzen. Während die Demonstration beginnt, sich langsam aufzulösen und viele Demonstrant_innen sich auf den Nachhauseweg machen, bleibt eine große Zahl von Menschen auf den Straßen, darunter auch Danai, eine von hunderten an diesem Abend festgenommenen Demonstrant_innen. Sie berichtet von der Polizeigewalt im Athener Zentrum:

„[…] Plötzlich schossen Polizist_innen aus allen Ecken […], verletzten einige Demonstrant_innen [...], schlugen [...] wahllos auf einige Leute, vor allem Frauen, ein […]. [Sie] versuchten uns Angst zu machen, indem sie einigen auf die Köpfe schlugen mit ihren Schlagstöcken […]. Ich hatte in dem Moment keine Angst vor den Schlägen. Ich war voller Zorn. Wir mussten uns auf den Boden setzen und auf den Polizeibus warten, der uns abführen sollte. Ein Mädchen neben mir hatte ein blutüberströmtes Gesicht […].“[16]

An diesem Abend herrscht absoluter Ausnahmezustand im Zentrum Athens. Insbesondere in Exarchia, das an diesem Abend zum „Schlachtfeld“ wird, ist die Verschärfung der Sicherheitspolitik der Regierung deutlich zu spüren (Hit and Run 2014). In der Gegend rund um die polytechnische Hochschule liefern sich Protestierende mehrstündige gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei, welche „alles angreift, was sich bewegt“ (ebd.). Einige Protestierende klettern auf Hausdächer, von wo aus sie Molotowcocktails auf Polizist_innen werfen. Später in den abendlichen Fernsehnachrichten werden die von den Wärmekameras der Polizeihubschrauber erfassten Protestierenden von den NachrichtensprecherInnen aufgrund ihrer äußerst organisierten „Parkour-Techniken“ allen Ernstes als „Luftlandetruppen der Anarchist_innen“ bezeichnet (To Koumpouri 2014). Die Polizeikräfte verschaffen sich an diesem Abend gewaltsam Zugang zu mehreren Wohnungen in Exarchia. Neben den Hausdurchsuchungen und dutzenden Ausweiskontrollen auf den Straßen ist es vor allem eine von der Polizei verhängte nächtliche Ausganssperre für alle Bewohner_innen des Stadtteils, welche an Zustände wie in Zeiten der Militärdiktatur erinnert.

Nicht weit entfernt von Exarchia, vor dem Gebäude der besetzten GSEE-Zentrale, kommt es zeitgleich zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Besetzer_innen und Polizist_innen, als Polizeieinheiten versuchen, das Gebäude zu räumen.

Das Ergebnis der tränengasreichen Nacht in Athen: dutzende Verletzte und circa 300 Personen, die ohne Vorliegen des Verdachts einer Straftat stundenlang in der Hauptpolizeiwache Athens ausharren müssen, bevor sie freigelassen werden.

Reaktionen der Regierung – Von Gleichgültigkeit zur Panik

Während die meisten festgenommenen Protestierenden in der Nacht auf den 7. Dezember freigelassen werden, verbringen circa 40 Personen die Nacht in Untersuchungshaft. Am Mittag des 7. Dezember versammeln sich daraufhin Hunderte in Solidarität mit den Festgenommenen vor Athener Gerichtsgebäuden. Gemeinsam mit Arbeitslosen, Arbeiter_innen und verschiedenen Gewerkschaften versammeln sich Mitglieder der Romanos-Bewegung um 17 Uhr vor dem Parlament, um gegen den neuen Haushaltsplan und damit verbundene weitere Sozial- und Stellenkürzungen zu protestieren (Smith 2014). An der anschließenden Vollversammlung der GSEE-Besetzung partizipieren mehr als 500 Personen, darunter viele Menschen, die nicht in der AA/AK-Bewegung organisiert sind. Auch Nikos Romanos‘ Vater ist anwesend. Solidaritätsspenden werden gesammelt, um die Kaution von Personen zu bezahlen, die in den vorigen Tagen verhaftet wurden. Spenden werden auch für eine Protestteilnehmerin gesammelt, der am 6. Dezember von Polizist_innen die Vorderzähne ausgeschlagen wurden und die nun Zahnprothesen benötigt.

Vollversammlungen finden auch am nächsten Tag in allen landesweiten Besetzungen statt. Während Romanos‘ Gesundheitszustand sich weiter verschlechtert, plant und organisiert die Bewegung weitere Solidaritätsaktionen. Weitere Rathäuser im ganzen Land werden besetzt. In Paris, Berlin und Zypern finden Kundgebungen in Solidarität mit Nikos Romanos statt (Athens Indymedia 2014a).

Unterdessen versuchen regierungsnahe Medien, von den Inhalten des Hungerstreiks und den Motiven für die Proteste abzulenken, indem sie den tragischen Abstieg des bürgerlichen „Jungen“ portraitieren, welcher sich mit den „Helden von Dostojevski“ identifiziere und viel zu früh „zur Kalaschnikow griff“ (Mandilara 2014).

Nikos Romanos seziert in einem späteren Brief im Januar 2015 die Haltung der Regierung während seines gesamten Hungerstreiks in vier Übergangsstadien: „Provokative Gleichgültigkeit”, „Überlegenheit”, „Demonstration von Macht“ und „Panik” (Romanos 2015a). Tatsächlich scheint im griechischen Parlament langsam Panik aufzukommen. Die Regierung befürchtet: Sollte Nikos Romanos sterben, könnte es zu einer landesweiten Revolte unberechenbaren Ausmaßes kommen. Zwischen Dienstagabend und Mittwochmorgen wird im Parlament pausenlos über den Antrag von Nikos Romanos beraten.

Giorgos Romanos ruft aus diesem Grund zu einem Protest am Dienstagabend vor dem Parlament auf, dem sich mehrere hundert Menschen anschließen. In weiteren Städten im Land finden Kundgebungen und kleinere Demonstrationen statt.

Im Anschluss an den Protest vor dem Parlament ziehen die Protestierenden zum Krankenhaus weiter, in dem sich Nikos Romanos befindet. Als die Protestierenden ihre Slogans rufen, ist Nikos Romanos bereits nicht mehr in der Lage, ans Fenster zu kommen. Noch immer steht keine Entscheidung über den Antrag fest. Der Zorn über die Unentschlossenheit der Regierenden findet seinen materiellen Ausdruck wenige Stunden später in Form von Anschlägen. Zum einen wird im Athener Zentrum ein städtischer Bus von Protestierenden angehalten, die alle Personen bitten, aus dem Bus auszusteigen, bevor sie einen Molotowcocktail hineinwerfen. In einem Vorort von Athen wird außerdem eine Bank angegriffen. Zu dem Angriff auf die Bank bekennt sich wenig später eine Stadtguerilla-Gruppe, die in ihrem Bekennerschreiben die „Anwendung von Mitteln der Gewalt“ für notwendig erklärt, um „wesentliche Schläge gegen den Staat und seine Institutionen“ auszuüben (EfSyn 2014).

Auch am nächsten Morgen versammeln sich wieder Menschen vor dem Krankenzimmer von Nikos Romanos, während im Parlament über dessen Antrag beraten wird. Zu diesem Zeitpunkt ist Nikos Romanos bereits in den Durststreik getreten.

Gegen Mittag – es ist der 31. Tag des Hungerstreiks von Romanos – stimmt das Parlament fast einstimmig zugunsten einer vom Justizminister eingebrachten neuen Gesetzesnovelle ab. Demnach wird künftig allen Strafgefangenen, die das Recht haben, ein Studium an einer höheren Bildungsinstitution aufzunehmen, Bildungsurlaub gewährt, sofern die Gefangenen zuvor in einem Semester eines Fernkurses 1/3 der Kurse erfolgreich abgeschlossen haben. Bei ihren Bildungsfreigängen müssen die Insassen jedoch eine elektronische Fußfessel tragen (Farmakidis/Marchetos/Laskaridis 2014). Nikos Romanos, Giannis Michailidis und Andreas Bourzoukos beenden daraufhin ihre Hungerstreiks.

3. Brüche in der postpolitischen Ordnung

Die Eliminierung von Widerspruch

Ein zentrales Merkmal neoliberaler Gouvernementalität in der heutigen Ära kapitalistischer Globalisierung ist die ‚Kriminalisierung von Dissens‘ durch eine Reihe autoritärer Herrschaftstechniken, die seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in vielen westlichen liberalen Demokratien, darunter Griechenland, Anwendung finden. Sie zielen häufig auf eine Eindämmung oder gar Eliminierung von Bürgerrechten – darunter Verfahrensrechte politischer Gefangener – sowie die Einschränkung der Mobilität von Migrant_innen durch strengere Grenzkontrollen und eine Verschärfung von Einwanderungsgesetzen ab (Shantz 2014:17).

In Griechenland wurde der Weg zum „Polizeistaat“ zunächst durch die Einführung spezieller Gesetzgebungen geebnet (Tsimitakis 2014). So führte die PASOK-Regierung im Jahre 2001 das „Gesetz gegen das organisierte Verbrechen“ ein, mit dessen Anwendung in Griechenland erstmals ein „Terroristenprozess“ gegen Mitglieder der 17N geführt wurde (Schrader 2004). Kurz vor Beginn der Olympischen Spiele 2004 in Athen wagte die neue Regierung unter der Nea Dimokratia den Versuch, das Strafvollzugssystem zu reformieren. Aufgrund von Protesten von Gefängnisinsassen verzögerte sich die Umsetzung der Reformen zunächst. Trotzdem wurde kurz darauf das „Antiterrorgesetz“ verabschiedet – eine verschärfte Variante des im Jahre 2001 verabschiedeten Gesetzes, demgemäß künftig 22 Arten von Verbrechen in die Kategorie „terroristische Handlung“ fallen sollten (Schrader 2004).

Die neue Gesetzgebung leitete eine Sicherheitspolitik im Land ein, die nicht nur die Verfolgung von Mitgliedern sogenannter Terrorgruppen zum Ziel hatte, sondern auch die systematische Überwachung des Alltaglebens der Bürger_innen. In deren Rahmen wurde die Polizeipräsenz in Griechenland stark erhöht, insbesondere in den Wohngegenden im Zentrum Athens (vgl. Matsas 2010: 58).

Im Zuge der Austeritätspolitik hat sich das repressive Sicherheitsdogma der griechischen Regierung weiter verschärft. Insbesondere die im Frühjahr 2012 gewählte Koalitionsregierung unter Premierminister Antonis Samaras, welche im Anschluss an die von der Troika eingesetzten, nicht parlamentarisch gewählten Experten-Übergangsregierung antrat (Schirrmacher 2011, Kritidis 2014: 94f.), versuchte die Umsetzung weiterer Austeritätsmaßnahmen mit Ideen des „Fortschritts“ und des „Wandels“ hin zu etwas „Neuem“ und „Besserem“ zu legitimieren (Kallianos 2014: 72f.). Gegen jene, die diesem Fortschritt mit Protesten im Weg standen und eine Bedrohung für das „Krisenregime“[17] darstellten (Christopoulos 2014), wurden in der Periode nach den Wahlen im Frühjahr 2012 gezielt staatliche Angriffe vorgenommen (Kallianos 2014: 75). So wurden seit Dezember 2012 zahlreiche autonome Sozialzentren der AA/AK-Bewegung unter massivem Polizeieinsatz geräumt und Gegeninformationsmedien der Bewegung zensiert und verboten. Die Kriminalisierung von Protesten fand vor allem auch Ausdruck in zahlreichen willkürlich von der Regierung erteilten Protestverboten. Neue rechtliche Definitionen wie „Terrorismusverdächtiger“ ermöglichen es, Protestierende bis zu 36 Monate in Untersuchungshaft zu halten, bevor sie einer Tat für schuldig gesprochen werden (Tsimitakis 2014). Die jüngste Reformierung des griechischen Justiz- und Strafvollzugssystems im Sommer 2014 ist paradigmatisch für diese Entwicklungstendenzen.

Gegen die von der Regierung geplante Errichtung eines neuen Hochsicherheitsgefängnisses protestierten bereits im Sommer 2014, im Vorfeld des Hungerstreiks von Nikos Romanos, 4.500 Gefängnisinsassen in Form eines zehntägigen Hungerstreiks.

In dem neuen Typ-C-Gefängnis (ähnlich den Typ-F-Gefängnissen in der Türkei), welches von Insassen auch als „griechisches Guantanamo“ bezeichnet wird, werden seit Winter 2014 „gefährliche Kriminelle“ und „ideologische Feinde des Staates“ untergebracht (Limneou 2014). Als gefährlich gelten unter anderem Gefängnisinsassen, die Proteste oder Hungerstreiks initiieren.

Was sich hier abbildet ist eine „Ausweitung des Sicherheitsparadigmas als normaler Technik des Regierens“ (Agamben 2004: 22) – eine Tendenz, die sich gegenwärtig in allen westlichen Staaten abbildet. Gegen all jene, die eine Bedrohung der staatlichen Ordnung darzustellen scheinen, wird ein „Ausnahmezustand“ etabliert, eine „Zone, in der die Anwendung des Rechts suspendiert wird“ (Agamben 2004: 41).

Wenn wir die These der Kriminalisierung von Dissens beziehungsweise die Eliminierung jeglichen Widerspruchs im Sinne der neuen Theorien des Politischen (Rancière 2008, Žižek 2006) weiterdenken, so können wir für Griechenland die Entwicklung hin zu einem „Zustand der Postpolitik“ diagnostizieren, in welchem „das Politische, der Raum des Streits, in dem die Ausgegrenzten gegen das Unrecht oder die Ungerechtigkeit protestieren können, die man ihnen antut – verworfen“ ist (Žižek 2006: 72). Das bedeutet also, dass es innerhalb der postpolitischen Ordnung keinen Platz für politische Subjektwerdung beziehungsweise für Auftreten der Ausgegrenzten zur Artikulation von Dissens gibt – und folglich auch keine Politik (Rancière 2014).

Brüche im postpolitischen Regime – Die Krisenbewegung seit 2008

Als sich in Folge der Ermordung von Alexandros Grigoropoulos die Dezemberproteste 2008 in Griechenland formierten, wurde der entpolitisierte Konsens-Zustand der bestehenden Ordnung, „die Reduktion der Politik auf das Staatliche“, erstmals unterbrochen (Rancière 2008: 8). Breite Teile der Bevölkerung, darunter Student_innen, Arbeiter_innen, Arbeitslose und erstmals auch Migrant_innen, stellten die bestehende Aufteilung, die sie ausschließende Ordnung, in Frage (Matsas 2010: 54).

Durch ihre selbstorganisierten Praktiken wie die Besetzungen und Selbstverwaltungen von öffentlichen Räumen, gelang es der Bewegung, ihren eigenen Raum zu konfigurieren, in welchem die Protestierenden als neue radikale politische Subjekte ihr Sprachrecht einfordern und ihre politische Auseinandersetzung führen konnten (Rancière 2014: 41). Dabei integrierten die Bewegungsmitglieder ihre politischen Praktiken, wie die Selbstverwaltung autonomer Zentren und Nachbarschaftsversammlungen, im Anschluss an die Revolte in ihren Alltag. Auf diese Weise gelang es den Dezemberprotesten 2008 über eine Hinterfragung der Legitimität der bestehenden Ordnung hinaus ihre „radikale politische Erfahrung“ zu erweitern und ein „militantes politisches Kapital“ auszuformen, welches auf neue Generationen übertragen werden konnte (Memos 2009: 220). Im Rahmen des Protestzyklus der Anti-Austeritätsproteste setzte sich der Prozess der Wiederaneignung von Raum zur Austragung des Streits und politischer Subjektwerdung in den folgenden Jahren in Form zahlreicher Kämpfe gegen die hegemoniale Ordnung fort. Insbesondere die landesweite Platzbewegung im Sommer 2011 konstituierte sich mit ihren selbstorganisierten Praktiken dabei als Versuch eines Gegenentwurfs zur staatlichen Organisierung, welcher die Legitimität des repräsentativen Demokratiemodells herausforderte (Stavrides 2012, Douzinas 2013).

Die Romanos-Bewegung 2014 muss in diesem historischen Kontext interpretiert werden als ein sich fortsetzend konstituierender „Bruch“ im postpolitischen Krisenregime (Rancière 2014: 41, Holloway 2010). Dabei waren es weniger die Forderungen als vielmehr die politischen Praktiken, durch welche sich das „Bild der Zukunft“ (Schwarz et al. 2010) – ein Versprechen der Dezemberproteste 2008 – mit der Romanos-Bewegung auf ein Neues materialisierte.

Die Besetzungen öffentlicher Institutionen, die Demonstrationen und das rioting, durch welche die Romanos-Bewegung den Raum der politischen Auseinandersetzung umgestaltete, waren jene politische Akte, die den Ort, der ihnen zugewiesen war, verweigerten und „den Rahmen“ veränderten, „der festlegt, wie die Dinge funktionieren“ (Žižek 2001: 273).

Dabei fungierten riots innerhalb des Protestzyklus der Romanos-Bewegung als eine Handlungspraxis, mithilfe derer die Bewegung sich im eigens konfigurierten Raum, nach eigenen Regeln und jenseits von Forderungen, durch die Anwendung physischer Gewalt im politischen Streit mit dem Staat als Gegenspieler konstituierte.

Als der Polizist der Protestteilnehmerin Lydia am 6. Dezember 2014, nachdem er sie zusammengeschlagen hatte, in patriarchalischer Manier zurief: „Und jetzt geh nach Hause, wo du hingehörst“[18], vermittelte er ihr damit, dass der öffentliche Raum, die Straße, kein Raum zur Austragung eines politischen Streits ist, schon gar nicht für eine Frau. Die verschiedenen politischen Praktiken der Protestierenden stellten insofern egalisierende Akte im Sinne Rancières dar, als dass durch die Umgestaltung des Austragungsortes des Streits jene Logik der „Aufteilung von Öffentlichem und Privatem“ bekämpft wurde, „die die doppelte Herrschaft der Oligarchie im Staat und in der Gesellschaft gewährleistet“ (Rancière 2010: 68).

Folglich handelte es sich bei den Praktiken der Wiederaneignung von öffentlichem Raum als Ort der Selbstbestimmung und des Widerstands gegen die bestehende Ordnung (Hobsbawm 1969 und Lefebvre 1991), als „Kundgebungsraum eines Subjekts“ (Rancière 2000: 107), um den Versuch, Räume zur politischen Mitbestimmung zurück zu gewinnen.

4. Movement to be continued...

Noch am selben Tag, an dem Nikos Romanos seinen Hungerstreik beendete, lösten sich alle landesweiten Besetzungen auf. Viele Protestteilnehmer_innen kehrten aus den Straßen und den besetzten Räumen in den Alltag zurück. Bei einigen Bewegungsmitgliedern begann sich ein Gefühl der Frustration zu verbreiten. Den Ausgang der Protestereignisse interpretierten sie als wenig erfolgreich, weil die Forderung von Nikos Romanos unter vom Staat festgelegten Bedingungen erfüllt wurde. Umso wichtiger war es für diesen Teil der Bewegung, sich zukünftig stärker für politische Häftlinge zu engagieren:

„Im Gegensatz zum weitverbreiteten Gefühl des ‚Sieges‘, empfinden wir, dass [...] wir alle Formen des Kampfes gegen die Knastgesellschaft intensivieren müssen, und zwar nicht irgendwann in ferner Zukunft sondern jetzt […]. Die Solidarität mit Gefangenen muss jetzt mehr als jemals zuvor und mit allen nötigen Mitteln in die Offensive gehen.“ (Contra Info 2014)

Andere Protestteilnehmer_innen, wie Protestnewcomerin Danai, empfanden ihre Partizipation an den Protesten als Teil eines Prozesses der Konstituierung einer kollektiven Identität:

„Als der Staat […] nachgab und Nikos sich bei allen [...] bedankte, war ich stolz. Ich fühlte, wie ich zum ersten Mal Teil von einem kollektiven Kampf gewesen war, der etwas bewirkt hatte. Ich bin sicher, dass Nikos ohne unsere Solidarität jetzt tot wäre.“[19]

Verschiedene Teile der Protestbewegung in Griechenland hatten sich seit Langem erstmals wieder gemeinsam im Kampf organisiert. Mit Sicherheit war es der Romanos-Bewegung gelungen, die ohnehin schwindende Legitimität der Regierung unter Premierminister Antonis Samaras herauszufordern, welche im Winter 2014 unwissentlich ihre letzten Monate im Amt verbrachte. Bereits während der Romanos-Bewegung hatten Mitglieder der Syriza in einer Erklärung geschrieben: „[…] diese Regierung von Reaktionären hängt am seidenen Faden, es fehlt ihr an Legitimität, selbst nach ihren eigenen Maßstäben, und sie ist sicherlich eine Regierung ohne verfassungsmäßige und moralische Rechte […]“ (Syriza 2014).

Am 25. Januar 2015 gewann zum ersten Mal in der Geschichte Griechenlands eine linke Partei, Syriza, mit einer Mehrheit von 36.34 % die Parlamentswahlen. Da sie nicht die absolute Mehrheit erreichte, bildete sie eine Regierungskoalition mit der rechtskonservativen populistischen ANEL (Unabhängige Griech_innen) (TPTG 2015). Während die neue Regierung in ihren ersten Amtswochen eine Abkehr vom repressiven Kurs der Vorgänger-Regierung demonstrierte – unter anderem indem sie die Polizeipräsenz bei Protesten drastisch reduzierte – scheinen die Sicherheitsmaßnahmen der Regierung inzwischen wieder ihr altes Niveau zu erreichen. So sah sich die neue Regierung, die bei ihrem Amtsantritt unter anderem versprochen hatte, das neue Hochsicherheitsgefängnis zu schließen, im Frühjahr mit neuen Hungerstreiks zahlreicher Gefängnisinsassen – darunter Insassen des neuen Typ-C- Gefängnisses – konfrontiert, welche eine Abschaffung der noch immer bestehenden Anti-Terrorgesetze forderten. Wieder fanden solidarisch mit den Hungerstreikenden Demonstrationen, temporäre Besetzungen und Attacken auf Polizeistationen statt, diesmal jedoch in kleinerem Umfang. Das von circa 30 Mitgliedern der neu gegründeten „Versammlung für die Hungerstreikenden“ besetzte Rektorat der Universität Athen wurde von Polizeikräften nach über einer Woche geräumt und 14 Personen wurden verhaftet (To Vima 2015).

Innerhalb der Protestbewegung in Griechenland löste jedoch vor allem die Tatsache Zorn aus, dass Nikos Romanos‘ Antrag auf Bildungsurlaub im Juni 2015 erneut abgelehnt wurde. Justizminister Athanasiou, der im Dezember 2014 die neue Gesetzesnovelle eingebracht hatte, stellte damals sicher, dass die entsprechenden Disziplinarkammern den Antrag auf Bildungsurlaub immer noch ablehnen können, sofern sie eine „besondere Rechtfertigung” für ihre Entscheidung geltend machen (Contra Info 2014). Die aktuelle Regierung hat sich zu der Ablehnung des Antrags nicht geäußert. Im Juni 2015 fanden in Athen einige kleinere riots in Solidarität mit Nikos Romanos statt.

Anfang Juli 2015 schien der Fall Romanos vergessen und überschattet von den Ereignissen um die sich zuspitzenden Verhandlungen zwischen der neuen Regierung und der Troika über die Unterzeichnung eines weiteren Memorandums.

Die Regierung unter Syriza wagte dabei mit dem Vorschlag eines Volksreferendums zur Abstimmung über das neue Austeritätspaket einen „Bruch“ mit europäischen Austeritätspolitiken (Sotiris 2015a). Ende Juni fanden mehrere Massendemonstrationen in Unterstützung des Vorschlags der Regierung statt, wobei wenige Tage vor dem Referendum mehrere hunderttausend Menschen an einer Massenkundgebung vor dem Parlament teilnahmen und Slogans riefen wie „Wir haben keine Angst“ und „Nein“. Letztendlich stimmten 62 Prozent der Wahlbeteiligten mit „Nein“ gegen das neue Memorandum (Kouvelakis 2015).

Obwohl die Syriza-Führung zuvor bekannt gegeben hatte, dass sie der neuen Vereinbarung nicht zustimme, „kapitulierte“ sie schließlich vor den Forderungen der Kreditgeber und willigte einem noch viel weitgehenderen Memorandum zu (Sotiris 2015b). Die Haltung der internationalen Kreditgeber, welche keinen Handlungsspielraum für politische Alternativen ließ und von Sozialwissenschaftler_innen daher als „Putschversuch“ der europäischen Eliten betitelt wurde (Mittendrein/Konecny 2015, Kouvelakis 2015), ist paradigmatisch für jene postpolitischen Tendenzen, welche die liberalen Demokratiestaaten heute kennzeichnen, frei nach dem Motto: die „richtigen Lösungen” zeichnen sich dadurch aus, „dass über sie nicht abgestimmt werden muss, denn sie ergeben sich aus der Kenntnis der objektiven Sachlage, die eine Angelegenheit des Expertenwissens und nicht des Volksentscheids ist“ (Rancière 2010: 95).

Angesichts der aktuellen poltischen Entwicklungen in Griechenland meldete sich Nikos Romanos, dem das Recht auf Bildungsurlaub noch immer nicht gewährt wurde, Ende November 2015, kurz vor dem Jahrestag der Ermordung von Grigoropoulos, erstmals wieder öffentlich zu Wort. In seinem Text „Requiem für eine Reise ohne Rückkehr“ bezeichnet er das politische System in Griechenland als „bloßgestellte Demokratie“, deren „Todesduft“ sich erstmals am 6. Dezember 2008 entfaltet hätte – eine historische Entwicklung, die sich fortsetzen werde, solange sich die „Unterdrückten“ gegen ihre „Unterdrücker“ auflehnen (Romanos 2015b). In seinem Text schildert er auch seine Freundschaft zu Alexandros Grigoropoulos und die damaligen gemeinsamen politischen Aktivitäten der beiden als Mitglieder der anarchistischen Bewegung in Griechenland. Zudem erwähnt er, dass die Gefängnisverwaltung ihm gegenüber sehr deutlich mache, dass er aufgrund seines aufmüpfigen Verhaltens (u. a. indem er kritische Schriften verfasse) keinen positiven Bescheid zu dem geforderten Bildungsurlaub zu erwarten habe (Romanos 2015b).

Am 6. Dezember 2015 beteiligen sich circa 5.000 Menschen an der Demonstration in Gedenken an den ermordeten Grigoropoulos. Unter Anweisung der Regierung sind circa 6.000 Polizist_innen anwesend, welche bereits vor Beginn der Demonstration zahlreiche Protestierende angreifen. Wieder werden Minderjährige verhaftet. Die Botschaft der Eliten ist deutlich: Der öffentliche Raum ist kein Platz für die Austragung politischen Streits. Doch diese Botschaft wird auch weiterhin ignoriert. Bereits seit Herbst 2015 fanden in Griechenland zahlreiche Mobilisierungen in Solidarität mit Flüchtlingen und politischen Häftlingen statt. Bewegungsmitglieder haben inzwischen mehrere öffentliche Gebäude in den Großstädten Athen und Thessaloniki besetzt und diese in Initiativen in Solidarität mit Flüchtlingen umgestaltet (Mpalothia 2016).[20]

Eine breite landesweite Solidaritätsbewegung ist entstanden. Sie wird begleitet von einer Welle neuer Besetzungen, die darauf hindeutet, dass der Kampf um den öffentlichen Raum als Ort für die Gestaltung von Politik noch nicht verloren ist.

Endnoten

Autor_innen

Dilan Köse promoviert in Politikwissenschaften mit den Arbeitsschwerpunkten Soziale Bewegungen, Politische Theorie und Wohlfahrtsstaat im Wandel

dilankoese@gmail.com

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