Alles muss man selber machen. Multi-Layer-Organizing für eine soziale Wohnraumversorgung in Berlin

Kotti & Co

Wir sind Kotti & Co, eine Gemeinschaft von Mieter_innen im Sozialen Wohnungsbau am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg (Kotti) und darüber hinaus (Co). Wir haben uns im Jahr 2011 zusammen gefunden, als wir schon wieder eine Mieterhöhung erhalten haben, die immer weniger Geld zum Leben übrig lässt und unser Zusammenleben bedroht. Auf die Frage, wer wir sind, haben wir mal geantwortet:

„Wir sind Kreuzberg! – und nicht erst seit gestern. Wir! Für uns gibt es keinen Begriff, keine Kategorie. Schon ihre Wörter spiegeln die Hilflosigkeit der Sprache wider, mit der man uns nicht mehr zu fassen kriegt: ‚Deutsche‘, ‚Ausländer‘, ‚Gastarbeiter‘, ‚Menschen mit Migrationshintergrund‘, ‚Deutsch-Türken‘…usw. usf. … Wir sind eine Gemeinschaft, die in der Welt von Sarrazin und vielen anderen nicht vorkommt. Wir sind Azubi, Rentnerin, Arzthelferin, Krankenpfleger, Bauingenieurinnen auf Hartz IV, wir sind Versicherungsvertreter, die Soziologie studiert haben, wir sind Metallbauerinnen, die ihre Doktorarbeit in Politik schreiben, Marktverkäuferinnen, Designer die im Kulturbetrieb arbeiten, wir sind Kinder von Leuten, die hier ihr Leben lang hart gearbeitet haben und mit den ‚Anwerbeverträgen‘ kamen. Deutsch, türkisch, ein bisschen iranisch, tscherkessisch, afghanisch oder kurdisch oder …was auch immer das heißen mag. […] Wir kämpfen schon unser Leben lang mit dem Rassismus oder der sozialen Ausgrenzung, mit Hartz IV und Altersarmut in dieser Gesellschaft. Wir sind alt, wir sind jung. Wir glauben an Allah, Gott, oder einfach an eine gerechte Gesellschaft.“[1]

Kontext

Wir wohnen im sogenannten ‚Sozialen Wohnungsbau‘. Der wurde in Berlin zu großen Teilen von privaten Investor_innen mit milliardenschweren Förderungen, staatlich garantierten Gewinnen und einer gesetzlich organisierten Staffelmiete für die Sozialmieter_innen gebaut. Die Sozialmieten liegen im Durchschnitt bereits jetzt über denen des ‚normalen‘ Wohnungsmarktes nach dem Mietspiegel. Das Jobcenter übernimmt die Sozialmieten nicht mehr, weil sie zu hoch seien. Viele Familien geben über die Hälfte ihres Einkommens für die Miete aus. Nach dem Ende der Sozialbindung können die Eigentümer_innen mit den Wohnungen machen, was sie wollen. Und sie kaufen sich noch schneller aus den ohnehin auslaufenden Bindungen frei, indem sie die Förderkredite vorzeitig zurückzahlen. Von den ehemals über 500.000 Sozialwohnungen sind heute nur noch 40.000 Wohnungen in der aktiven Förderung übrig. Der Soziale Wohnungsbau ist zu einer Verdrängungs-Maschine geworden. Begleitet wurde der Ausstieg aus dem Sozialen Wohnungsbau in den 1990er und 2000er Jahren von einer Privatisierung von rund 200.000 landeseigenen Wohnungen. Unser größtes Problem teilen wir also mit vielen Berliner_innen mit kleinem Einkommen.

Aus der Not heraus sind wir zu Expert_innen in Sachen Sozialer Wohnungsbau geworden und haben Lösungsansätze entwickelt, die dringend umgesetzt werden müssen: Einerseits braucht es sofortige Maßnahmen, um die Verdrängung aufzuhalten, wie zum Beispiel eine Mietobergrenze bei 4 Euro pro Quadratmeter kalt oder Kostenübernahme bei geringem Einkommen. Andererseits brauchen wir die einzig nachhaltige Perspektive: die (Re-) Kommunalisierung der Sozialwohnungen, am besten mit demokratischer Kontrolle oder Selbstverwaltung durch die Mieter_innen. Denn solang die Eigentümer_innen mit den Sozialwohnungen ihre Gewinne maximieren oder Privatisierungen möglich sind, steigen unsere Mieten.

Darüber hinaus braucht es eine ‚soziale‘ Wohnraumversorgung für Menschen mit geringem Einkommen in Berlin, die ihrem Namen tatsächlich gerecht wird, aus den Fehlern der Vergangenheit lernt und nachhaltig in der Öffentlichen Hand unter der Kontrolle der Mieter_innen gesichert ist.

Was wir tun

Im Mai 2012 haben wir das Kotti vor unseren Wohnungen besetzt und dort das Gecekondu-Protesthaus[2] errichtet. Seitdem sind wir im Dauerprotest auf der Straße. Das Gecekondu ist jeden Tag geöffnet. Es ist zu einem Ort geworden, an dem sich Nachbar_innen neu begegnen können, Veranstaltungen, Filmabende und Konzerte stattfinden, wo wir eine Sozialberatung und eine Mietrechtsberatung anbieten, wo nachbarschaftliche oder stadtweite Kampagnen entstehen oder Initiativen und Bündnisse mit anderen Mieterinitiativen geschmiedet werden, wie etwa der Mietenvolksentscheid. Mit der Zeit ist das Gecekondu zu einem zentralen Ort für viele stadtpolitische Debatten, Auseinandersetzungen und Organisierungsprozesse geworden.

Wir machen auf verschiedenen Ebenen Druck gegen die unsoziale Politik des Senats: Vom Dauerprotest im Gecekondu ausgehend haben wir über 30 Lärmdemonstrationen sowie nachbarschaftliche und stadtweite Kampagnen organisiert. Wir haben Expertise organisiert – in Form einer Konferenz im Abgeordnetenhaus[3], in verschiedener Broschüren und Publikationen über das Problem und die mögliche Zukunft des Sozialen Wohnungsbaus[4], in zahllosen Veranstaltungen[5], Interviews und Artikeln[6], Kunstprojekten[7] und Filmen[8]. Wir haben uns stadtweit und international mit vielen Gruppen vernetzt, die für ihr Recht auf Stadt kämpfen und mit denen wir uns gegenseitig solidarisch unterstützen.

Als wir angefangen haben, wollte niemand mehr vom Sozialen Wohnungsbau sprechen. Wir haben das Thema zurück auf die Tagesordnung gesetzt. Nach neun Monaten Dauerprotest hat der Senat sich genötigt gesehen, mit dem sogenannten ‚Mietenkonzept‘ die jährlichen Mieterhöhungen um 13ct in den Sozialwohnungen der 16 Berliner Großsiedlungen auszusetzen. Die Regierung hat das als Mietkappung verkauft. De facto ist es jedoch nur ein Aufschub der Erhöhung und das auch nur für einen Teil der Gebäude, da viele gar nicht (mehr) in der Kreditphase sind, in der der Aufschub greifen könnte. Gemeinsam mit anderen Mieterinitiativen haben wir 2014 dann den Mietenvolksentscheid initiiert, nach einem breiten Aushandlungsprozess selbst ein Gesetz für die soziale Wohnraumversorgung in Berlin geschrieben und in Rekordzeit 50.000 Unterschriften gesammelt. Damit haben wir die Regierung so unter Druck gesetzt, dass sie schnell ein Abfang-Gesetz verabschiedet hat. Dieses bleibt in vielen Punkten weit hinter unserem zurück, aber als Zugeständnis gewährt es zum Beispiel Sozialmieter_innen mit geringem Einkommen einen neuen Mietzuschuss, damit sie nicht mehr als 30 Prozent ihres Einkommens für die Kaltmiete zahlen müssen. Einige von uns erhalten nun diesen (extrem bürokratisch zu beantragenden) Zuschuss. Für die Warmmiete bedeutet das dann nur leider oft immer noch 50 Prozent unseres Einkommens, da die absurden Betriebskosten in unseren Gebäuden am Kotti doppelt so hoch sind wie der Berliner Durchschnitt. Daher ist unsere Betriebskostenkampagne wichtig: Wie bei unseren Mietminderungskampagnen versuchen wir die Vereinzelung, die im Mietrecht angelegt ist, zu überwinden und legen kollektiv Widerspruch beziehungsweise Klagen gegen die Betriebskosten ein, die als ‚Zweite Miete‘ ein massiver Verdrängungsfaktor sind. Das gemeinsame Einsehen der Belege und Schreiben der Widersprüche besteht in mühsamer, schrittweiser Arbeit, aber im Prozess bauen wir gleichzeitig Strukturen in der Nachbarschaft auf, knüpfen ein Netz von Ansprechpersonen in jedem Haus, gehen von Tür zu Tür, sammeln Kontakte, machen Hausversammlungen und schaffen so Situationen, in denen die Nachbar_innen sich gegenseitig kennen lernen und über ihre Rechte aufklären, Verantwortung für konkrete Dinge übernehmen und gemeinsam handeln. Diese Kontakte und das gegenseitige Vertrauen brauchen wir nicht nur jetzt als wichtigen Faktor gegen Verdrängung, sondern sie bereiten auch im ‚Kleinen‘ die Rekommunalisierung und die Selbstverwaltung der Mieter_innen vor. Über 150 Haushalte machen schon bei der Kampagne mit.

Die Erfahrungen und Informationen aus der kollektiven Beratungs- und Nachbarschaftsarbeit bilden für uns auch die Grundlage, um Druck auf den Bezirk auszuüben (z. B. in Sachen Kostenübernahme der Jobcenter oder Millieuschutz) und um in Gremien wie der Experten- und Fachkommission des Senats zur Zukunft des Sozialen Wohnungsbaus argumentieren zu können. Nicht zuletzt auf unseren Druck hin hat die Regierung diese Kommissionen einberufen, um Lösungsansätze für den derzeitigen Bestand in Berlin zu finden. Wir saßen in der Fachkommission und obwohl deren Auftrag klingt wie unsere Problembeschreibung von vor fünf Jahren, sind die jüngst vom Senat vorgelegten Maßnahmen Flickschusterei und lösen das Problem nicht. Wir machen also weiterhin lautstark auf die eigentlichen Probleme aufmerksam[9] und fordern weiter die Rekommunalisierung, die wir hoffen in den nächsten Jahren endlich umzusetzen zu können.

Was wir unter Organisierung verstehen

Für diesen Artikel wurden wir gebeten zu beschreiben, was wir unter Organisierung verstehen. Dem Verständnis, das Claudia Kratzsch und Robert Maruschke als Ausgangspunkt für ihren Text nehmen, würden wir nicht unbedingt widersprechen.

„Das zentrale Organizing-Versprechen lautet: Es bringt Menschen zusammen und organisiert sie, bietet ihnen Auswege aus der eigenen Ohnmacht, erhöht ihren Einfluss auf die eigene Lebensrealität und politisiert, demokratisiert und verändert – ausgehend von den alltäglichen Lebenszusammenhängen – die Gesellschaft.“ (Rubin/Rubin 2008)

Bloß hat bei Kotti & Co keiner jemand anderem etwas versprochen, noch war die Organisierung selbst von Anfang an ein Ziel. Wir haben uns zunächst als Mieter_innen zusammengefunden, weil wir wollten, dass unsere Miete sinkt, dass wir und unsere Familien, Freund_innen und Nachbar_innen am Kotti wohnen bleiben können und dass die rassistische Ausgrenzung vieler von uns endlich aufhört. Erst aus dieser Situation heraus haben wir angefangen uns näher kennen zu lernen, über die Rahmenbedingungen zu recherchieren, bei sehr viel Tee Neugier füreinander und ein Selbstverständnis als Gruppe zu entwickeln, uns besser missverstehen zu lernen, inhaltlich zu vertrauen und zu respektieren. Das kann man Organisierung nennen, Beziehungsarbeit, Betroffenengemeinschaft, Selbstermächtigung, oder eine Erweiterung der Familie…

Aus unseren bewegten Geschichten bringen wir dabei ganz verschiedene politische Erfahrungen und Selbstverständnisse mit – aus Moscheevereinen oder aus linken Gruppen und Kampagnenarbeit, aus Selbsthilfekreisen oder aus politischen Parteien, aus kleinen oder großen Familien, aus gewerkschaftlichen Arbeitskämpfen, antirassistischer Arbeit, Kanak Attak, aus Transformative-Organizing-Projekten in den USA, der PAH in Spanien oder Stadtteilarbeit in Argentinien, oder aus dem jahrzehntelangem Weben von Nachbarschafts-Netzen durch Alltags-Unterstützung oder Gespräche in Kaffeehäusern, Fahrstühlen und auf Demos. Das Gemeinsame ist nicht einfach aus einer (ohnehin ungleichen) Betroffenheit entstanden, sondern daraus, dass wir uns gegenseitig zugehört, uns gestritten und überrascht haben. Um ein gemeinsames politisches Begehren entstehen und wirksam werden zu lassen, gilt es erst einmal näher zu verstehen, was uns jeweils bewegt – und dann herauszufinden, wie wir uns gemeinsam bewegen können. Dabei haben wir zu vielen Fragen um Mieten, Stadt- und Sozialpolitik und Rassismus gemeinsame Stimmen, Forderungen und Herangehensweisen entwickelt. Zu anderen Fragen sprechen wir mit ganz verschiedenen Stimmen und das ist sehr gut so.

Auch in der gemeinsamen Arbeit ist es sehr wichtig, Raum für ganz verschiedene Begehren, Erfahrungen und Fähigkeiten zu schaffen. Für Manche steht dabei vielleicht die Arbeit in der Nachbarschaft oder das Gecekondu als sozialer Raum im Vordergrund, für andere vielleicht die Diskursarbeit – und in Manchem wechselt man sich ab. Denn alles will ja ‚organisiert‘ werden, vom Kaffee-Nachschub über den Ablauf von Treffen oder Demos bis hin zu Diskursverschiebungen und selbstgeschriebenen Gesetzen. Das geht nur zusammen – ohne dass alle alles gleich gut können müssen. Und mit unglaublich viel Lernen voneinander und vom Prozess. Wir glauben dabei nicht an eine Ideologie oder ein Rezept der Organisierung, das uns den Weg zeigt. Aber wir sind bisher ganz gut darin, unseren Weg gemeinsam zu erfragen. Dabei ist unser Wissen umeinander und um unsere vielfältigen Erfahrungen mit strukturellen Machtverhältnissen in dieser Gesellschaft zentral.

Zurzeit sind wir etwa 15 Leute, die in der Kerngruppe und/oder den Arbeitsgemeinschaften aktiv sind (Gecekondu, Büro, Nachbarschaft, Mietrechtsberatung, Sozialberatung, Rekommunalisierung). Dazu kommen Familien, Freunde und ein großes Netzwerk an Mitstreiter_innen und anderen Gruppen, die zum offenen ‚Co‘ gezählt werden können. Die zentralen Entscheidungen trifft die Kerngruppe. Gleichzeitig sind unsere Aufgabenfelder so umfangreich und weit verzweigt, dass wir ohne Arbeitsteilung, Teilzuständigkeiten und unabhängige Teilentscheidungen all das gar nicht leisten könnten. Es ist eine ständige Herausforderung, all die Arbeit und offenen Fragen der verschiedenen Baustellen immer wieder in die Kerngruppe zurück zu kommunizieren, sie dort zu würdigen, zu diskutieren und kritisch zu überprüfen. Aber diese Feedbackprozesse sind zentral. Der Rest wird getragen von ziemlich viel Vertrauen in die gemeinsam erarbeiteten Grundlagen und in die Kompetenzen der verschiedenen Leute in ihren Feldern.

Wir machen Kotti & Co aus Überzeugung und von Herzen – und es ist gleichzeitig sehr viel harte Arbeit. Würden wir alle unsere Tätigkeiten zusammenzählen, kämen wir bestimmt auf 200-300 Stunden in einer Woche. Seit fünf Jahren machen wir das alles ehrenamtlich. Zusätzlich zum Geldverdienen, Jobcenterstress, Kinder großziehen, zur Schule gehen, Hausarbeit machen… Wir gehen daher leider oft über unsere finanziellen, körperlichen und emotionalen Grenzen. Um uns ein wenig zu entlasten und um die Kontinuität unserer Arbeit zu gewährleisten, diskutieren wir seit einiger Zeit Modelle, wie wir Teile der Arbeit auch bezahlen können. Dass das nochmal ganz andere Herausforderungen für die Gruppe mit sich bringt, ist uns sehr bewusst. Aber vielleicht stärkt es uns ja auch. Ein Ziel ist es auf jeden Fall, in Zukunft noch mehr Strukturen aufzubauen, die die Rekommunalisierung schon im ‚Kleinen‘ vorwegnehmen und die Arbeit auf mehr Schultern verteilen. Oh, und die uns allen frühere Feierabende bescheren. Die sind nämlich am Kotti besonders schön! Kommt doch mal nicht nur zur Demo, sondern auch gern auf einen Tee vorbei!

Endnoten

Autor_innen

kottico@gmx.net