„Es kann nicht nur darum gehen, dass wir David Harvey unterrichten“ Interview mit Thomas Bürk zu Arbeitsbedingungen und Möglichkeiten kritischer Lehre an der neoliberalen Universität

Thomas Bürk

sub\urban (s\u): Die Auseinandersetzung mit den Arbeitsbedingungen im universitären und außeruniversitären Wissenschaftsbetrieb allgemein und vor allem die Formen kritischer Lehre werden nun schon seit einiger Zeit immer wieder diskutiert. So hat beispielsweise die heute nicht mehr aktive Gruppe AK Kritische Lehre bereits im Jahre 2010 ein wichtiges Thesenpapier dazu veröffentlicht (zugänglich unter: http://www.reflect-online.org/arbeitskreise/ak-kritische-lehre). Wie hat sich nach Deiner Einschätzung die Debatte in den letzten Jahren entwickelt?

Thomas Bürk (TB): Bereits Mitte der nuller Jahre wurden prekärere Arbeitsbedingungen intensiv thematisiert, wie etwa durch den Euro Mayday und andere Initiativen. Die Prekarität im Bildungsbetrieb und an den Universitäten anzusprechen hat aber noch etwas gedauert und erst langsam ab 2010 eingesetzt. Auch weil sich spätestens zu diesem Zeitpunkt die Lern- und Arbeitssituation an den Universitäten merklich zugespitzt hatte. Sicherlich hat auch die zunehmende Kritik an den Bologna-Reformen dazu beigetragen.

In dieser Zeit haben sich Initiativen wie der reflect! – AK Kritische Lehre gebildet. Sie begannen, die Möglichkeiten kritischer Wissensvermittlung an den Universitäten zu diskutieren. Ursprünglich ging es dabei vor allem um die Frage, wie man kritische Inhalte überhaupt (wieder) in die Seminarräume bringen könnte, etwa durch autonome Seminare und durch feministische und herrschaftskritische Lehrinhalte. Zu diesem Zeitpunkt wurde nur peripher über gerechte Bezahlung, Widersprüche bezüglich der Notengebung oder Hierarchiekonflikte – mit Studierenden und Kolleg_innen gleichermaßen – diskutiert. Der nächste Schritt bestand aus meiner – sicherlich eingeschränkten – Sicht darin, dass mehr kritische Menschen angefangen haben, sich in der Lehre zu engagieren, ihre Arbeitsbedingungen ernst zu nehmen und diese mit Kolleg_innen zu besprechen. Dadurch wurden sehr schnell Widersprüche der Arbeitsituationen an Hochschulen und in anderen Bildungsbetrieben deutlich. Und das war nicht zu unterschätzen, denn nur wenig wird – gerade auch unter linken Akademiker_innen – dürftiger thematisiert als der eigene Job, die jeweiligen Karriereaspirationen und der Kampf um den Aufstieg oder den reinen Stellenerhalt. Letztendlich herrscht immer noch die Vorstellung vor, künstlerische Genies kämpften hier gegeneinander, wobei sich die ‚besten Köpfe‘ natürlich durchsetzten. Solidarität innerhalb einer gleichen – ja nennen wir es nur beim Namen – Klassenlage ist da selten. Viel verbreiteter ist die abwehrende Haltung, nach der es sich beim akademischen Prekariat eher um privilegierte Positionen in der Arbeitswelt handele und nicht um bloße Zeitarbeitsjobs. Dass vor allem die Arbeitsverhältnisse der ‚Anderen‘ immer einfacher zu thematisieren und zu reflektieren sind als die eigenen, schwächt die Organisierung gegen die Arbeit allgemein und Diskussionen über prekäre Arbeitsbedingungen im Bildungsbetrieb im Besonderen. Das haben wir von der Kritischen Geographie Berlin auch gespürt, als wir vor ein paar Jahren – ich glaube es war Ende 2013 – einen Boykottaufruf gegen die damals noch recht neuen LfbA, also die Lehrkräfte für besondere Aufgaben, formuliert hatten (zugänglich unter http://kritische-geographie-berlin.de). Hintergrund waren vermehrte Stellenanzeigen von Universitäten und Hochschulen für befristete und oftmals auch in Teilzeit zu besetzende Post-Doc Stellen. Für eine 100 Prozent-Stelle sollten bis zu 16 oder gar 18 Semesterwochenstunden unterrichtet werden. Das bedeutete eine massive Überlastung der Lehrenden bei gleichzeitigem Abbau der alten Mittelbaustellen, etwa der Assistenzen oder Ratsstellen. Bis heute wird zunehmend versucht, mit solchen Stellen die immer größeren personellen Lücken in der Lehre notdürftig zu stopfen.

s\u: Gab es Debatten über die Rolle von kritischer Lehre bereits in den 1960er und 1970er Jahren? Studentische Gruppen haben ja in den späten 1960er-Jahren die Art der Lehre an deutschen Hochschulen deutlich kritisiert, weil diese weder arbeitsmarkttaugliche Ausbildungen noch kritisches Denken hervorbrachte.

TB: Das ist schwer zu sagen, weil ich damals ja nicht an der Universitätwar. Ich nehme an, dass diese Debatten vor allem als Auseinandersetzung mit den Reformen im Schulsystem betrachtet wurden. Ich denke da an die von Paolo Freire inspirierten Ansätze – wie etwa die Schülerschule Scuola di Barbiana –, die Teil der antiautoritäten Bewegung in den 1960er-Jahren waren. In Bezug auf Universitäten wurde hinsichtlich antiautoritär orientierter Lehre sicherlich auch viel probiert. Die Arbeitsbedingungen wurden aber vor allem als gewerkschaftliches Betätigungsfeld angesehen. Bei kritischer Lehre handelt es sich aber – nach meinem Verständnis – um eine Kopplung von formal-strukturellen mit inhaltlichen und agency-orientierten Fragestellungen: Von welchen Bedingungen wird kritisches Lehren und Lernen bestimmt und wie lassen sich Verhältnisse und Verhaltensweisen subversiv ändern, unterlaufen und eventuell auch fester verankern? Diese Fragen treffen den Kern des Konflikts, nämlich die Synthese von Form und Inhalt, von Ökonomie und Alltag. Es geht eben nicht nur darum, spannende, nicht hegemoniale und ausgegrenzte Themen zu wählen, sondern diese auch in einer emanzipatorischen, egalitären Lehr- und Lernsituation aufzufalten und auszuhalten.

s\u: Was ist eigentlich der Ort für kritische Lehre? Warum sollten Universitäten überhaupt dazu zählen?

TB: Universitäten sind genauso gut oder wenig gut geeignet für kritische Lehre wie andere Orte. Wenn man als Lehrende_r dort arbeitet, stellt sich die Frage natürlich besonders dringend. Grundsätzlich sollte natürlich jeder Arbeitsplatz Ort einer kritischen, kämpferischen Auseinandersetzung mit Arbeit sein. Immer frei nach dem alten operaistischen Motto ‚Kampf gegen die Arbeit!‘. Das sollte auch für Jobs an Universitäten, Fachhochschulen, Volkshochschulen, Musikschulen, bei kirchlichen und freien Bildungsträgern et cetera gelten. Gerade der Bildungssektor wurde ja – etwa in den Thesen zum kognitiven Kapitalismus – zum zentralen, tertiären Dienstleistungsbereich mit Brücken zum quartären, informellen Kommunikationssektor erklärt und Schulen, Universitäten als neue‚weiße Fabriken‘ lokalisiert. Dies lässt sich aber – wie gesagt – immer einfacher von außen formulieren und analysieren, als die eigene Arbeit zum Zentrum einer täglichen Feldforschung, einer ‚militanten Untersuchung‘, zu machen oder sie gar für Widerständigkeit zu nutzen. Man hat sich ja auch in kritischen, autonomen oder linken Zusammenhängen sehr lang kaum damit beschäftigt, wie wir eigentlich arbeiten (wollen/sollen/müssen). Und selbst wenn es um die Rolle der Arbeit ging, diskutierte man sie – zumindest bis in die 1980er-Jahre hinein – meistens mit Fokus auf Fabriken und später auf Kollektivbetriebe. Der Bildungsbereich wurde lang ausgeklammert. Andere Formen, wie etwa die immer zahlreicheren unternehmerischen ‚Ego-Firmen‘, sind immer noch kaum bearbeitet. Fragt mal unter Kolleg_innen nach, wer denn eigentlich bei ver.di, der Bildungsgewerkschaft oder gar der Freien ArbeiterInnen Union organisiert ist! Das wäre ja irgendwie die minimalste Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit.

Warum dieser blinde Fleck so existiert und man sich lieber mit Arbeit jenseits der Universitäten beschäftigt, ist sicherlich auch eine längere Debatte wert. Ich halte nicht sehr viel von der Trennung zwischen Sozialkritik und Künstlerkritik, wie sie Luc Boltanski und Ève Chiapello in Der neue Geist des Kapitalismus (1999) vornehmen. Sie problematisieren darin die Arbeitswelt getrennt von der sogenannten Reproduktionssphäre, vom Alltagsleben und von der Lebensführung. Faktisch aber lässt sich da gar nichts trennen. Arbeit bleibt ebenso Teil des Alltags wie andere politische Auseinandersetzungen, die ebenfalls nur auf alltäglicher Ebene geführt werden können.

Allerdings ist wichtig festzuhalten, dass sich die Universitäten seit den 1960er-Jahren radikal verändert haben und zumindest zeitweilig wichtige Schauplätzen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Kämpfe – nicht nur von Studierenden – waren und hoffentlich auch wieder werden. Sie sind längst mehr als nur Orte der Reproduktion von Bildungsbürgertum und Verwaltungseliten. Dies kann man nicht einfach leugnen. In den 1990er-Jahren begann allerdings ein flächendeckendes ‚Zurückrollen‘. Universitäten wurden Orte der Ausbildung und employability, sie wurden also als Arbeitsmarkt neu erfunden. Seither sind sie ein zentrales Instrument in der Bildungsorganisation der sogenannten ‚Wissensgesellschaft‘ und werden es sicher noch eine Weile bleiben.

s\u: Welche Formen kritischer Lehre gilt es zu schaffen? Geht es dabei auch um andere pädagogische Zugänge?

TB: In der Entwicklung kritischer Lehre kommt es meines Erachtens vor allem darauf an, Situationen zu schaffen, die offen, kommunikativ und konfrontativ sind. Es geht darum, eigene Standpunkte einzufordern, zu unterstützen und zu hinterfragen. Kurz: Es geht um Situationen, die grundsätzlich nicht didaktisiert sind, also nicht primär um die Ausweitung von Schuldidaktik auf Universitäten, auch weniger um ‚besseren‘ Unterricht qua vieler cleverer Didaktiktools und Kommunikationstechnologien. Eigentlich macht den Kern der kritischen Lehre aus, grundsätzlich mit der Idee des Unterrichts – sowie seiner anschließenden Evaluierung – zu brechen. Ich denke, wichtige Anregungen für die Hochschullehre sind eher aus Bereichen wie der Kritischen Psychologie, der politischen Bildungsarbeit oder der kritischen Erwachsenenbildung zu holen als aus der klassischen Schuldidaktik. Diese haben idealerweise ein anderes Verständnis von Subjekten und betonen die Rolle von Interaktion, Kommunikation und Anerkennung vieler unterschiedlicher Expertisen und Lebenserfahrungen. Denn auch bei jungen Studierenden sollte erst einmal davon ausgegangen werden, dass sie Expert_innen ihres eigenen Lebens sind und daher auch viele – mehr oder weniger interessante – Perspektiven einbringen könnten, wenn diese nur zugelassen und ernst genommen würden. Dies könnte gerade bei zunehmend heterogen zusammengesetzten Studierendenschaften noch spannender sein. Solche Situationen kollaborativer Erkenntnis und Diskussion sollten Momente sein, in denen man einmal kurz nicht an Bologna denkt.

So viel zur Form kritischer Lehre. Was den Inhalt angeht: Es gibt ja einerseits klassische ‚kritische‘ Inhalte, andererseits denke ich, dass man potentiell jeden Inhalt kritisch lehren kann. So kann man ja beispielsweise Heidegger so oder so besprechen; vor allem sollte es darum gehen, jede_n Autor_in zu kontextualisieren, das heißt ihre oder seine sozialen Positionen (positionality) zu bestimmen und diese mit kritischem Blick zu prüfen. Im Zweifelsfall sollten sie eher als Quelle und Ausdruck einer spezifisch situierten Haltung erschlossen werden denn als unanfechtbare Wissenslieferant_innen. Das ist alles nichts Neues, trotzdem gibt es eine Fetischisierung von Texten und großen Namen als Indikatoren für eine kritische Lehre. Es kann nicht nur darum gehen, dass wir David Harvey unterrichten.

Natürlich geht es nicht ohne Marx, Haraway, Foucault und Adichie. Aber das sagt noch überhaupt nichts darüber aus, wie deren intellektuelle Impulse aufgegriffen werden. Generell wird an Universitäten eine absolute Überschätzung des Textes gepflegt. Das läuft quasi analog zur ‚publish or perish‘-Unterschätzung der Universität als sozialem Ort. Wer also nicht beziehungsweise wenig und an den falschen Orten publiziert, hat schon verloren. Es herrscht daher weitgehend die Vorstellung vor, dass wir als Lehrende schriftbasierte Inhalte einbringen und im Seminar so tun als hätten wir die Texte verstanden und – im besseren Fall – Interpretationen anbieten oder – im schlechteren – Textexegese betreiben. Das hat vielleicht auch etwas mit den Ursprüngen unserer Universitäten als christlich-scholastische Anstalten zu tun. Dies ist alles zutiefst unbefriedigend. Stattdessen sollten die Studierenden die Inhalte selbst entdecken und bestimmen können. Das heißt zunächst, dass sie selbst recherchieren lernen und in die Lehre intervenieren. Dazu bräuchte es jedoch eine ganz andere Vorbereitung, sowohl der Lehrenden wie der Studierenden, die eher auf Zusammenhänge als auf Textlektüre abzielt. So sollten die Studierenden ermutigt werden, selbst zu denken und vor allem einen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Auch hier stimmt der alte Merksatz: ‚Keine Kritik ohne Standpunkt.‘

s\u: Bedeuten diese Lehransprüche nicht noch mehr Anstrengungen und Arbeit für die Lehrenden, beispielsweise eine intensivere Vorbereitung und Betreuung der Studierenden?

TB: Dem Argument, dass eine gute kritische Lehre vor allem eine intensivere Vorbereitung erfordere, möchte ich widersprechen. Die Seminare sollen ja gar nicht didaktisch genau durchgetaktet werden. Eher im Gegenteil: Kritische Lehre heißt für mich eben nicht, eine ‚bessere Performance‘ zu liefern oder ‚gute Arbeit‘ im gewerkschaftlichen Sinne. Ich verstehe unter kritischer Lehre kein tolles Rezeptbuch oder keinen didaktisch-pädagogischen Werkzeugkasten. Nach dem Motto: Wenn wir nur all diese Punkte berücksichtigen, können wir dies als kritische Lehre labeln und vielleicht gleich noch zertifizieren lassen. Stattdessen bedeutet sie womöglich eher, sich weniger oder anders vorzubereiten und mehr ‚Situationen‘ zuzulassen.

Der Anspruch hat vielmehr zu sein, die Widersprüche kritischen Wissens transparent zu machen und sich etwa als Lehrende_r auch zurückzunehmen, also durchaus auch zuzugeben, wenn man etwas nicht weiß, schlecht vorbereitet oder verkatert ist. Selbstverständlich ist die Lehre so oft weniger kontrollierbar und herausfordernd; sie kann durchaus eine Zumutung sein. Jedoch müssen ja nicht immer alle Sitzungen ‚gelingen‘. Es reicht doch durchaus, wenn es ab und zu klappt, oder?

s\u: Heißt dies, dass es in den Ansätzen kritischer Lehre darum geht, so etwas wie ‚herrschaftsfreie Räume‘ zu schaffen?

TB: Es ist doch klar, dass die Seminarsituation niemals machtneutral oder gar herrschaftsfrei sein kann. Dies gelingt bestenfalls in kurzen Momenten. Auch Wahlmöglichkeiten et cetera sind ja immer nur innerhalb des – von den Dozierenden geschaffenen – Seminarrahmens möglich. Zudem wollen viele Studierende solche unsicheren Situationen und Formate gar nicht. Sie sind dermaßen ‚durchbolognaisiert‘, dass es erstmal darum geht, sie für irritierende und unkonventionelle Momente zu öffnen. Oftmals herrscht ein starkes Desinteresse unter Studierenden, das sich in langweiligen Vorträgen mit öden Präsentationen niederschlägt. Nach dem Motto: ‚Mach aus Deinem Desinteresse eine Powerpoint!‘ Das muss erst einmal aufgebrochen werden, etwa indem nach eigenen Zugängen zu einzelnen Seminarthemen gebohrt wird. Auch dass im Seminarrahmen nichts perfekt und fertig sein muss, sondern dieser durchaus als Versuchsfeld angesehen werden kann, sollte klar werden. Gerade in den Bachelorstudiengängen muss zuerst geübt werden, nicht mehr an der Schule zu sein. Das ist quasi institutionelles und intellektuelles Detoxing! Eine zentrale Aufgabe kritischer oder gar subversiver Lehre ist es also, den Mythos Wissenschaft und Universität zu dekonstruieren.

s\u: Wie sind Deine eigenen Erfahrungen mit dem Anspruch und den Möglichkeiten kritische Lehrformen und -inhalte an den Universitäten zu erproben?

TB: Grundsätzlich eher gut! Ich habe sehr gute Erfahrungen mit offenen, nicht von vornherein festgelegten, Seminarplänen, mit thematischen Recherchegruppen und freien Formaten gemacht. Beispielsweise gibt es bei mir bisher in Bachelorseminaren keine Reader oder Textbücher, in denen relevante Inhalte vorgegeben werden. Ebenso reduziere ich Textarbeit erstmal auf ein Minimum und setze eher auf Diskussionsatmosphäre, Austausch und Standpunkte. Das ist auch deshalb relativ einfach, da ich mich im Bereich der Sozial- und Kulturgeographie bewege, in dem ich vor allem Seminare veranstalte, die qualitätive Methoden fokussieren und in denen Themen wie Stadtgeographie, Flucht und Migration, aber auch Ökonomie und Alltag auf der Reeperbahn oder Geographien des war on drugs behandelt werden. Die Studierenden in Hamburg sind solchen leicht anschlussfähigen Themen gegenüber meistens recht aufgeschlossen. Gute Großstadtjugendliche eben!

s\u: Wie siehst Du die Möglichkeiten Universitäten und den Bildungsbereich zu verändern?

TB: Strukturelle Veränderungen an den Universitäten sind nicht durch Einzelinitiativen möglich, sondern allenfalls durch große und kollektive Interventionen, wie beispielsweise Bildungsstreiks. Ich würde auch nicht behaupten, dass einzelne Initiativen für kritische Lehre Universitäten institutionell verändern könnten. Allerdings können sie durchaus eine hilfreiche Organisations- und Kollaborationsform sein. Wenn man mit kritischem Anspruch Studierende unterrichtet, sucht man den Austausch darüber, wie man dem eigentlich gerecht werden kann. So fungiert die Universität auch als Ort des Zusammenschlusses.

Ansonsten ist natürlich klar, dass man die Universitäten durch kritische Lehre nicht retten kann. Allerdings kann man unter anderem versuchen, den Studierenden zu helfen, diesen Apparat möglichst schadlos zu durchlaufen. Zudem gibt es im täglichen Lehrbetrieb auch durchaus Freiräume. Geographie beispielsweise ist an vielen Universitäten eine total verkrustete Angelegenheit, sowohl institutionell als auch inhaltlich: Man läuft sehr schnell gegen Wände, wenn man Strukturen ändern will. Aber auf Seminar- und Exkursionsebene kann man sehr viel machen.

Jenseits der Universität gab und gibt es zahlreiche Orte, die für kritische Lehre, Inhalte und Bildung viel offener und auch viel wichtiger waren und sind. Meine großen ‚Bildungsmomente‘ fanden beispielsweise auch nicht an der Universität statt, sondern eher im Kontext sozialer Bewegungen wie den Anti-AKW-Gruppen, Häuserkämpfen und feministisch-antipatriarchalen Initiativen. Gerade in den 1980er- und 1990er-Jahren waren diese Bewegungen nicht nur zentrale Instanzen der Politisierung und Organisation, sondern vor allem auch der kritischen Bildung und Subjektivierung. Sie waren allerdings auch explizit gegen akademische Bildung gerichtet und haben nicht gerade zur Theoriebildung oder zu kritischen Reflektionen geführt. Es herrschte eben sehr viel Praxisfetisch.

s\u: Wie haben sich Deiner Einschätzung nach die Möglichkeiten, kritische Lehre an den Universitäten möglich zu machen, in den letzten Jahren verändert?

TB: Die Umstrukturierungen beziehungsweise Neoliberalisierungen der Universitäten haben die Rigidität und Verschulungsdynamiken bezeichnenderweise befördert: Es gibt nicht weniger, sondern immer mehr Vorlesungen und Frontalunterricht. Wenn zugleich zunehmend auf projektbasiertes Lernen oder Gruppenarbeiten umgestellt wird, so folgt dies vor allem den Imperativen von Vergleichbarkeit und Standardisierung. Dabei stehen nicht Inhalte, sondern ‚Kompetenzen‘ im Mittelpunkt. Nach einer mehrjährigen Ebbe erleben wir aktuell eine ganze Armada von ‚Qualitäts- und Qualifizierungsinitiativen‘ in der universitären Lehre. Allerorten bemüht man sich um Akkreditierungen, schreibt Preise für ‚gute Lehre‘ aus und implementiert Lehrfortbildungen, die zum Beispiel ‚Lehren lernen‘ heißen. In diesen professionellen Weiterbildungsangeboten treffen sich vor allem prekär Beschäftigte, also Lehrbeauftragte, vor allem Doktorandinnen aus dem Mittelbau et cetera. Jedoch nehmen kaum Professor_innen teil, schon gar nicht aus den Naturwissenschaften. Zudem sind diese Bildungsangebote meist an der Schuldidaktik orientiert, die nun für Erwachsene bemüht werden soll und der Logik der Benotbarkeit und Standardisierung folgt. Darüber hinaus gelten diese Lehrangebote immer mehr als Möglichkeit, Zertifizierungen zu erwerben, mit denen man sich bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhofft.

s\u: Vielen Dank für die Erläuterungen. Könntest Du vielleicht zum Schluss noch einmal zusammenfassen, was für dich kritische Lehre ausmacht?

TB: Klar! Der Bildungsanspruch muss den Studierenden ermöglichen, sich zu kritischen und selbstbewussten Menschen zu entwickeln. Die beste Lehre ist die, die gar nicht unbedingt als solche wahrgenommen wird, sondern eher eine Situation gemeinsamer Erkenntnis darstellt.

 

Das Gespräch führten Stefan Höhne und Boris Michel.

Beteiligte

Thomas Bürk ist Sozialgeograph und empirischer Kulturwissenschaftler mit Fokus auf Sozialgeographien des Nationalismus, politische Ökologie und verräumlichte Regierungstechniken.

thomas.buerk@uni-hamburg.de