Human-Animal Studies zwischen wissenschaftlicher Distanz und politischem Engagement Ein Gespräch über Wissenschaft, Politik und Gesellschaft mit dem Chimaira-Arbeitskreis

Markus Kurth, Helen Keller, Aiyana Rosen

In den Stellungnahmen zu ihrem „Schäferhund-Hoax“ erheben Christiane Schulte und Freund_innen schwere Vorwürfe gegen die Human-Animal Studies (HAS) sowie die Totalitarismusforschung (siehe Interview mit Schulte et. al. in diesem Heft) Wir haben mit dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, Mitarbeiter des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, sowie mit Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies e. V. über die Intention und Kritik von Schulte et. al. und die Möglichkeiten kritisch-emanzipativer Wissenschaft gesprochen.

sub\urban (s\u): Die Gruppe „Christiane Schulte und Freund_innen“ kritisiert an den HAS unter anderem, dass diese radikal antihumanistisch, affirmativ und offen für rechte Erklärungsmuster seien. Wie begegnen Sie dieser Kritik?

Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies: Ehrlich gesagt ist es für uns schwierig, die Kritik von Schulte und Freund_innen genau zu erfassen, weil sie so wenig konkret ist. Was den Vorwurf, wir seien antihumanistisch, anbelangt: Nach unserer Einschätzung stellt die antihumanistische Kritik von Autor_innen wie zum Beispiel Althusser, Foucault, Butler und Derrida einen wichtigen Impuls zur Weiterentwicklung des Humanismus dar. In dieser Kritik geht es gerade nicht um eine ethische Abwertung von Menschen – auch wenn Schulte und Freund_innen dies anscheinend so auffassen –, sondern um eine Infragestellung des humanistischen Subjekts mit seiner vermeintlichen Autonomie und seiner selbstbestimmten Handlungsfähigkeit. Es ist nun aber nicht so, dass Foucault und seine Mitstreiter_innen dem Subjekt die Handlungsfähigkeit komplett absprechen wollen. Sie gehen allerdings davon aus, dass Menschen in bestimmte, innere und äußere Strukturen eingebunden sind, die ihre Möglichkeiten zu handeln einschränken. Zwar gibt es weiterhin die Möglichkeit gegen diese Strukturen anzugehen, allerdings nicht von außen, als autonomes Subjekt, sondern innerhalb komplexer Machtverhältnisse.

Ein solcher poststrukturalistischer Antihumanismus – wie auch der mit ihm verwandte Posthumanismus – wird von uns und vielen Vertreter_innen der HAS geteilt, weil er es unter anderem möglich macht, nichtmenschliche Tiere stärker mitzudenken, nämlich als Lebewesen, die wie Menschen in gesellschaftliche Strukturen eingebunden sind und gewisse Formen von Handlungsfähigkeit besitzen.

Das Missverständnis liegt also darin, Humanismus und Anti- beziehungsweise Posthumanismus als Gegenbewegungen zu betrachten, auch und vor allem auf einer ethischen Ebene. Es geht gerade nicht darum, sich – wie von Schulte im Interview mit der sub\urban in diesem Heft behauptet – zwischen der menschenwürdigen Behandlung von Geflüchteten und der Spende an eine pakistanische NGO für Esel entscheiden zu müssen. Wieso sollte das eine das andere ausschließen? Die posthumanistisch ausgerichteten HAS streben eine Inklusion von nichtmenschlichen Tieren an, nicht eine Ersetzung von Menschen durch Tiere.

Der Vorwurf, nichtmenschliche Tiere über Menschen zu stellen, wurde in den 1990ern auch an die deutsche Tierrechtsbewegung gerichtet. Allerdings hat er schon damals inhaltlich nicht gegriffen. Das Grundanliegen für den größten Teil der Bewegung war und ist eine Inklusion von nichtmenschlichen Tieren in eine emanzipatorische Politik. Am Scheingefecht um den Begriff ‚nichtmenschliche Tiere‘ lässt sich dieser Konflikt gut erkennen: Eingeführt wurde er, um die Kontinuitäten zwischen Menschen und anderen Mitlebewesen hervorzuheben, nicht um diese gleichzusetzen. Für einige scheint es jedoch eine große Herausforderung zu sein, sowohl Ähnlichkeiten als auch Differenzen zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren gleichzeitig zu denken. Dabei ist es doch offensichtlich, dass keine der beiden Extrempositionen – Menschen und Tiere sind vollständig verschieden versus völlig gleich – dem ambivalenten Status von nichtmenschlichen Tieren in unserer Gesellschaft gerecht wird. Schulte und Freund_innen greifen dieses ‚Argument‘ wieder auf, indem sie den HAS zu Unrecht unterstellen, herabwürdigend von „menschlichen Tieren“ zu sprechen. Dahinter steckt recht offensichtlich der Versuch, ein gesamtes Forschungsfeld herabzusetzen und ihm einen rein politischen, reaktionären Charakter zu unterstellen. Dabei macht schon ein Blick auf die Vielfalt der Positionen von HAS-Forscher_innen deutlich, wie absurd diese Beschuldigungen sind. Viele der Beteiligten haben wenige oder keine Schnittmengen mit der Tierrechtsbewegung, das Feld ist von wissenschaftlicher Offenheit, nicht von politischer Schließung gekennzeichnet.

Wohin eine solche Schließung führt, lässt sich an der Gruppe um Schulte leicht erkennen. Diese bezeichnet sich selbst als ‚kritisch‘, allerdings pachtet sie den Kritikbegriff so doktrinär für sich, dass sie keine Forschung jenseits der eigenen politischen Agenda anerkennt. Wie wir nach den ersten Anschuldigungen Schultes deutlich gemacht haben, sind viele der angeblich völlig absurden Thesen oder Textstellen ihres Vortrags durchaus mit bestehenden wissenschaftlichen Ansätzen vereinbar. So zeigt die NS-Forschung beispielsweise, dass es während des Dritten Reichs zu einer Häufung des Namens „Rex“ unter Schäferhunden kam. Schultes Hoax hätte also keineswegs schon durch den – fiktiven – Hundenamen auffliegen müssen, was Schulte und Co. jedoch behaupten. Anstatt bestehende Forschung anzuerkennen, bezeichnet die Gruppe diese lieber als ‚Astrologie‘. Es ist ziemlich offensichtlich, dass die Forderung, die Geschichtswissenschaft solle sich wieder mehr am ‚Primat der Quellen‘ orientieren, von Schulte und Freund_innen dann fallengelassen wird, wenn sie den eigenen politischen Zielen zuwiderläuft. Wenn Wissenschaft allerdings allein von der eigenen Politik instrumentalisiert wird, sollte man stattdessen eine Politgruppe gründen. Besser wäre es natürlich, man würde einer fundierten wissenschaftlichen (Gegen-)Argumentation begegnen.

Natürlich bedeutet das nicht, dass HAS-Forscher_innen keine politischen Überzeugungen besitzen! Es gibt viele im Feld, die sich – so wie wir – als explizit kritisch in einem politischen Sinn verstehen und sich gegen vielfältige Formen von Gewalt positionieren, so zum Beispiel neben Speziesismus auch gegen Sexismus, Rassismus, Antisemitismus und Homophobie. Die Behauptung, die HAS seien prinzipiell nach rechts offen, ist von daher absurd. Allerdings sind diese politischen Überzeugungen eben nicht gleichzusetzen mit unserer wissenschaftlichen Arbeit: Wir forschen ergebnisoffen und lassen unsere Thesen jederzeit überprüfen.

Unser Ansatz ist jedoch in der Regel ein kritischer, eben weil wir bestehende, meist anthropozentrische Wissensbestände in Frage stellen. Insofern finden wir auch den Vorwurf, wir seien ‚affirmativ‘, ehrlich gesagt ziemlich unverständlich.

s\u: Verstehen wir das richtig: Wissenschaftliche Arbeit ist Ihrer Ansicht nach von politischem Engagement strikt zu trennen? Wissenschaftliche Kritik in Ihrem Sinne heißt also primär, ergebnisoffen und erkenntniskritisch zu sein und nicht, wie beispielsweise die Kritische Theorie dies fordert, das eigene Forschen als in gesellschaftliche Verhältnisse eingebunden zu verstehen und mit einer nicht nur epistemischen, sondern auch politischen Kritik zur Aufhebung dieser Verhältnisse beizutragen?

Chimaira: Wir denken nicht, dass die beiden genannten Optionen zwangsläufig einen Widerspruch darstellen. Die strikte Trennung zwischen Politik und Wissenschaft ist natürlich eine Illusion. Und natürlich ist auch unsere Forschung eingebunden in bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse und zielt auf eine politische Veränderung. Trotzdem muss auch eine solche Forschung ergebnisoffen sein und sich einer kritischen Überprüfung durch andere stellen. Sonst bestünde die Gefahr, genau die Ergebnisse zu produzieren, die mit der eigenen politischen Haltung übereinstimmen, und diese dann als objektive Wahrheiten darzustellen. Schauen Sie sich die Kritische Theorie an: Ihre Vertreter_innen haben anfangs sehr wichtige Erkenntnisse geliefert, aber doch auch sehr vieles ausgeblendet, das dann von feministischen und postkolonialen Forscher_innen kritisiert und ergänzt wurde. Auch in diesem Fall war also eine Überprüfung wichtig. Die HAS versuchen größtenteils ebenfalls, mit ihrer Arbeit zu gesellschaftlichen Veränderungen beizutragen. Das Fundament dazu können aber nur Forschungen zu Mensch-Tier-Verhältnissen liefern, die eine kritische Distanz zu ihrem Material wahren und offen bleiben für Differenzierungen.

s\u: Ein weiterer Kritikpunkt lautet, dass die HAS Kategorien wie Ausbeutung auf Tiere projiziere und somit Herrschaftsverhältnisse zwischen Menschen ausblende. Dies liege an einem nicht vorhandenen Gesellschaftsbegriff. Sie widersprechen dem jedoch und schlagen einen anderen Begriff von Gesellschaft vor, der auch Machtverhältnisse und Hierarchien kritisch in den Blick nehmen soll. Wie sieht dieser aus und welche Kritik haben Sie an etablierten Gesellschaftsbegriffen?

Chimaira: Wir schlagen vor, anstatt von Projektion von Inklusion zu sprechen. Etablierte Gesellschaftsbegriffe finden wir deswegen schwierig, weil sie sich zumeist auf menschliche Sozialbeziehungen beschränken. Faktisch leben wir aber in einer multispecies society: Ob Vögel, Insekten, Ratten oder unsere geliebten Haustiere, wir kommen täglich mit einer großen Anzahl nichtmenschlicher Tiere in Kontakt und interagieren mit ihnen. Viele treffen wir allerdings erst, wenn sie bereits tot sind, nämlich auf unseren Tellern. Natürlich hat unser Umgang mit nichtmenschlichen Tieren nicht nur für diese Folgen, sondern auch für uns Menschen und die Umwelt. Stichwort: die katastrophalen globalen Auswirkungen der industrialisierten Nutztierhaltung, die maßgeblich für den Klimawandel mitverantwortlich ist.

Es gibt jedoch auch viele Gesellschaftsbegriffe, an die die HAS anschließen können. Wussten Sie, dass Max Horkheimer sich den Keller des gesellschaftlichen Wolkenkratzers als Schlachthof vorgestellt hat? Zu nennen wäre auch der Neue Materialismus, deren Vertreter_innen versuchen neben Menschen auch nichtmenschliche Entitäten mitzudenken. Oder Sue Donaldson und Will Kymlicka, die ihr liberales Verständnis von citizenship um nichtmenschliche Tiere erweitern und in ihrem Buch Zoopolis (2013 [2011]) durchspielen, welche Konsequenzen das für die Gesellschaft hätte. Wir beschäftigen uns in unserem Arbeitskreis mit all diesen Ansätzen, sind jedoch – wie die HAS im Allgemeinen – theoretisch unterschiedlich verortet: Manche von uns bevorzugen poststrukturalistische Gesellschaftstheorie, andere haben ein Faible für feministische Theorieansätze und einige haben sich in der letzten Zeit dem Neuen Materialismus zugewandt. Manche von uns haben sich auch eingehender mit Marx‘ Verständnis von Gesellschaft und Arbeit auseinandergesetzt. Für die damalige Zeit war dieses Verständnis auf jeden Fall revolutionär und Marx‘ Analyse der kapitalistischen Gesellschaft ist wirklich kaum zu überschätzen. Allerdings räumt er der Ökologie in seinem Werk wenig Raum ein, was sicherlich der Ära des Industriekapitalismus geschuldet ist. Zudem bauen Marx‘ Konzepte besonders stark auf der Grenze zwischen Mensch und Tier auf. Allerdings war das Mensch-Tier-Verhältnis damals auch ein anderes: Domestizierte Tiere waren vor allem Arbeits- oder Nutztiere und auf diese waren Menschen viel stärker angewiesen als heute, zumindest in westlichen Gesellschaften. Weil wir Arbeits- und Nutztiere nicht mehr unbedingt benötigen, können wir ihnen, wenn wir wollen, nun einen besseren Status zusprechen.

Die Lebens- und Produktionsbedingungen sind für uns ein Faktor für das Entstehen einer bestimmten Gesellschaftsordnung. Dass sich, was die Mensch-Tier-Verhältnisse angeht, in den Lebensbedingungen und im Stand der Produktivkräfte bereits Veränderungen ergeben haben, lässt grundlegendere Veränderungen für die Zukunft erhoffen.

Insgesamt finden wir jedoch die Frage, ob wir nichtmenschliche Tiere grundsätzlich als Mitglieder unserer Gesellschaft ethisch berücksichtigen wollen, viel wichtiger als die Frage, an welche Begriffstradition angeschlossen wird. Schaut man sich politische Kämpfe in der Vergangenheit an, so findet man zahlreiche Beispiele, die zeigen, dass sich politisches Engagement für nichtmenschliche Tiere und Menschen nicht ausschließt: So hat der Internationale Sozialistische Kampfbund der 1920er- und 1930er-Jahre sich beispielsweise für Tierrechte und Vegetarismus ausgesprochen. Oder dass die Frauenwahlrechtsbewegung in Großbritannien am Anfang des 20. Jahrhunderts eng mit der Antivivisektionsbewegung verbunden war, da gab es personell zahlreiche Überschneidungen. Dennoch führt die Forderung nach einer Berücksichtigung tierlicher Belange bei der politischen Linken oft noch zu Abwehrbewegungen. Das könnte an einer zu engen Auslegung marxistischer Theorie oder am eigenen Unwillen zur Konsequenz und Komplexität liegen. Wir können nur wiederholen: Der Einbezug nichtmenschlicher Tiere in die Auseinandersetzung mit Herrschaftsverhältnissen stellt eine Ergänzung und Inklusion dar, keine Ersetzung. Der Vorwurf, die entsprechenden Theorien würden Herrschaftsverhältnisse zwischen Menschen ausblenden, ist in keiner Weise haltbar und zeigt deutlich, dass eine Beschäftigung mit relevanter Literatur nicht stattgefunden hat. Diese übt nämlich in der Regel eine allgemeine Kritik an Herrschaftsverhältnissen, also auch an denen unter Menschen. Unser Arbeitskreis ist da keine Ausnahme. Im Gegenteil: In unserem ersten Sammelband gibt es zwei Artikel, die Geschlechterverhältnisse und Mensch-Tier-Verhältnisse verbinden. In unserem zweiten Sammelband werden Rassismus und Speziesismus in ihrer Verwobenheit analysiert. Alle, die unsere Texte kennen, wissen: Von einer Ausblendung zwischenmenschlicher Herrschaftsverhältnisse sind wir weit entfernt.

s\u: Was bedeutet die von Ihnen eingeforderte ethische Berücksichtigung von Tieren genau? Wie sollte diese in der Praxis aussehen? Oder anders und etwas plakativ gefragt: Sollte das Recht auf Stadt auch für Schäferhunde gelten?

Chimaira: Wir denken, dass es ein Anfang wäre, domestizierte nichtmenschliche Tiere als Teil von gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnissen zu betrachten und nicht als Naturwesen. Damit würde die Diskussion über diese Tiere auch eine historische, kulturelle und politische Ebene bekommen. Als Wissenschaft müssen sich die HAS dem aktuellen sozialen Wandel in vielen westlichen Gesellschaften und dem veränderten Denken in Bezug auf nichtmenschliche Tiere stellen. Praktisch oder ethisch heißt das, zu verstehen, wie vielfältig menschliche Beziehungen zu nichtmenschlichen Tieren sein können. Daraus sollten dann wiederum Schlussfolgerungen für ein möglichst emanzipatorisches Verhältnis abgeleitet werden. Auf einer Mikroebene könnte das heißen, mit der eigenen Forschung Orte wie die sogenannten Lebenshöfe sichtbar zu machen. Sie kennen diese vielleicht. Das sind Einrichtungen für ehemalige Nutztiere, in denen versucht wird, ein anderes, herrschaftsärmeres Mensch-Tier-Verhältnis zu leben.

Auf einer Makroebene halten wir es beispielsweise für wichtig, die immensen Auswirkungen der Nutztierhaltung sichtbar und der politischen Diskussion zugänglich zu machen. Insgesamt würden wir uns wünschen, dass nichtmenschliche Tiere nicht nur dann in der Politik als ethisch relevant betrachtet würden, wenn sie zu einer bedrohten Art gehören, also Teil einer zu schützenden ‚Natur‘ sind. Nichtmenschliche Tiere sind keine Menschen und brauchen entsprechend kein menschliches ‚Recht auf Stadt‘, aber vielleicht ja doch ein Recht auf körperliche Unversehrtheit? Wenn wir emanzipatorische Politik betreiben wollen, sollten wir zumindest darauf hinwirken, dass im Konfliktfall nicht stumpf jedes noch so schwache menschliche Bedürfnis gegen alles Nichtmenschliche durchgesetzt wird. Es müsste zumindest der Versuch unternommen werden, die tierliche Perspektive beziehungsweise die Auswirkungen auf nichtmenschliche Tiere nachzuvollziehen.

s\u: Unserer Einschätzung nach ging es der Intervention von Christiane Schulte und Freund_innen in erster Linie um eine Kritik an Totalitarismustheorien und nicht primär um die HAS. Jedoch haben Christiane Schulte und Freund_innen die HAS ausgewählt, da es sich aus ihrer Perspektive um eine unkritische Theoriemode handelt, die Ausdruck einer Krise der Universitäten und Kritischer Theorie sei. Darin ähnelten sich die HAS und die Totalitarismustheorien nach Ansicht von Schulte et al. also. Wie würden Sie das Verhältnis von HAS und Totalitarismusforschung beschreiben?

Chimaira: Wir wehren uns gegen eine Verbindung unseres Arbeitskreises mit der Totalitarismustheorie, wie sie in den Veröffentlichungen von Schulte und Freund_innen gezielt geschürt wird. Auch im Interview mit Ihrer Zeitschrift wird behauptet, dass die HAS – und damit auch wir – „für die Totalitarismustheorie und andere konservative bis rechte Erklärungsmuster offen [sind].“ Für diese Behauptung gibt es überhaupt keine Grundlage. Richtig ist nur, dass das fingierte Paper der Schulte-Gruppe von der Zeitschrift Totalitarismus und Demokratie des Hannah-Arendt-Instituts in Dresden zur Veröffentlichung akzeptiert wurde. Die Totalitarismustheorie scheint also für Ansätze der HAS offen zu sein, umgekehrt ist dies jedoch nicht der Fall. Zumindest ist uns keine Publikation aus den HAS bekannt, die die entsprechenden Parallelen zieht. Wir haben keine Verbindung zum Hannah-Arendt-Institut und stehen Extremismustheorien sowie der politischen Instrumentalisierung des Totalitarismuskonzepts ablehnend gegenüber. Insgesamt haben wir den Eindruck, dass die Totalitarismustheorie wissenschaftlich nicht mehr relevant ist und nur noch in bestimmten politischen Kontexten benutzt wird. Das entspricht genau Schultes Engagement: Dieses geht nicht über eine Kritik am politischen Charakter der Totalitarismustheorie hinaus, unterstellt aber gleichzeitig den HAS, sie seien zu politisch. Oder zu mainstreamig. Oder zu affirmativ. Je nachdem, wie es der Gruppe passt.

s\u: Sie betonten die erkenntnistheoretische und politische Heterogenität der HAS, ihre Offenheit gegenüber vielen Ansätze und Strömungen. Wie positionieren Sie sich in diesem Feld? Von welchen epistemischen und politischen Positionen grenzen Sie sich ab?

Chimaira: Wir stellen uns in unserer Arbeit gegen die hegemoniale Geschichte der gesellschaftlichen Mensch-Tier-Verhältnisse, das heißt, wir lehnen es ab, diese Verhältnisse als naturgegeben, überhistorisch und ungesellschaftlich anzusehen. Praktisch geht es uns weniger um eine allgemeine Kritik an der Versuchstierforschung oder der Nutztierhaltung, sondern eher darum, Zwischenräume, Widersprüche und Potenzialitäten in den Mensch-Tier-Verhältnissen aufzuspüren. Wir diskutieren unter anderem, wie nichtmenschliche Tiere in Begriffe wie Arbeit, Handeln und Kommunikation integriert werden könnten. Eigentlich stehen wir mit unserer Forschung zwischen zwei Positionen: Wir kritisieren den wissenschaftlichen und politischen Status quo in Bezug auf Mensch-Tier-Verhältnisse, wollen aber andererseits auch nicht einfach die Anliegen der Tierrechtsbewegung wiederholen. Es ist eher so, dass uns gerade unsere Unzufriedenheit mit gewissen Tierrechtspositionen inspiriert. In politischer, aber auch in wissenschaftlicher Hinsicht orientieren wir uns vor allem an den Gender, Queer und Postcolonial Studies. Eine bunte Gemengelage also, die aber für unser Feld nicht untypisch ist. Allerdings gibt es auch Forscher_innen in den HAS, die im Gegensatz zu uns rein deskriptiv arbeiten.

s\u: Die Arbeit des Chimaira AK findet ja primär außerhalb der Universitäten statt und wird weitestgehend durch Ehrenamt und Selbstorganisation getragen. Wie hat sich dieser Arbeitszusammenhang entwickelt? Warum scheint für die angeblich so modische und ‚mainstreamige‘ Bewegung der HAS kein Platz an den Universitäten zu sein?

Chimaira: Den Chimaira AK gibt es seit 2010. Wir haben uns damals als studentisches Projekt gegründet und auch als Reaktion darauf, dass es weder in der Tierrechtsbewegung noch an deutschsprachigen Universitäten eine wirklich komplexe Auseinandersetzung mit Mensch-Tier-Verhältnissen gab. Die Tierrechtstheorie war sehr stark durch ihre politische Motivation geprägt – das war uns nicht differenziert genug. An den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern konnten wir uns jedoch auch nicht orientieren, denn dort wurden nichtmenschliche Tiere größtenteils ignoriert. Dabei gab es im angloamerikanischen Raum damals schon Arbeiten, in denen – im Gegensatz zu naturwissenschaftlichen Ansätzen – nichtmenschliche Tiere als Lebewesen betrachtet wurden, die in gesellschaftliche Verhältnisse eingebettet sind. Diese Auffassung spiegelt sich auch im Namen des gesamten Forschungsfelds wider: In den HAS werden nicht Tiere untersucht, sondern die vielfältigen Verbindungen zwischen Menschen und Tieren.

Aktuell sind wir zu einer überregionalen Gruppe gewachsen. Gleichzeitig sind wir auch ein Netzwerk von und für Nachwuchsforscher_innen. Insgesamt haben wir zur Entwicklung der HAS mit der Herausgabe von drei Sammelbänden, wissenschaftlichen Artikeln sowie der Organisation von Kolloquien und Veranstaltungsreihen beigetragen. Unsere Arbeitsform erlaubt uns, neben allen Beschränkungen und Härten – wie Mangel an Zeit und Geld – auch ein großes Maß an Unabhängigkeit. Wir sind keiner Institution in unserer Arbeit verpflichtet und können unsere Themen und Beiträge selbst festlegen. Das kommt auch dem akademischen Nachwuchs zugute, für den wir Publikations- und Vernetzungsmöglichkeiten schaffen.

In Deutschland ist es momentan noch sehr schwierig, die HAS in eine nach wie vor stark disziplinär ausgerichtete Universitätslandschaft zu integrieren. Wir glauben, dass das weniger mit politischen Vorbehalten zu tun hat, als mit der Interdisziplinarität der HAS. Allerdings ist auch hier viel in Bewegung. Es gibt mehrere Lehrstühle, die sich bereits vorwiegend mit HAS beschäftigen und zudem noch zwei Professuren mit einer HAS-Denomination. Außerdem wurden in den letzten Jahren mehrere Konferenzen zum Thema durchgeführt.

s\u: Wie können die HAS zu einem emanzipatorischen Wissenschaftsverständnis sowie emanzipatorischen Praktiken beitragen?

Chimaira: Wir sind davon überzeugt, dass emanzipatorische Forschung Raum zur Entfaltung braucht. Wissenschaftliche Neugier ist weder unter einem zu engen politischen Dogma noch in den Verwertungsansprüchen der Universitäten gut aufgehoben. Die Rahmenbedingungen sind heutzutage schlecht für eine Wissenschaft als Projekt, in dem autonom gearbeitet werden kann. Es gibt nur wenige, die sich frei genug machen können, um neben ihrer Lohnarbeit zu forschen. Zudem sind aufwändigere Forschungen ohne entsprechende finanzielle Mittel einfach nicht machbar.

Wir stimmen Schulte und Freund_innen auf jeden Fall dahingehend zu, dass die Bedingungen für emanzipatorische Forschung sehr schwierig geworden sind. Es wäre gut, wenn die HAS die beunruhigenden Entwicklungen innerhalb der Hochschullandschaft deutlicher kritisieren würden – wie zum Beispiel den immer stärkeren Zwang, Drittmittel einzuwerben, oder die prekäre Arbeitssituation insbesondere von Nachwuchswissenschaftler_innen.

Generell sollten wir – und mit diesem „Wir“ meinen wir alle kritischen Forschenden – mit unserer wissenschaftspolitischen und inhaltlichen Arbeit dem neoliberalen Trend entgegenwirken und eine wissenschaftliche Praxis fördern, die nicht am Verwertungsinteresse orientiert ist.

Auf inhaltlicher Ebene versucht unser Arbeitskreis, zu einer emanzipatorischen Wissenschaft beizutragen, indem wir theoretische Anstöße liefern und gesellschaftliche Entwicklungen begleiten. Das kann durch eine Analyse der Tiernutzungsindustrie oder durch eine kritische Betrachtung des Vegan-Booms geschehen. Generell sind wir der Meinung, dass eine zeitgemäße emanzipatorische wissenschaftliche Praxis nicht funktionieren kann, wenn das Nichtmenschliche ausgeklammert wird. Sehen Sie sich zum Beispiel die Arbeitsabläufe eines Schlachthofs an: Wenn Sie diese umfassend analysieren wollen, macht es einfach keinen Sinn, nur auf race, class und gender der Arbeiter_innen zu fokussieren. Sie brauchen zusätzlich auch andere Perspektiven, auf die beteiligten Tiere, aber auch auf die Umwelt und auf die Technik. Sonst bleiben die Wirkmächte zum Teil verborgen und die anschließende Theoriebildung wird zwangsläufig unterkomplex.

Wir tragen sehr gern dazu bei, die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu stärken und Wissen zu produzieren, das den komplexen und widersprüchlichen Realitäten eher gerecht wird. Wir hoffen, dass dieses Wissen einmal Grundlage für ein deutlich anspruchsvolleres – und natürlich emanzipatorisches – politisches Programm sein wird.

 

Das Interview führten Stefan Höhne, Boris Michel und Lisa Vollmer.

Beteiligte

Markus Kurth ist Soziologe. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Human-Animal Studies, Stadtforschung, Sozialtheorie und Politische Philosophie.

 

Helen Keller ist Gender-Theoretikerin. Ihre Schwerpunkte sind Männlichkeitsforschung, Critical Animal Studies und Queer Theory.

 

Aiyana Rosen ist Politikwissenschaftlerin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Politik der Mensch-Tier-Verhältnisse, Geschlechter- und Diskursforschung.

 

chimaira@human-animal-studies.de