Durch Athen auf Frankfurt blicken ‚Austerity Urbanism‘, Uneven Development und Alltäglichkeit – Reflektionen aus zwei Workshops

Felix Wiegand, Tino Petzold, Daniel Mullis, Bernd Belina

Einleitung: zwei Workshops

„[I]t has been particularly productive to bring the experiences of different case-study cities into careful conversation with one another in order to reflect critically on extant theory, to raise questions about one city through attending to related dynamics in other contexts, or to point to limitations or omissions in existing accounts.“ (Robinson 2011: 6)

Was ist das Spezifische an urbanen Krisen heute, im „Zeitalter der Austerität“ (Edsall 2012)? Hierzu wollen wir[1] einige konzeptionelle Überlegungen vorstellen, die auf Erfahrungen in und Diskussionen mit Kolleg_innen aus Athen zurückgehen. Der griechisch-deutsche Austausch erfolgte im Rahmen einer Kooperation von Athener Stadtforscher_innen von der School of Architecture der National Technical University (NTUA) und Kolleg_innen aus dem deutschsprachigen Raum, insbesondere vom Frankfurter Institut für Humangeographie sowie aus Hamburg, Leipzig und Weimar. Seinen Ort hat dieser Austausch bisher in zwei Workshops gefunden.[2] In beiden Fällen war es neben den Vorträgen und Plenumsdiskussionen das umfangreiche Begleitprogramm, das zu einem vertieften Verständnis der jeweiligen Situation beigetragen hat: so unter anderem zahlreiche Exkursionen, der gemeinsame Besuch einer Demonstration in Athen und die vielen persönlichen Gespräche am Rande.

Der Beitrag zielt auf den Versuch, durch Athen auf Frankfurt zu blicken, und zwar in zweierlei Weise: Was lernen wir über Frankfurt und die Rhein-Main-Region, wenn wir unseren Blick durch Erfahrungen und Forschungen aus und über Athen anleiten lassen, wenn wir also Athen als Kontrastfolie, Maßstab und Pool an Hinweisen verstehen? Und was lernen wir, wenn wir wollen, dass unsere Gäste aus Athen Frankfurt und die Rhein-Main-Region verstehen, wir also ihren Blick antizipieren, unterstützen und mitunter auch anleiten? In dieser doppelten Weise glauben wir in konkreter Form von einer „careful conversation” (Robinson 2011: 6) zwischen Fallstudien profitieren zu können, wie sie in der Debatte um komparative Stadtforschung mitunter doch recht abstrakt gefordert wird. Durch den ‚Umweg‘ über Athen wollen wir einen Beitrag zu den Debatten um die urbane Dimension der aktuellen Konjunktur von Krise und Austerität leisten.

Dabei scheint uns wichtig, Austerität nicht als gänzlich neues Phänomen zu betrachten, ist sie doch seit jeher ein wichtiger Teil des politischen Repertoires der Neoliberalisierung (des Städtischen); aktuell können wir aber eine drastische Vertiefung und institutionelle Festschreibung dieser Logik beobachten. Wie für den urbanen Kontext insbesondere Peck (2012) mit dem Begriff ‚Austerity Urbanism‘ herausgearbeitet hat, kommen dabei Aspekte zum Tragen, die über den bisherigen Modus der Neoliberalisierung hinausgehen. Vor diesem Hintergrund reflektieren wir im Folgenden in einem ersten Abschnitt über unsere Erfahrungen aus den Workshops und den Implikationen, die sich daraus für die wissenschaftliche Arbeit, insbesondere zum Gegenstand urbane Austerität und Krise ergeben. Daran anschließend verdichten wir im Abschnitt Interventionen diese Einsichten im Lichte der aktuellen Debatte über das Konzept Austerity Urbanism, um dessen analytische Möglichkeiten und Grenzen aufzuzeigen.

Erfahrungen

Raum-zeitlich ungleiche Entwicklung und Multiskalarität ernstnehmen

Zunächst wollen wir den Mehrwert einer geographisch informierten Perspektive betonen. Beim Versuch, durch Athen auf Frankfurt zu blicken wird die Aufmerksamkeit insbesondere auf solche Aspekte gelenkt, die uns zwar aus der geographischen Theoriediskussion bekannt sind, deren Relevanz aber erst durch den ‚Umweg‘ und den gemeinsamen Austausch am konkreten Gegenstand wirklich nachvollziehbar wird. Diesbezüglich lassen sich insbesondere der Fokus auf Prozesse der raum-zeitlich ungleichen Entwicklung sowie eine multiskalare Perspektive hervorheben. Letztere kam in den beiden Workshops zunächst in der Fokussierung auf die urbanen Ausprägungen des europäischen Austeritätsregimes in zwei nationalen Kontexten zum Tragen. Vor dem Hintergrund der dominanten Krisenerzählungen (vgl. Belina 2013), aber auch den zumeist auf nationale und europäische Maßstäbe fokussierten Beiträgen kritischer Sozialwissenschaften (z. B. Jäger/Springler 2015), erscheint es erstens betonenswert, dass der Fokus auf räumliche Maßstabsebenen unterhalb des Nationalstaates das Verständnis von Krise vertiefen kann und insbesondere auch gesellschaftspolitisch jene nationalen Mythen infrage zu stellen hilft, welche die Erzählungen der Krise nach dem Muster ‚hier so, dort anders’ weitgehend beherrschen. Demgegenüber fördern Untersuchungen zu Bundesländern, Regionen und Städten, Nachbarschaften oder den Orten alltäglicher Reproduktionsarbeit soziale Prozesse jenseits makroökonomischer Kennzahlen zutage, die die Komplexität und Widersprüchlichkeit der aktuellen gesellschaftlichen Konjunktur sichtbar machen können – und zwar in Griechenland wie auch in Deutschland. Die Analyse einzelner Stadtviertel in Athen offenbart neben den desaströsen Auswirkungen der Austeritätspolitik auch die widerständige Kreativität und Handlungsfähigkeit der lokalen Bevölkerung, was deren Darstellung als ‚naive‘ und ‚passive‘ Opfer ‚großer Politik‘ deutlich relativiert. Der Blick auf Städte wie Offenbach in der Rhein-Main-Region macht umgekehrt klar, in welchem Umfang Haushaltskrisen und die teilweise seit Jahrzehnten stattfindende – bisweilen autoritäre – Durchsetzung von Austeritätsmaßnahmen auch hierzulande vielerorts zum Alltag gehören – so sehr, dass sich einzelne Kommunalpolitiker_innen und Journalist_innen zur Aussage genötigt sahen: „Wir sind Griechenland“ (Frese 2012). Eine kritische Aufarbeitung dieser urbanen Austeritätspolitiken, die auch im Rahmen der breiteren Debatte um die Neoliberalisierung des Städtischen in Deutschland[3] bestenfalls eine untergeordnete Rolle einnehmen, steht bislang noch weitgehend aus.

Diese Diagnose kann freilich die qualitative Differenz nicht überdecken, die zwischen unseren beiden Fallstudien besteht. In diesem Sinne lässt sich auf Grundlage der beiden Workshops zweitens die zentrale Bedeutung großmaßstäblicher, wesentlich entlang nationaler Territorien verlaufender Muster ungleicher Entwicklung hervorheben. Insofern diese Muster und die politischen Regulierungen im Kontext der Europäischen Union entscheidend für den Ausbruch der Krise verantwortlich waren und ihren Verlauf bis heute entscheidend prägen (Hadjimichalis 2011), bestimmen sie auch das Maß, in dem Regionen, Städte und Gemeinden von der Krise selbst bzw. den Politiken ihrer herrschaftlichen ‚Bearbeitung‘ betroffen sind. Darüber hinaus wird der je spezifische Charakter urbaner Austerität von den national divergierenden historischen, institutionellen, politischen usw. Rahmenbedingungen bestimmt, die zum Teil lange vor dem Ausbruch der aktuellen Krise entstanden sind und in bestimmten Pfadabhängigkeiten resultieren. Deutlich wurde dies in den beiden Workshops zum Beispiel anhand der unterschiedlichen zeitlichen Dynamik der Durchsetzung von Austerität – ‚scheibchenweise‘ über 40 Jahre in Deutschland oder im Rahmen einer kurzfristigen „Shock Doctrine“ in Griechenland (Hartmann/Malamatinas 2011) –, der unterschiedlich starken Ausprägung lokaler Autonomie gegenüber dem Zentralstaat oder den verschiedenen Traditionen der Wohnraumversorgung in Griechenland und Deutschland.

Bleibt die Argumentation auf dieser Ebene, so entsteht ein Bild nationaler ‚Spielarten‘ urbaner Austerität, das die eingangs kritisierten ‚nationalen Mythen‘ zu reproduzieren droht. Um die variegierten Formen lokaler Entwicklung adäquat fassen zu können, bedarf es drittens eines genauen Blicks auf kleinteiligere Ausprägungen ungleicher Entwicklung. Gerade die Auseinandersetzung mit den beiden Metropolregionen Attika und Rhein-Main macht deutlich, dass zwischen beziehungsweise innerhalb einzelner Kommunen und Stadtteile ein Maß an sozialräumlichen Disparitäten besteht, das eine schematische Zuordnung entlang nationaler Kategorien verunmöglicht. Dies gilt umso mehr, da diese auch kleinräumigen Ungleichheiten in den letzten Jahren hier wie dort weiter zugenommen haben. Die Auseinandersetzung mit solchen lokalen Entwicklungen legt dabei eben jenes ungleichzeitige Wechselspiel von Investition und Desinvestition offen, das für kapitalistische Raumproduktion charakteristisch ist. So geraten neue Runden kapitalistischer Inwertsetzung in den Blick – inklusive der damit unweigerlich verbundenen Formen der Akkumulation durch Enteignung (Harvey 2013: 106-12). Wie in den beiden Workshops anhand der Beispiele Offenbach[4] sowie des Europaviertels in Frankfurt (Schipper/Wiegand 2015) gezeigt wurde, manifestiert sich diese Dynamik in Deutschland gegenwärtig in Gestalt eines kriseninduzierten (Wohn-)Immobilienbooms, in dessen Folge zuvor brachliegende oder von Desinvestition betroffenen Areale aufgewertet und umfangreiche Prozesse der staatlich geförderten (Neubau-)Gentrifizierung angestoßen werden, wodurch neue, kleinräumige Reichtums- und Armutsinseln entstehen. Vergleichbare Tendenzen lassen sich auf dem Immobilienmarkt in Athen nur sehr vereinzelt nachzeichnen. Dennoch zeugt der Privatisierungsdruck seitens der Troika auf Griechenland, der 2011 in der Gründung der staatlichen Treuhandgesellschaft HRADF mündete, von Versuchen, die Krise für eine neue Runde der kapitalistischen Inwertsetzung von (urbanem) Grund und Boden zu nutzen (Hadjimichalis 2014). Die Implementierung investitionsorientierter urbaner Gesetzgebungen und die zusätzliche Fokussierung auf urbane Großprojekte (Mullis 2015) weisen in dieselbe Richtung.

Die letztgenannten Beispiele zeigen schließlich viertens, dass die konkrete Analyse urbaner Austeritätspolitiken eines multiskalaren Zugriffs bedarf, der die verschiedenen Ebenen gesellschaftlicher Prozesse und Auseinandersetzungen gleichermaßen in die Betrachtungen mit einbezieht und in ihrer Relationalität fasst. Dass diese Ebenen und ihr Zusammenhang dabei selbst als sozial hervorgebracht – und daher potentiell veränderbar – verstanden werden müssen, wird nirgendwo deutlicher als an den verschiedenen Institutionen und Mechanismen, welche in den letzten Jahren in ganz Europa gegen teilweise heftige Widerstände eingeführt wurden, um das Leitbild des ausgeglichenen Staatshaushalts zu verfestigen und die Umsetzung austeritätspolitischer Maßnahmen sicherzustellen. Gerade weil beispielweise die Troika in Griechenland oder die Schuldenbremsen in Deutschland das Ausmaß und die konkrete Form urbaner Krisen entscheidend prägen, kann sich deren Analyse ebenso wenig auf die lokale Ebene beschränken wie umgekehrt eine Betrachtung des europäischen Austeritätsregimes ohne Bezug zu urbaner – sowie regionaler – Austerität unterkomplex bleiben muss.

Alltag, Krise der Reproduktion und Potentiale der (Re-)Politisierung

Im Rahmen der Workshops wurde gleichzeitig deutlich, dass der Begriff der Austerität nur einen – wenn auch zentralen – Aspekt der aktuellen Runde urbaner Krisen bezeichnet. So relevant es wäre, die austeritätsbedingten Kürzungen von und Umverteilungen mittels öffentlicher Haushalte auch hierzulande stärker zu thematisieren und zu skandalisieren, so zeigt der Blick über den ‚Umweg‘ Athen, dass wir dabei die Debatte erweitern sollten. Diesbezüglich halten wir vor allem zwei Aspekte für relevant, die ein deutliches Mehr an Forschung und Aktivismus aus der Wissenschaft heraus verdienen würden: zum einen die Krise der sozialen Reproduktion und den Wandel der alltäglichen Lebensweise, zum anderen die Krise der Repräsentation beziehungsweise die Etablierung alternativer politischer Projekte.

Vor dem Hintergrund der multiplen Krise in Athen (Koutrolikou 2015) wird zunächst deutlich, dass es, anders als aktuelle Debatten häufig suggerieren, bei Austerität längst nicht nur um die Konsolidierung öffentlicher Haushalte, die Durchsetzung eines schlanken Staates oder die Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit geht. Vielmehr stehen wir vor einem Projekt der gesamtgesellschaftlichen Umgestaltung, das langfristig angelegt ist und tiefgreifende Veränderungen der sozialen Reproduktion mit sich bringt. So machen die griechischen Teilnehmer_innen der beiden Workshops in ihren Beiträgen drastische Verschiebungen in praktisch allen Bereichen der Gesellschaft aus, angefangen bei der medizinischen Grundversorgung, über den Zugang zu Energie und Nahrungsmitteln bis hin zur Wohnungsfrage sowie den Geschlechterverhältnissen. Dina Vaiou (2014a) beschreibt eine Rationalisierung des Bildes der Hausfrau und der Mutter durch die hohe weibliche Arbeitslosigkeit; berichtet zugleich aber davon, dass Frauen die klassisch männliche Rolle der ‚Familienernährer‘ übernehmen. In beiden Fällen prägen Spannungen und Konflikte den alltäglichen Austausch, die immer öfter auch in häusliche Gewalt umschlagen. Im Kontext der Wohnungsfrage diskutiert der Beitrag Dimitra Siatitsas die Erosion auch langfristiger Lebensperspektiven durch den ökonomischen und politischen Druck auf das Wohneigentum, das im griechischen Modell den zentralen Ort der sozialen Reproduktion darstellt. In Athen sind Krisenerscheinungen dabei von zeitlich begrenzten Singularitäten zur kontinuierlichen Realität geworden, die den Alltag in all seinen Facetten dominiert (Lührs 2015). Richten wir den Blick über Athen auf Frankfurt und die Region Rhein-Main, ließe sich Ähnliches für prekarisierte Gruppen wie Langzeitarbeitslose, Flüchtlinge, Alleinerziehende, Alte und Menschen mit Behinderungen feststellen. Im Sinne der oben genannten variegierten Formen lokaler Entwicklung wäre hier insbesondere auch danach zu fragen, welchen Einfluss die „inequalities among places“ (Vaiou 2014b: 1) haben, also etwa, ob mensch im reichen Eschborn oder im armen Offenbach lebt.

Parallel zur Krise der sozialen Reproduktion und der Alltäglichkeit von Austerität sind in Griechenland in den letzten Jahren auch vielseitige Projekte der kollektiven Organisation und sozialer Grundversorgung entstanden. Im Bereich der Wohnungsfrage findet Vernetzung statt; vielerorts gibt es Initiativen von Nachbar_innen, in denen praktische Solidarität – wie etwa das Wiederanschließen gekappter Stromleitungen – geübt wird; selbstorganisierte Sozialkliniken bieten eine Grundversorgung; neue Formen der Lebensmitteldistribution werden ausprobiert et cetera. Vor diesem Hintergrund schafft die Veralltäglichung der Krise auch Möglichkeiten für alternative Formen sozialer Reproduktion. Wie oft betont wird, versuchen diese Projekte nicht philanthropisch aktiv zu sein, sondern selbstermächtigend zu wirken und damit neue Subjekte hervorzubringen, die sich dem fortlaufenden politischen, sozialen und ökonomischen Angriff mittels Austeritätspolitiken widersetzen können.

Ähnlich doppelseitige Prozesse von Prekarisierung und emanzipatorischem Potenzial sind in Griechenland auch auf der Ebene der Repräsentation und der Modi der Politik zu beobachten. Im Zuge der Austeritätspolitik erodierte das Vertrauen in das politische System des griechischen Staates erheblich. Seither wird die Frage nach den Möglichkeiten politischer Interventionen und Repräsentation mit voller Wucht gestellt. Nicht zuletzt die zweifache Wahl von Syriza sowie das Scheitern der fundamentalen Neuaushandlung der Bedingungen der ersten zwei Memoranden von 2010 und 2012 hat deutlich aufgezeigt, worin die Potentiale, aber auch die Grenzen eines politischen Projektes bestehen, das unter der gegebenen politischen Gesamtwetterlage auf nationaler und parlamentarischer Ebene den Bruch mit dem europäischen Austeritätsregime sucht. Jenseits der politischen Bewertung dieses Versuchs ist entscheidend, dass es rückblickend die breite Infragestellung der traditionellen Formen politischer Repräsentation in Griechenland war, das zum Aufbegehren und – vermittelt über die Besetzung des Syntagma Platzes im Sommer 2011 – zur Explosion jener lokalen Initiativen geführt hat, die den Aufstieg von Syriza erst ermöglichten. Die lokale Verbindung von Protesten und Widerständen vermochte eine breite Kraft zu entwickeln, die auf einer staatlichen Ebene zumindest zwischenzeitlich eine glaubhafte Alternative präsentierte.

Vor diesem Hintergrund konstatieren wir für den deutschsprachigen Kontext – trotz einzelner vielversprechender Versuche und Interventionen (vgl. z. B. Mayer et al. 2013) – eine erhebliche Forschungslücke hinsichtlich der Handlungsfähigkeit politischer Subjekte im Kontext von Neoliberalisierung, Austerität und urbaner Krise. Untersucht werden bis heute in vielen Fällen hauptsächlich die politischen Strategien der Eliten, Gouvernementalitäten, Herrschaftsmuster et cetera. Möglichkeitsfenster beziehungsweise die mitunter feinen, manchmal aber auch schon weiten Brüche kommen oft zu kurz oder werden im Kontext von Debatten des Postpolitischen oder der Biomacht in ihrer Relevanz negiert. Die Erfahrungen des Umgangs mit der ‚Shock Doctrine‘ in Griechenland verdeutlichen, wie diese Brüche von progressiven Gruppen aktiv produziert wurden. Wir vermuten, dass der schleichende Schock von inzwischen 40 Jahren scheibchenweiser Austerität in Deutschland – wenngleich der Schock in den neuen Bundesländern nach 1990 gar nicht so schleichend war – ebenfalls Brüche produziert hat, in denen sich neue Subjekte und widerständige Potentiale ergeben und verdichten. Wir erkennen in den vielen Arbeitsloseninitiativen, Mieterbündnissen, Stadtteilgruppen et cetera auch in unserem Umfeld Gruppen und Projekte, die zumindest an den Brüchen entlang arbeiten, die es analog zu den Arbeiten zu Athen auch hierzulande durch Forschung und Engagement zu (ver-)stärken gilt. Denn wie Cindy Katz (2001) unterstreicht, gehört das „unhiding“ dessen, was passiert, aber totgeschwiegen wird, zu den zentralen Aufgaben kritischer Wissenschaft. Dies gilt umso mehr, als die Unsichtbarkeit dieser Widerständigkeiten auch ein Teil ihrer Kontrolle ist und der Absicherung des Fortbestehens der schleichenden Prozesse der Austerität dient. Wir plädieren somit dafür, mitunter auch kleinteilige und fragmentarische Formen von Politik in und durch unsere Forschung zu erkennen. Neben der Athener Perspektive könnten Anregungen dazu etwa aus den aktuellen Debatten um Formen der „low-budget-urbanity“ kommen.[5] Voraussetzung hierfür wäre jedoch eine stärkere Fokussierung dieser Debatte auf solche Praxen, Initiativen und Akteur_innen, die ihren Ausgangspunkt in Formen sozialer Marginalisierung (aufgrund von Armut, Prekarisierung, Rassismus, Austeritätspolitiken etc.) haben (vgl. Hilbrandt/Richter 2015) beziehungsweise generell auf Macht, Herrschaft und die Möglichkeiten politischer Emanzipation. In diesem Zusammenhang erscheinen insbesondere jene nichteuropäischen Zugänge produktiv, die Mikro- und Alltagsformen von widerständigem Handeln thematisieren (vgl. Bayat 2012; Zibechi 2011). Solche Blickwinkel könnten dabei helfen, die Behauptung der Abwesenheit von Politik, womit immer auch ein Zementieren des Postpolitischen einhergeht, zu überwinden (vgl. Wilson/Swyngedouw 2014).

Intervention

Abschließend wollen wir die bisherigen Einsichten und Reflexionen im Rahmen der aktuellen Debatte um Austerity Urbanism verorten. Unseres Erachtens sollte das Konzept dabei nicht als ausgefeilter Zugang, sondern als heuristischer Ad-hoc-Begriff verstanden werden. Dies ist nicht zuletzt der Kürze der bisherigen Debatte zuzuschreiben, die zudem eher empirisch-beschreibend als begrifflich-abstrahierend ausgerichtet ist. Weiterhin ist auch von einer strategischen Verwendung des Begriffs auszugehen, erlaubt dieser doch, in politischen Debatten zu intervenieren. Ziel ist daher hier weniger eine grundlegende theoretische Kritik als eine Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen des Begriffs.

Analog zum oben herausgearbeiteten Anspruch, Multiskalarität ernst zu nehmen, arbeitet Peck (2012) mit dem Begriff des Austerity Urbanism heraus, dass es die Städte sind, in denen extralokal induzierte – sei es durch ökonomische Krisen oder supralokales Sparen – Konsolidierungsmaßnahmen besonders wehtun. Am Beispiel US-amerikanischer Städte benennt er damit zunächst eine spezifisch fiskalische Krise des (lokalen) Staates, die sich aber zugleich als eine urbane Krise artikuliere, „in the sense that the cities have been hit especially hard by the housing slump and the parallel wave of mortgage foreclosures; in the sense that cities are disproportionately reliant on public services; and in the sense that they are ‚home‘ to many of the preferred political targets of austerity programs – the ‚undeserving‘ poor, minorities and marginalized populations, public-sector unions and ‚bureaucratized‘ infrastructures. Cities are therefore where austerity bites.“ (Peck 2012: 629) Dieser Befund gilt, wie er betont, umso mehr, als die aktuelle Welle von Austerität auf ein urbanes Terrain trifft, das durch Dekaden der roll-back-Angriffe und die damit einhergehende Durchsetzung unternehmerischer Stadtpolitiken bereits umfassend neoliberalisiert worden ist. Hinsichtlich der oben zusammengetragenen Erfahrungen möchten wir vier Aspekte herausstellen, die uns bei der Diskussion urbaner Austerität als Resultat unseres Versuchs durch Athen auf Frankfurt zu blicken relevant erscheinen:

Austerität hat erstens eine Geographie und eine Geschichte und muss entsprechend als komplexes, in Raum und Zeit ungleiches Verhältnis verstanden werden, das in verschiedenen Territorien und auf verschiedenen Maßstabsebenen unterschiedliche, aber relational verbundene Verdichtungen und Brüche hervorbringt. In diesem Sinne sollte die jüngste Welle (urbaner) Austerität als Ausdruck, Moment und Mechanismus einer umfassenderen, ‚multiplen‘ (Dauer-)Krise der gesellschaftlichen Formation des neoliberalen Kapitalismus begriffen werden – und als solche auch im Dialog mit den vielfältigen Zeitdiagnosen aus dem breiten Feld der kritischen Sozialwissenschaften und Gesellschaftstheorie diskutiert werden.

Zweitens kann gerade der urbane Blick den umfassenden Umbau von gesellschaftlichen Mustern, Alltäglichkeiten und Subjektivitäten in den Fokus rücken, der polit-ökonomischen und staatszentrierten Ansätzen oftmals entgleitet. In diesem Sinne ist zunächst im Anschluss an Peck zu betonen, dass die urbanen Krisen im Zeitalter der Austerität sich nicht auf fiskalische Krisen auf dem Terrain des Urbanen beschränken, sondern weiter reichen. Zugleich möchten wir hier insbesondere zwei Dimensionen hervorheben, die in den bisherigen Debatten – auch jenen im Anschluss an Peck – weitgehend im Dunkeln bleiben: die Krisen der (urbanen) sozialen Reproduktion und die Krisen der (städtischen) Politik und Repräsentation. Wir sehen hier weiteren Forschungsbedarf, um die unterschiedlichen urbanen Krisendimensionen und insbesondere auch ihren Zusammenhang zu beleuchten.

Die durch Austerität Verarmten und Prekarisierten sollten drittens nicht ausschließlich als ‚Opfer‘ eines politischen Angriffs verstanden werden. Auch wenn festzustellen ist, dass soziale Verelendung in Griechenland eine schreiende Realität darstellt und auch in der BRD deutlich hervortritt, so sollte darüber nicht vergessen werden, dass daraus potentiell auch neue politische Subjekte entstehen, die sich selbst Handlungsmacht zusprechen und diese auch einfordern. Gerade hier sehen wir nicht nur im deutschsprachigen Kontext Forschungslücken sowie die Gefahr einer Überbetonung von Top-Down-Perspektiven, erfolgreicher Hegemonieproduktion und Postpolitik.

Enden wollen wir viertens mit zwei Kommentaren zur wissenschaftlichen Tätigkeit. Wenn wir als Akademiker_innen zum gesellschaftlichen Widerstand gegen die urbane Krise im Zeitalter der Austerität beitragen wollen, so sollten wir die Vielschichtigkeit der Krise beleuchten und neben den Regulierungsweisen auch die produzierten Risse, Brüche und deren Akteur_innen ins Blickfeld nehmen; und daran anschließend die progressiven Potentiale politischen Wandels nicht nur erforschen und ausloten, sondern auch aktiv unterstützen.

Endnoten

Autor_innen

Felix Wiegand ist Politikwissenschaftler und beschäftigt sich mit kritischer Stadtforschung, materialistischer Staatstheorie, (urbanen) Krisen, Austeritätspolitiken und sozialen Kämpfen.

wiegand@em.uni-frankfurt.de

 

Tino Petzold ist Humangeograph und beschäftigt sich mit Austerität, materialistischer Staats- und Rechtstheorie und kritischer Europaforschung.

petzold@em.uni-frankfurt.de

 

Daniel Mullis ist Humangeograph und beschäftigt sich mit kritischer Stadtforschung, politischer Philosophie und Raumproduktion, Neoliberalisierung und sozialen Bewegungen.

mullis@em.uni-frankfurt.de

 

Bernd Belina ist Humangeograph und beschäftigt sich mit historisch-geographischem Materialismus, Stadtforschung und kritischer Kriminologie.

belina@uni-frankfurt.de

Literatur

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Belina, Bernd (2013): Germany in times of crisis: Passive revolution, struggle over hegemony and new nationalism. In: Geografiska Annaler B 95/3, 275-285.

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