„Kritische Wissenschaft braucht einen Begriff von Gesellschaft.“ Interview mit Christiane Schulte & Freund_innen

Christiane Schulte & Freund_innen

Im Aufsatz „Der deutsch-deutsche Schäferhund – Ein Beitrag zur Gewaltgeschichte des Jahrhunderts der Extreme“ wird die direkte Abstammung der DDR-Grenzhunde von den KZ-Hunden der Nationalsozialist_innen behauptet, die eigensinnige Widerständigkeit der in Dienst genommenen Hunde, die immerhin 34 Mauertote unter sich zu beklagen hatten, beschrieben. Ein Ausblick beschreibt die Situation der ehemaligen West-Grenzhunde an den EU-Außengrenzen nach der „Wende“, wo die Hunde Flüchtlinge abschrecken mussten, anstatt sie mit freundlichem Gebell willkommen heißen zu dürfen.

Bisher wurde die Intervention von einer Reihe von Zeitungen und einem Fernsehbeitrag besprochen. In zahlreichen E-Mail-Verteilern verschiedener Disziplinen und an universitären Kaffeetischen wurde der Hoax zum Gesprächsstoff. Das Hannah-Arendt-Institut nahm den Beitrag aus der digitalen Ausgabe von Totalitarismus und Demokratie und bedauerte in einer stattdessen veröffentlichten Stellungnahme, dass die Redaktion „durch einen gefälschten Lebenslauf, eine scheinbar wissenschaftliche Argumentation, die dem Leser mit ausführlichen Erläuterungen, umfangreichen Fußnoten und falschen Archivangaben glaubhaft gemacht wurde … systematisch getäuscht“ worden sei. Auch der Arbeitskreis für Human-Animal Studies Chimaira sah sich zu einer Stellungnahme zu diesem „plumpen Human-Animal-Studies-Bashing von Schulte & Co“ genötigt.

sub\urban (s\u): Sie schreiben, dass Sie mit Ihrer Intervention „eine Diskussion darüber anregen wollen, warum engagierte Gesellschaftskritik in den Geisteswissenschaften zur Ausnahme geworden ist“. Ist diese Diskussion nach Ihrer Meinung bereits im Gange? Wie erleben Sie die Reaktionen auf Ihre Intervention?

Christiane Schulte & Freund_innen (CSF): Der Telepolis-Text wie auch die Berichterstattung haben per E-Mail und Internet eine unglaubliche Reichweite erlangt. Allerdings gibt es die Tendenz, das Ganze als Witz und Unterhaltung abzutun, was schade ist. Natürlich ist die Satire auch witzig, aber sie hat ein ernstes Anliegen, nämlich die Marginalisierung von Gesellschaftskritik in der Wissenschaft anzusprechen. Wir wollten die unsichtbaren „Grenzen des Sagbaren“ sichtbar machen und zeigen, dass man mit den bizarrsten Inhalten durchkommt, solange sie mit dem Mainstream konform sind, während andere Inhalte und Methoden es extrem schwer haben, als „richtige Wissenschaft“ anerkannt zu werden. Diese Inhalte sind nicht zufällig herrschaftskritisch, feministisch, staatskritisch, antikapitalistisch … unbequem eben.

Von daher hätten wir erwartet, dass Vertreter_innen der Kritischen Wissenschaft mehr Diskussionsbedarf haben würden, oder die Zivilgesellschaft. Doch z. B. auch die Vereine, die von der Extremismusklausel akut betroffen waren, haben sich bisher nicht dazu geäußert. Nur der MDR hat im Magazin artour eine Verbindung gezogen, die offensichtlich ist: Die Extremismustheorie, die der Schäferhund-Hoax als unwissenschaftlich vorgeführt hat, diente in Sachsen über zwei Jahrzehnte dazu, Antifaschist_innen und Linke mit Nazis gleichzusetzen, während die ganz realen Nazis unbehelligt blieben. Die jüngsten Ereignisse zeigen, welche fatalen Folgen das hat.

s\u: Warum ist Ihnen das Moment der Anonymität so wichtig?

CSF: In allen Anfragen war dies bisher das erste Thema. Spannender ist aber doch die Gegenfrage: Warum ist es so wichtig, wer Christiane Schulte ist? Ist es nicht wichtiger, was sie zu sagen hat? Je öfter diese Frage gestellt wird, desto mehr erscheint auch die Personalisierung im Medienbetrieb als ein Problem. Eine Story ist nur dann interessant, wenn man ein nettes Gesicht dazu hat. Auch im akademischen Betrieb geht das so: Bei Bewerbungen ist ein schickes Foto immer gut, während in anderen Ländern längst Bewerbungen ohne Foto üblich sind.

s\u: Es ging uns nicht so sehr um Personalisierung. Sondern eher darum, inwieweit Sie Anonymität als notwendig erachten und dies zugleich auch Ausdruck dessen ist, was Sie kritisieren: eine Struktur der Einschüchterung und die Angst vor den sozialen Kosten von Kritik im Kampf um die Ressourcen des akademischen Feldes? Alan Sokal, der ja in den 1990er Jahren vermutlich den bekanntesten Hoax in den Wissenschaften veröffentlichte, konnte das unter seinem Klarnamen machen.

CSF: Sie haben es erfasst: Der Druck, sich einordnen zu müssen, macht auch vor uns nicht halt. Nur die Anonymität bot die Möglichkeit, überhaupt erst mal frei sprechen zu können, ohne „Schere im Kopf“: Wird mir das beruflich schaden? Was ist bei der nächsten Bewerbung, der nächsten Evaluation? – Das alles einmal zu vergessen, war eine echte Befreiung und hat die Kreativität für die Satire überhaupt erst freigesetzt.

Alan Sokal hatte es 1996 insofern einfacher. Er hatte eine Stelle an der New York University und arbeitete als Physiker nicht in dem Bereich, in dem er seine Satire platzierte. Selbstzensur im eigenen Forschungsfeld war also nicht die Idee seiner Intervention.

Zwanzig Jahre später gibt diese Frage aber die Hauptstoßrichtung unserer Satire vor. Wir brauchen einen radikalen Bruch mit der Prekarisierung, den Kettenverträgen, den Projektstellen und dem ewigen Bewerber_innenstatus in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Dieses System erzeugt Duckmäusertum und verhindert originelles Denken. Es müssen unbefristete Stellen und soziale Sicherheit erkämpft werden. Die Vorschläge seitens der GEW etwa liegen seit Jahren als „Templiner Manifest“ auf dem Tisch, doch in der Realität hat sich wenig geändert.

Unser Hunde-Hoax zeigt, was für eine Wissenschaftskultur entsteht, wenn Geisteswissenschaftler_innen wie Praktikant_innen gehalten werden: Was nichts kostet, ist auch nix wert. Wer die Leute ständig in Existenzangst hält, bekommt eben Konformismus und Nachgeplapper.

Die Lösung kann von daher auch nicht mehr peer review sein – das wird das Problem eher noch verstärken, weil gerade ein anonymes peer review, bei dem man alle möglichen und unmöglichen Gutachter_innen im Kopf mitdenken muss, nicht zu originellen Thesen führt. Zu erwarten sind dann eher Artikel mit viel „einerseits-andererseits“, die sich der Linie des Fachblatts anpassen und möglichst viele von dessen Beiträgen zitieren, damit dessen impact factor steigt. Originalität braucht aber nicht noch mehr Evaluation, sondern eine liberale Wissenschaftskultur und soziale Sicherheit für die Forschenden.

s\u: Wie kann man Ihrer Ansicht nach jenseits der Satire der Mainstreamisierung der Wissenschaft entgegen wirken?

CSF: Zunächst: Nicht alles, was Mainstream ist, ist automatisch schlecht. Wir behaupten nicht, die allein seligmachende Weisheit zu besitzen. Doch wir wollen, dass neben dem Hauptstrom auch Platz für Seitenströme und insbesondere für Gesellschaftskritik ist.

Wie kann man das erreichen? – Satire kann nur auf ein Problem aufmerksam machen, es aber nicht lösen. Satire ist eine Strategie, um etwas offenzulegen, die Debatte um gesellschaftliche Veränderungen beginnt erst danach. Für die Wissenschaft bedeutet das, mal genauer nach den Ursachen des Konformismus zu fragen.

Es geht dabei nicht nur um einzelne Strömungen, sondern um ein Wissenschaftssystem, in dem die bereits angesprochenen prekären Arbeitsbedingungen mit feudalen persönlichen Abhängigkeiten kombiniert werden. Da es in Deutschland keine unbefristeten Stellen im Mittelbau gibt, hat eine Professur nach wie vor einen geradezu mittelalterlichen Status: Alle anderen am Institut sind abhängig vom Lehrstuhlinhaber und dessen Protektion – Lehrstuhlinhaberinnen sind nach wie vor die Minderheit. Es besteht ein massiver Anreiz, sich einzuordnen und Knickfüße zu machen. Gleichzeitig soll man irgendwie innovativ sein. So entstehen Schein-Innovationen und Pseudodebatten, aber keine unabhängige Forschung.

Hinzu kommt ein kulturelles Problem: In Deutschland fehlt die liberale Wissenschaftskultur und oft denkt man, der Kalte Krieg sei noch nicht zu Ende. Gesellschaftskritik steht bei uns immer unter Ideologieverdacht, und auch das ist innovationsfeindlich. So gab es in Deutschland seit den 1970er Jahren eine sehr gute Frauen- und Geschlechterforschung, die kaputtgespart wurde. Und dann wird sie auf Umwegen aus den USA als Gender Studies  teilweise wieder reingeholt. Ähnlich verlief es mit antirassistischen Ansätzen, die erst unter dem Label Postcolonial Studies bei uns wissenschaftlich sprechfähig wurden, oder mit marxistischen Strömungen, wie etwa der Kritischen Geographie. David Harvey hätte zum Beispiel in der BRD als Marxist nie eine Professur bekommen. Aber weil sich seine Bücher in den USA gut machen, wird er nun auf Kosten der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingeladen. In Deutschland ist eine gesellschaftskritische Wissenschaft also erst dann aussprechbar, wenn sie vom Weltmarkt kommt. Niemand hat bei der Bachelor-Reform daran gedacht, sich vielleicht aus dem angelsächsischen System auch mal Dinge zum Vorbild zu nehmen wie populär geschriebene Sachbücher und eine liberale Wissenschaftskultur mit Raum für Dissidenzen.

s\u: Liest man Ihre Erklärung auf Telepolis wie auch die Stellungnahme des Arbeitskreises Chimaira, so fällt auf, dass in beiden Fällen mit einem sehr emphatischen Bezug auf einen wissenschaftlichen Ethos argumentiert wird. Sehen Sie hier jeweils unterschiedliche Wissenschaftsverständnisse mobilisiert?

CSF: Haben Sie die Chimaira-Erklärung einmal genauer durchgelesen? Dort wird geleugnet, dass die „Schäferhund-Thesen“ absurd seien. Der Hoax wird auch nach der Enthüllung noch für bare Münze genommen. Chimaira schreibt: „Weiterhin ist bisher weder bewiesen noch widerlegt, dass Wachhunde aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) nicht von KZ-Hunden abstammten.“

Man muss sich das einmal vor Augen führen: Es gibt einen Beitrag mit erfundenen Thesen, der einer wissenschaftlichen Strömung nach dem Mund redet, und die Vertreter_innen dieser Strömung antworten: Beweisen sie uns doch mal, dass ihre Thesen wirklich erfunden sind! Jetzt soll also die arme Christiane Schulte beweisen, dass die NVA-Hunde nicht doch von KZ-Hunden abstammen. Zum Glück gilt in der Geschichtswissenschaft das Primat der Quellen, das heißt, wer eine Behauptung über die Vergangenheit aufstellt, muss eine historische Quelle dafür anbringen. Die Antwort von Chimaira zeigt, dass die Human-Animal Studies kein Wissenschaftsverständnis haben. Sie folgen dem Dogma der animal agency und Kritiker_innen sollen ihnen das Gegenteil beweisen. In der Astrologie wird recht ähnlich argumentiert: Beweisen Sie uns erst einmal, dass Sternzeichen nicht doch etwas über Ihren Charakter aussagen!

Das zeigt auch, was passiert, wenn sich eine wissenschaftliche Strömung nur mit sich selbst beschäftigt ist und in einer Selbstbestätigungschleife festhängt. So etwas passiert auch Vertreter_innen von Ansätze, die sich selbst als kritisch begreifen – wie in den Human-Animal Studies, deren Vertreter_innen sich ja ständig als total radikal inszenieren, die die ultimativ unterdrückten Tiere zurück in den Diskurs holen wollen etc. Kritische Wissenschaft braucht eben immer auch ein Außen, mit dem sie diskutieren kann. Aber mit Schäferhunden können sie nicht diskutieren, auch wenn manche aufs Wort hören. „Außen“ bedeutet, dass gerade Kritische Wissenschaft immer auch mit dem Mainstream diskutieren muss. Andererseits bedeutet dieses Außen auch, dass Kritische Wissenschaft immer eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Und Gesellschaft ist ein Verhältnis zwischen Menschen und Menschengruppen, es geht um Herrschaft, um Privilegien, um Verteilung von Ressourcen und Arbeitskraft nach Geschlecht, Klasse oder anderen Kategorien. Diese Ungleichheiten zu thematisieren, sie überhaupt sichtbar zu machen und gesellschaftliche Gleichheit einzufordern: Das ist Kritische Wissenschaft!

Dazu gehört auch das gesellschaftliche Naturverhältnis, also der Umgang von Menschen mit der Natur. Die agency-These in den Human-Animal Studies baut hier jedoch einen Fetisch auf. Dadurch werden ethische und politische Kategorien wie „Ausbeutung“ auf Tiere projiziert und Herrschaftsverhältnisse zwischen Menschen somit unsichtbar gemacht.

Eine ähnliche These gibt es in der Klimadiskussion beim „Anthropozän“, dem „Menschenzeitalter“ als geologische Epoche. Hier gibt es die Tendenz, die Menschheit als Block zu sehen, verantwortlich für Klimawandel und Naturzerstörung. Doch schon ein Blick auf die Klimaverhandlungen zeigt, dass es „die Menschheit“ nicht gibt. Es gibt ökonomisch starke Staaten, die seit Jahrhunderten die Natur in Besitz genommen und andere Menschengruppen unterdrückt haben und damit gerne ungestört weitermachen würden. Es gibt Unternehmenslobbys, die enorme Ressourcen mobilisieren, um sich ihr Geschäft nicht zerstören zu lassen. Der Klimakonflikt ist eben kein Konflikt zwischen „Menschheit“ und „Natur“ oder gar zwischen Menschen und Eisbären. Es ist ein gesellschaftlicher Kampf zwischen Menschengruppen mit Macht und anderen, die von Geld, Macht und Ressourcen ausgeschlossen werden.

Lange Rede, kurzer Sinn: Kritische Wissenschaft braucht einen Begriff von Gesellschaft. Und Gesellschaft ist die Arbeitsteilung und Machtverteilung zwischen Menschen.

s\u: Ist Kritische Wissenschaft für Sie nur jenseits des sogenannten Posthumanismus möglich? Es gibt doch auch innerhalb dieser Strömung Ansätze, deren Vertreter_innen sich durchaus als feministisch, antikapitalistisch etc. verstehen, so z. B. Donna Haraway (die Sie ja auch zitieren) oder die Debatten um das Capitaloscene.

CSF: Wichtig ist, dass unser Beitrag nicht als pauschales Bashing von Dekonstruktivismus, postmoderner Theorie oder gar von Geisteswissenschaften generell verstanden wird. Geschichtswissenschaft muss stets Mythen de-konstruieren, etwa wenn es um Nationalismus geht. Das ist auch im Mainstream anerkannt. Aber jede Geschichtsschreibung baut auch eine neue Erzählung auf. Die „reine“ Dekonstruktion ist also nicht möglich. Man kann nur eine revidierte, anders begründete, weniger pauschale Rekonstruktion vorlegen.

Das Problem am Posthumanismus ist, dass die totale Dekonstruktion versucht wird. Auf der Strecke bleiben dabei wesentliche ethische Grundideen, die zum Glück nicht nur von der politischen Linken geteilt werden. Es ist nämlich nicht möglich, den Begriff „Spezizismus“ zu verwenden oder von „menschlichen und nicht-menschlichen Tieren“ zu reden, ohne Mensch und Tier gleichzusetzen. Die Human-Animal Studies haben explizit zum Ziel, diese Grenze zu verwischen. Ergebnis sind Gleichsetzungen wie „Hühner-KZ“ oder die PETA-Werbung, in der die Schweinemast mit dem Holocaust verglichen wird. Auch wenn sich von diesen Auswüchsen innerhalb der Human-Animal Studies distanziert wird, bleibt das grundsätzliche Problem dahinter bestehen: Sobald man Tieren denselben Status wie Menschen zuschreibt, ist das Ergebnis nicht die Aufwertung von Tieren, sondern die Abwertung von Menschen. Der Tierrechtler und Ethiker Peter Singer hat das auf die Spitze getrieben. Er fordert Menschenrechte für Affen und stellt in seiner Praktischen Ethik fest, dass die Tötung behinderter Säuglinge gerechtfertigt sein könne.

Posthumanist_innen müssen sich nicht auf diesen gefährlichen Stuss einlassen. Die Kritik am klassischen Humanismus der Renaissance, der von einem per se „guten Wesen“ des Menschen ausgeht, ist natürlich notwendig. Die essentialisierende Annahme vom „an sich“ guten Menschen ist schon seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr zu halten. Doch die Lehre aus der Gewalt von Menschen gegen Menschen kann nicht sein, die Menschlichkeit als Konstrukt einzureißen.

Die Menschenrechte sind eine soziale Konstruktion: irgendwann erfunden, 1948 in einer Konvention festgeschrieben. Und dennoch kämpft man für ihre Durchsetzung und sollte das auch weiterhin tun, man sollte sie auf die soziale und ökonomische Sphäre ausweiten.

Der Kampf um soziale Rechte ist alles andere als ausgekämpft. In Pakistan gibt es eine NGO für Esel, in der Londoner U-Bahn werden dafür per SMS Spenden gesammelt. Aber Flüchtlinge will man in Großbritannien und auch anderswo nicht so gerne aufnehmen und hält sie lieber in Calais im Lager fest. Es stellt sich doch die Frage, ob wir in solchen Zeiten mehr Tierrechte und Posthumanismus oder nicht eher einen neuen Humanismus brauchen?

s\u: Es ist aber doch bemerkenswert, dass die Stellungnahme des AK Chimaira mit Vorwürfen des „Vertrauensbruchs“ argumentiert, die Zeitschrift Totalitarismus und Demokratie die Intervention als „arglistigen“ Missbrauchs des „liberalen Grundverständnis der Zeitschrift“ kritisiert. Hier werden die Kategorien der Redlichkeit und des Vertrauens als zentrale Elemente von Wissenschaft postuliert, die Dimension der Wahrheit jedoch nicht. Ist dies Ihrer Ansicht nach ein Teil des von Ihnen dargestellten größeren Problems konformer Wissenschaft?

CSF: Diese Vorwürfe lenken davon ab, dass in beiden Fällen wissenschaftliche Standards nicht kontrolliert wurden, weil die Inhalte einfach zu gut klangen. Wer so offensiv Vertrauen einfordert, der sagt nur, dass er versäumt hat, kritisch nachzufragen und zu prüfen.

Es ist klar, dass Zeitschriftenredaktionen und Konferenzorganisator_innen nicht ins Archiv gehen und alle Signaturen überprüfen. Aber unser Text lag vor Konferenzbeginn ausformuliert vor, und in dieser Vorlage war jedes zweite Zeitungszitat erfunden. Wir warten bis heute auf ein wikiplag, auf dem das mal auseinandergenommen wird. Zudem gab es offensichtliche Hinweise: Unser fiktiver Mauerhund hieß ausgerechnet Rex, nach dem bekannten „Kommissar Rex“ aus der SAT.1-Serie. Und ganze 280 Hundejahre dauerte die deutsche Teilung – das waren Winks mit dem Zaunpfahl! Die Absurdität des Beitrags lag offen zutage. Doch wie sagte schon Kirchenvater Augustinus: Credo quia absurdum – Ich glaube, weil es absurd ist. Extremismus und Demokratie ist zudem keine liberale, sondern eine rechtskonservative Zeitschrift. Sie ist nur da liberal, wo es in ihren Kanon passt: Die DDR mit Nazis gleichsetzen, das darf man auch mit postmoderner Begründung und Hundegebell. Es ist außerdem vielsagend, dass die im Aufsatz enthaltene Kritik am EU-Grenzregime kräftig geschrumpft und in Randbemerkungen grundsätzlich abgelehnt wurde. Nur ein Satz darüber hat es in die Veröffentlichung geschafft. Hier ist also kein Vergleich erwünscht, hier hört der Liberalismus auf.

s\u: In Ihrer Intervention zielen Sie ja sowohl auf eine Kritik poststrukturalistisch-undogmatischer Theorien (wie den Human-Animal Studies) ab, als auch auf die deutsche Totalitarismusforschung, die ja eher dogmatisch ist und einem ganz anderen Weltbild wie auch Wissenschaftsverständnis entspringt. Diese beiden vermeintlich konträren Ansätze scheinen doch überraschend gut zusammenzugehen. Warum?

CSF: Wir halten die Human-Animal Studies nicht für undogmatisch. Die darin vertretene These von der animal agency erfüllt vielmehr alle Kriterien eines Dogmas: Sie wird gesetzt, ist unverhandelbar, alle Ergebnisse sind nur zu ihrer Bestätigung da und in ihrer Allgemeinheit lässt sie sich nicht widerlegen. Denn klar: Tiere sind keine Möbel, sie tun immer irgendwas und aus dem Tun wird dann agency. Erinnern wir uns nur an die Erklärung von Chimaira und die Trotzreaktion, dass ja nicht bewiesen sei, dass die Mauerhunde nicht doch von KZ-Hunden abstammten. „We want to believe“, würde Akte X-Star Fox Mulder dazu sagen. Gemeinsam ist beiden Ansätzen, zumindest in der Konferenzeinladung „Tiere unserer Heimat“, ein holzschnittartiger Antikommunismus. Wir sind keine stalinistischen DDR-Fans, wie uns der Betreiber des Foucault-Blogs in einem Kommentar unterstellte. Wir finden allerdings, dass weder die Sprachschablone „Unrechtsstaat“ die DDR erklären kann, und ebensowenig die Totalitarismustheorie, die durch die Gleichsetzung der DDR mit dem NS-Staat in letzter Konsequenz den Holocaust relativiert. Für den Stalinismus, der Millionen von Opfern forderte, mag dieser Vergleich auf einem nachvollziehbaren Erschrecken beruhen. Aber erklären kann der Vergleich nichts, denn der Stalinismus hat nicht den Nationalsozialismus als historischen Vorläufer, sondern die sozialistische Arbeiter_innenbewegung. Hier wäre der Vergleich zwischen den Zielen einer Bewegung und den Realitäten des Staatssozialismus angebracht. Bei der Übertragung auf die DDR zeigt sich die ganze Erklärungsunfähigkeit der Totalitarismustheorie: In der DDR gab es keinen Holocaust; sie hat keinen Weltkrieg vom Zaun gebrochen. Ein Vergleich mit dem NS-Regime  ist daher schon bezüglich der unterschiedlichen Dimensionen absurd. Im Gegenteil, wenn man die DDR und das NS-Regime mal „ehrlich“ miteinander vergleichen würde, käme die DDR noch zu gut weg. Deswegen heben ja gerade „Ostalgiker“ das Antifaschistische in der DDR hervor, um über ihre diktatorischen Züge nicht reden zu müssen. Es ist auch interessant, dass etwa der Vergleich zwischen „Bismarckstaat“ und NS verpönt ist. Hier redet niemand von „zwei deutschen Diktaturen“, obwohl im Deutschen Kaiserreich die Regierung nicht gewählt, sondern vom Kaiser ernannt wurde. Auch nicht gerade demokratisch.

Die Human-Animal Studies sind jedoch für die Totalitarismustheorie und andere konservative bis rechte Erklärungsmuster offen, weil sie schlichtweg keinen Begriff von Gesellschaft haben.

s\u: Die Universitäten in Deutschland waren ja (mit wenigen erkämpften Ausnahmen) selten Orte radikaler Gesellschaftskritik. Ist es da so verwunderlich, dass sich an diesen unkritisches und marktförmiges Wissen reproduziert? Welchen Ort könnte denn eine kritische Wissenschaft haben? Welche kollektiven Formen jenseits der von Ihnen eingeforderten kritischen Haltung je einzelner Wissenschaftler_innen könnte sie annehmen?

CSF: Nein, es ist nicht verwunderlich. Die Universitäten sollen Berufsausbildungen für den Markt anbieten, und welcher Staat finanziert schon seine eigenen Dissident_innen?

Allerdings herrscht an den Universitäten immer auch ein Bildungsideal: Objektivität, Neutralität und Pluralismus sind zentral, wenn Wissenschaftler_innen im Feuilleton ihre Welterklärungen legitimieren. Wichtig ist daher, diesen Anspruch auch einzufordern und den Konformismus nicht einfach hinzunehmen, weil das ja  im Kapitalismus sowieso die Funktion der Uni sei. Die Universitäten sind Kampffelder. Wer jeden gesellschaftlichen Konformismus und Konservatismus rein funktionalistisch mit der institutionellen Struktur erklärt – aus dem Verblendungszusammenhang oder anderen abstrakten Ableitungen heraus –, der gibt den Anspruch auf, etwas verändern und bewegen zu wollen. Die Universitäten waren einmal offener für Kritische Wissenschaft, und sie könnten es wieder werden. Wir hoffen, dass unsere Intervention auch ein Ansporn dafür ist.

Gleichzeitig braucht es Gegen-Institutionen und Räume. Zeitschriften sind in diesem Zusammenhang sehr wichtig, auch eigene Kongresse, auf denen sich emanzipatorische Wissenschaft trifft. Das sind aber alles auch Fragen einer guten Selbstorganisation. Hier fehlt oft die Energie, die Vision - oder der Schulenkampf verstellt den Blick auf größeres.

Ansonsten ist Wissenschaft nicht alles. Sie kann politische Bewegungen nicht ersetzen, nur begleiten, vielleicht beraten, aber sie hat ihre Grenzen. Die Wissenschaft ist nur ein Kampffeld von vielen, das muss auch klar gesagt werden. Wer kritisch sein will, kann das nicht nur in der Theorie sein, sondern muss sich auch einmischen, Teil von sozialen Bewegungen werden, auf der Straße gehen. Theorie ist eben nicht auch „irgendwie“ Praxis, sondern Politik geht über das Universitäre hinaus.

 

Das Gespräch führten Stefan Höhne, Boris Michel und Lisa Vollmer.