Planungsstudiengänge gehörten in den 1960er und 1970er Jahren zu den Vorreitern bei der Umsetzung eines Lehrangebots für ‚forschendes Lernen‘, das inzwischen an vielen Studiengängen eingerichtet wurde oder wird.[1] An der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund ist das Projektstudium Ausdruck eines solchen Lehrangebots und neben den städtebaulichen Entwürfen zentraler Baustein der hiesigen Studiengänge. Die Projekte finden im ersten und dritten Studienjahr (Anfänger_innen- bzw. Fortgeschrittenen-Projekt) über zwei Semester statt und haben für die Studierenden einen Umfang von acht Stunden Präsenzzeit (zwei Nachmittage pro Woche) und acht Stunden Vor- und Nachbereitungszeit. Es gibt eine_n regelmäßig anwesende_n Betreuer_in und eine_n regelmäßig dazu kommende_n Berater_in aus zwei unterschiedlichen Fachgebieten. Die Studierenden legen ein Exposé, einen Zwischen- und einen Endbericht vor, präsentieren ihren Zwischenstand zu Beginn des zweiten Semesters vor der Fakultätsöffentlichkeit (‚Projektmarkt‘) und verteidigen ihre Ergebnisse in einer Disputation. Anders als in den eher standardisierten Lehrformaten wie den einsemestrigen Vorlesungen und Seminaren ist hiermit ein intensiver Arbeitskontext gegeben, in dem vor allem die Selbständigkeit der Studierenden gefordert wird und die Lernerfolge nicht nur in der Wissensvermittlung liegen, sondern weit darüber hinausgehen.
Allerdings gibt es zurzeit an vielen Fakultäten Diskussionsbedarf über die Ausgestaltung des Projektstudiums.[2] Wesentlicher Diskussionspunkt in Dortmund ist die neu eingeführte individuelle Benotung der Projektteilnehmer_innen. Bislang gab es keinerlei Noten für die Projektleistung (und es wird sie zumindest im Projekt im ersten Studienjahr (A-Projekt) auch zukünftig nicht geben); vielmehr konnten die Studierenden ihre Projekte bestehen oder – in seltenen Fällen – auch nicht. Studierende, die im Studienjahr 2016/17 ihr Fortgeschrittenenprojekt beginnen, werden nun auch an der Fakultät Raumplanung erstmalig benotet. Grund dafür ist eine Änderung des Hochschulgesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen, dessen Interpretationsspielraum an der TU Dortmund dazu genutzt wurde, eine Benotung für alle Prüfungsleistungen nach dem ersten Studienjahr einzuführen. An der Fakultät Raumplanung wird diese Entscheidung sehr ambivalent beurteilt. In der Diskussion darum wurde gleich ein ganzes Bündel an Grundsatzfragen über die Ausgestaltung und die Sinnhaftigkeit des Projektstudiums aufgeworfen.
Mit einem Blick auf das ursprüngliche „Dortmunder Modell“ (Brunn/Pannitschka 1978) möchten wir in diesem Beitrag an das utopische Potenzial erinnern, das einmal vom Projektstudium erhofft wurde und möglicherweise auch heute noch in ihm liegt. Wir diskutieren die These, dass das Projektstudium in Zeiten, in denen Hochschulen zunehmend ökonomisierten Effizienz- und Exzellenzkriterien unterworfen sind, ein letzter, konsequent ‚weltfremder‘ Raum des freien Nachdenkens, Widerstehens und gelegentlich auch Scheiterns sein kann. Die hier erworbenen Kompetenzen lassen sich weitgehend nicht mit standardisierten Noten bewerten, weil sie im Idealfall über die allgemeinen Standards der Wissensvermittlung und des wissenschaftlichen Arbeitens hinausgehen. Darüber hinaus bieten vor allem die Projekte in fortgeschrittenen Studienphasen Möglichkeiten, Planungskulturen und Problemstellungen im Ausland kennenzulernen, und sie tragen mit dazu bei, eigene Sichtweisen zu erweitern beziehungsweise zu überdenken. Für den beruflichen Alltag von Planer_innen sind diese Erfahrungen unverzichtbar, wie die Befragungen von Absolvent_innen der Fakultät Raumplanung in den letzten Jahren regelmäßig gezeigt haben. Projekte bieten die Chance des Einübens wissenschaftlichen Denkens jenseits standardisierter Schemata und Notenzwänge. So besteht hier zumindest theoretisch die Möglichkeit, disziplinäre Grenzen und Methoden ebenso wie institutionelle Strukturen der Wissensvermittlung zu durchbrechen, ganz grundsätzlich infrage zu stellen oder vielleicht – ein abenteuerlicher Gedanke – sogar zu reformieren. Gerade angesichts der „bösartigen Probleme“ (Rittel/Webber 1992), mit denen Planung es zu tun hat, halten wir das Projektstudium für zentral, um solche Reflexions- und Kommunikationsfähigkeiten einzuüben.
Die ersten Planungsstudiengänge wurden in der Bundesrepublik in den 1960er und 1970er Jahren eingerichtet (vgl. für einen Überblick IRPUD 2000: 11). Im Rahmen der Bildungsreform wurde dem forschenden und praxisorientierten Lernen zu dieser Zeit „aus gesellschaftspolitischen und didaktischen Motiven heraus“ eine wichtige Rolle zugesprochen (Kremer/Stäudel 1987: 1). Pädagog_innen verwiesen auf die ‚Erziehungsphilosophie‘ von John Dewey, der kritisiert hatte, dass Schüler_innen im herkömmlichen Unterricht „eine Wissenschaft, anstatt die wissenschaftliche Behandlungsweise der vertrauten Inhalte ihrer Alltagserfahrung […] lernen“ (Dewey zit. n. Heidorn 1987: 57; weitere pädagogische Traditionslinien finden sich bei Tippelt 1979: 42 ff.). Dem wurde das Projekt – eher als „Konzeption von organisiertem Lernen“ denn als Unterrichtsmethode im formalen Sinn (Heidorn 1987: 59) – gegenüber gestellt. Gleichzeitig forderte die Student_innenbewegung der späten 1960er Jahre aus einem gesellschaftspolitischen bzw. -kritischen Impetus heraus mehr Mitbestimmungsrechte sowohl bei strukturellen Fragen an den Universitäten als auch bezüglich der Inhalte des Studiums. Ihre Vertreter_innen kritisierten dabei die Trennung von Theorie und Praxis, die durch Projekte überwunden werden sollte (ebd., Ernst et al. 1978: 292). Ziele waren die Überprüfung und Anwendung wissenschaftlicher Theorien in der Praxis, das Erlernen interdisziplinärer Zusammenarbeit, die Entwicklung sozialer Sensibilität und politischer Verhaltensweisen sowie die Entdeckung neuer Begriffe und Zusammenhänge und die „emanzipative Innovation der beteiligten Subjekte“ durch Aktionsforschung (Tippelt 1979, 15).
Diese Vorstellungen schlugen sich auch in der Gestaltung des Projektstudiums an der Dortmunder Fakultät Raumplanung nieder: Das Projekt galt als Studienform, die „Wissenschaftlichkeit, praxisnähere Qualifikation, politische Kritik und Emanzipation quasi natürlich verbindet“ (Ernst et al. 1978: 290). Vor dem Hintergrund der Krise des Ruhrgebiets hatten viele an der Gründung der Fakultät Beteiligte zu Beginn der 1970er Jahre die Vorstellung, „die Abteilung Raumplanung als institutionell garantierten Freiraum für politisches Handeln“ zu gestalten (zitiert bei Ernst et al. 1978: 294). Das Studium sollte sich an seinem Anwendungsbezug messen lassen. Forschendes Lernen sei „zugleich systemnotwendig und systemüberwindend“, formulierten Studierende (Görg/Wolf 1973, zit. n. Ernst et al. 1978: 295). Doch nicht einmal zehn Jahre nach der Einführung des Dortmunder Modells wurden die hohen Erwartungen bereits kritisch hinterfragt:
„Man muss […] die Sache differenzierter sehen, indem man das Projektstudium in eben dem Widerspruch befindlich begreift, indem [sic] sich Hochschule und Wissenschaft bewegen: sie alle können sich – wohl institutionalisiert – nur entfalten, wenn ihre Wurzeln tief genug im kapitalistisch organisierten Produktions- und Reproduktionsprozess der Gesellschaft verankert sind, d. h. sie müssen sich in diesen Prozessen verwerten lassen. Gleichwohl enthalten sie aber – wie jede systematische, theoretische Betätigung – die Perspektive der Kritik der herrschenden Verhältnisse durch ihre Aufklärung und damit den Widerspruch zum Kapitalismus. Es bedarf allerdings eines bewussten Aktes, diese Kritik als Kritik der herrschenden Verhältnisse zu entfalten; von selbst setzt sich die kapitalistische Verwertung von Wissenschaftsresiduen durch oder die Unterdrückung der Wissenschaften […].“ (Ernst et al. 1978: 290)
Es hatte sich herausgestellt, dass die Kritik der Verhältnisse mit praktischen Planungsproblemen keineswegs einfach in Einklang gebracht werden konnte. So produzierten die Projekte in ihren Abschlussberichten entweder theoretische Erkenntnisse unter Vernachlässigung konkreter Lösungen für die Praxis, oder sie erstellten praxisrelevante Lösungsvorschläge, ohne gleichzeitig darüber hinaus weisende wissenschaftliche Erkenntnisse abzuleiten und Wissenschaftskritik zu betreiben (Ernst et al. 1978: 297 f.). Diese Schwierigkeit lässt sich bis heute beobachten, und so hängt die thematische Studienprojektgestaltung – unabhängig vom jeweils geltenden Modulhandbuch – immer auch maßgeblich von den einzelnen Lehrenden ab und davon, wie sie das Projektstudium interpretieren und erwartete Lernerfolge definieren. Die thematische Bandbreite ist folglich groß und reichte in Dortmund im vergangenen Studienjahr 2015/16 von relativ konkreten Planungen für die Neunutzung von Brachflächen über Planungs- und Steuerungsinstrumente zum Umgang mit dem Klimawandel bis hin zu Fragen der Gerechtigkeit in der Stadtpolitik unter Sparzwang. Viele Projekte enden mit sogenannten ‚Handlungsempfehlungen‘, andere mit eher theoretischen Reflexionen oder Evaluierungen gängiger Prozesse.
Betrachtet man die oben genannten ursprünglichen Ziele des Projektstudiums in Raum-, Stadt-, Regional- und anderen Planungsstudiengängen, so fällt auf, dass sich die Rahmenbedingungen dafür nicht nur an den Hochschulen verändert haben, sondern dass auch die Raumplanung als Profession – wenn man sie so bezeichnen will (Altrock 1997, Nuissl 2000) – im Laufe der Jahrzehnte verschiedene theoretische, methodische und legitimatorische Wendungen durchlaufen hat. Heute haben die in den aktuellen Modulhandbüchern für die Projekte erwarteten Schlüsselkompetenzen nur noch wenig bis gar nichts mit „Systemüberwindung“ (ebd.) zu tun; eine „Kritik an bestehenden Verhältnissen“ und eine „Infragestellung der Berufspraxis“ (Ernst et al. 1978: 292) sind weder vorgesehen, noch werden sie offensichtlich von den Studierenden in stärkerem Maße als angeboten gewünscht. Dies steht im Einklang mit Beobachtungen, dass der Reformanspruch in der räumlichen Planung ein Stück weit verloren gegangen ist (Göschel 2016). Prekäre Beschäftigungsverhältnisse auf der einen Seite und der Wunsch nach größtmöglicher Arbeitsmarktkompatibilität auf der anderen mögen dabei eine Rolle spielen. Hinzu kommt, dass viele Planer_innen den Anspruch, Gesellschaft durch Raumplanung grundsätzlich zu verändern, heute aus durchaus guten Gründen weder für realistisch noch für wünschenswert halten. So erscheint es angemessener, Prozesse positiv zu beeinflussen und auf die ohnehin stattfindenden Veränderungen in der Gesellschaft (im positiven wie negativen Sinne) besser reagieren zu wollen.
Was die Durchführung von Studienprojekten angeht, gibt es bis heute weder einen einheitlichen Leitfaden noch eine einheitliche Zielsetzung. Dies macht eine Vergleichbarkeit der einzelnen Projektthemen und Bearbeitungsschwerpunkte unmöglich.[3] Grundsätzlich stellt sich daher die Frage, ob es überhaupt notwendig ist, an derartig hoch gesteckten Zielen festzuhalten oder ob mittlerweile nicht andere, eher berufsorientierte Kompetenzen im Vordergrund stehen sollten, die durch das Projektstudium befördert werden. Hierbei ist jedoch nicht abschließend geklärt, welche Kompetenzen denn überhaupt zwingend notwendig sind, um als Raumplaner_in auch im gesellschaftspolitischen Sinne erfolgreich zu arbeiten.
In einer Evaluation der Fakultät Raumplanung im Jahr 2000 wurde die Projektarbeit als „unersetzliches Training in interdisziplinärer Zusammenarbeit, Teamfähigkeit und ganzheitlicher raumplanerischer Denk- und Arbeitsweise bei einem hohen Grad an Selbständigkeit und starken Effekten für eine erfolgreiche Sozialisation im Studienbetrieb und im Fakultätsleben“ bezeichnet (IRPUD 2000: 18). Studierende haben hier die Möglichkeit, raumplanerisch relevante Themen nicht nur wissenschaftlich zu reflektieren, sondern auch mit Praxisbezug kooperativ in Gruppen zu bearbeiten und sich dabei weitestgehend selbst zu organisieren. Sie haben auch die Gelegenheit, eigene Themen vorzuschlagen, sich dafür eine formale Betreuung zu suchen und ein ‚selbstbestimmtes‘ Projekt durchzuführen (was jedoch nur selten genutzt wird). In der bereits genannten Evaluation hoben auch die Studierenden die „herausragende Bedeutung der Projekte für den Studiengang Raumplanung“ hervor (IRPUD 2000: 95). Ihr Plädoyer lautete: „Starkes Projektstudium – weniger Vorlesungen.“ (IRPUD 2000: 101)
Viele Hochschullehrende sehen aber gerade in den Vorlesungen die durchaus sinnvolle Möglichkeit, ihren Stoff adäquat zu vermitteln. Hinzu kommt, dass die Studierendenzahlen in den letzten Jahren auch in der Raumplanung enorm zugenommen haben und Lehrveranstaltungen effizienter gestaltet werden müssen. Viele Kritiker_innen des Projektstudiums liebäugeln daher damit, stärker einen Weg zurück zu standardisierten Lehrformen und Prüfungsverfahren zu finden, um den Aufwand zu minimieren. Zuvor hatte schon die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge dazu geführt, dass Entfaltungsmöglichkeiten aufgrund strikterer Vorgaben als im Diplomstudiengang eingeschränkt wurden. Zu Beginn der Umstellung war dabei aber noch großer Wert auf den zentralen Stellenwert des Projektstudiums im Anfänger- und Fortgeschrittenenbereich gelegt worden. Dies war einer der zentralen Gründe, warum in Dortmund ein achtsemestriger Bachelor-Studiengang eingeführt wurde. Auch die aktuellen Diskussionen führten bislang nicht grundsätzlich zu einer Abschaffung des Projektstudiums. Es lässt sich aber die Tendenz ablesen, dass der Stellenwert insgesamt sinkt und Kürzungen beispielsweise am Deputat ohne inhaltliche Diskussion hingenommen werden.
Die hohe Bedeutung des Projektstudiums bleibt hingegen bis heute in vielerlei Hinsicht bei den aktuellen und ehemaligen Studierenden ungebrochen, wie die aktuelle AbsolventInnen-Befragung von 2015 zeigt, in der die Befragten die Bedeutung der Projekterfahrungen (auch im Ausland) und der dort erworbenen Kompetenzen – Diskussionskultur, Moderation, Strukturierung, Konfliktbewältigung und Koordinierung – für die spätere Berufspraxis hervorheben. In den nachgelagerten allgemeinen Mitteilungen wird die Freiheit, Eigeninitiative zu ergreifen, ebenfalls wertgeschätzt (vgl. Leschinski-Stechow/Seitz 2015: 220; 225).
Das aktuelle Modulhandbuch für das Bachelorstudium Raumplanung an der TU Dortmund greift diese Maßgaben unter dem Schlagwort „forschendes Lernen“ (ebd.) auf. Neben inhaltlichem Erkenntnisgewinn geht es demnach in den Studienprojekten vor allem um Schlüsselqualifikationen wie Selbstorganisation, Teamfähigkeit, Ergebnisorientierung, Methoden wissenschaftlichen Arbeitens, Konsensfindung und Konfliktbearbeitung. Mit gesellschaftspolitischen Zielen wie „Systemüberwindung“, „Kritik an bestehenden Verhältnissen“ und „Infragestellung der Berufspraxis“ (ebd.) hat das offensichtlich nicht mehr viel zu tun, sodass die Frage, welche Rolle solche übergreifenden Ziele spielen, stark von der Herangehensweise der Lehrenden abhängt. Deren Rolle ist dabei ohnehin ambivalent: einerseits sollen sie eine erfolgreiche Projektbearbeitung – mit Blick auf die genannten ‚Schlüsselkompetenzen‘ – anleiten, andererseits sollen sie die Selbständigkeit und Reflexionsfähigkeit der Projektgruppe beziehungsweise der einzelnen Teilnehmer_innen befördern. Es handelt sich dabei regelmäßig um eine Gratwanderung; verallgemeinerbare Faustregeln gibt es kaum. Lehrende müssen situations- und gruppenabhängig agieren und ihr Handeln jedes Mal neu austarieren. Sie gehen daher auf unterschiedliche Weise mit Projekten um, was ihr eigenes Einwirken auf scheinbar ‚sinnlose‘ Diskussionen, unzureichende Literaturrecherche oder -lektüre oder auch ungelöste Konflikte innerhalb von Projektgruppen angeht. Schwierig wird es für sie zu beurteilen, wie wertvoll der eine oder andere Beitrag für den Erfolg eines Projektes ist: Nicht immer sind diejenigen, die sich am häufigsten zu Wort melden und am fleißigsten engagieren, auch diejenigen, die den Projektfortschritt am positivsten beeinflussen. Ohnehin sind die Ausgangsbedingungen für den Kompetenzerwerb in Projekten unter den teilnehmenden Studierenden höchst unterschiedlich: Diejenigen, die bereits während ihrer Schulzeit mit diesem Lehrformat konfrontiert waren oder sich zum Beispiel ehrenamtlich engagieren, haben einen erkennbaren Erfahrungsvorsprung, können sich besser durchsetzen und artikulieren. In Folge gruppendynamischer Prozesse finden sich einige Studierende besser im Projekt zurecht als andere. Persönliche Charaktereigenschaften der Studierenden erleichtern oder erschweren den individuellen Zugang zu Projekten. Es gibt die klassischen Wortführer_innen und ‚stillen Mäuschen‘, Mitläufer_innen und Strippenzieher_innen im Hintergrund. Die Diskussion auf dem Hochschultag 2016 hat aber auch gezeigt, dass dieses scheinbare Problem in gewisser Weise zum Prozess dazugehört, da auch der Umgang mit Machtverhältnissen (wie hier durch die Einflussnahme der Projektbetreuung oder durch Erfahrungsunterschiede zwischen den Studierenden) erlernt werden muss.
Was sind also die Kompetenzen, die das Projektstudium vermitteln soll? Es scheint beinahe so, als seien die schon fast revolutionären Ideen aus der Anfangszeit eher zu banalen ‚praktischen‘ Kompetenzen für die Zweckverwendung auf dem Arbeitsmarkt verkümmert. Schaut man sich den Begriff der Kompetenz noch einmal genauer an, fällt auf, dass sich enge Bezüge zu den Diskussionen um die PISA-Studie finden lassen. Im Zuge der Weiterentwicklung des Verständnisses von schulischer Bildung wurde eine Definition von Weinert zugrunde gelegt. Kompetenzen sind hierbei „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2001: 27). Vergleicht man diese Aussagen, wird deutlich, dass das Projektstudium genau hier ansetzt und sich vor allem auf die Fähigkeiten zur Lösung von Planungsproblemen konzentriert. Einen besonderen Stellenwert erhält die im Projektstudium fest etablierte Reflexion der eigenen Leistungen und inhaltlichen Ergebnisse. Damit ist notwendigerweise immer auch eine zarte Systemkritik verbunden, die es den Studierenden ermöglicht, sich mit den bestehenden Vorgehensweisen kritisch auseinanderzusetzen und Probleme im System zu erkennen. Dies bildet einen krassen Gegensatz zum stark verschulten System der Bachelor- und Masterstudiengänge, die vor allem darauf ausgelegt sind, Wissen durch Auswendiglernen zu vermitteln. Auch wenn dies vielleicht etwas zugespitzt ist, setzen an diesem Punkt doch die meisten Lehrveranstaltungen ganz selbstverständlich an. Im Projekt sind vielmehr selbständiges und kritisches Denken, Abstraktions- und Kommunikationsfähigkeit gefragt, Eigenschaften, die im sonstigen Studium häufig nicht gefördert werden.
So gibt es eine ganze Reihe an offenen Fragen zur ‚guten‘ Gestaltung von Projekten und zur Frage der zu erwerbenden Kompetenzen. Beim bereits genannten Nationalen Hochschultag in Berlin wurden zum Beispiel die Dauer von Projekten (ein oder zwei Semester), die ideale Zahl der Teilnehmer_innen, die Anforderungen an die Studierenden, Maßstäbe für eine Bewertung beziehungsweise Benotung sowie die Grenzen und Chancen einer Kooperation mit der Praxis diskutiert. Angesichts der unterschiedlichen Traditionen an den jeweiligen Hochschulstandorten haben sich verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten für das Projektstudium ergeben, die in ihrer Vielfalt – darüber herrschte Einigkeit – erhalten bleiben sollen; den einen besten Weg kann und wird es nicht geben. Dennoch ist es wichtig, diese Rahmenbedingungen zu beleuchten, um mögliche Stellschrauben für tendenziell bessere oder schlechtere Konditionen diskutieren zu können (vgl. Schulz/Auerswald 2016).
Das Projekt ohne Benotung und mit einem Fokus auf die genannten Qualifikationen und Entfaltungsmöglichkeiten bot bislang eine Art Insel im System, das bereits durch die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen in vielerlei Hinsicht eine ‚Verschulung‘ des Studiums erfahren hat. Aus Sicht der Dortmunder Kritiker_innen ist eine Benotung in Projekten besonders unsinnig und kontraproduktiv, da dies den kooperativen Gruppenprozess zugunsten eines Wettbewerbs um Noten beeinträchtigen könnte. Aus diesem Grunde setzen viele Schulen mittlerweile im Rahmen ihrer Möglichkeiten immer stärker auf alternative Bewertungssysteme und projektähnliche Lehrmethoden, da vor allem die intrinsische Motivation sowie individuelle Fähigkeiten gefördert werden sollen – abseits von starren Notensystemen (vgl. auch Untersuchungen von Ruth Butler 1988: 1-14; s. auch Spiegel-Ausgabe 35/2016 mit dem Schwerpunkt-Thema „Lasst die Kinder frei – Noten sind nicht alles: Worauf es im Leben ankommt“).
Im Zuge der Diskussionen pro und contra Benotung im Projektstudium prallen nicht nur unterschiedliche Vorstellungen eines guten Studiums, sondern auch Fragen nach den erstrebenswerten Kompetenzen zukünftiger Raumplaner_innen aufeinander. Eine Benotung ist dann konsequent, wenn man davon ausgeht, dass die individuellen Fertigkeiten von Studierenden im Zeugnis nachweisbar sein sollen und es auch in den Projekten vor allem darum geht, diese zu stärken. Wenn es aber um die Reflexionsfähigkeit von Studierenden und darum gehen soll, sich selbst zu motivieren, in Gruppen zu organisieren und zusammenzuarbeiten, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, könnte eine Benotung dazu führen, dass aus den Projekten eine Reihe von Einzelkämpfer_innen hervorgehen, denen nicht mehr klar ist, weshalb es sich lohnen könnte, sich mit Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven und Fähigkeiten auseinanderzusetzen, und denen in der Folge auch die Erfahrung entgeht, dass sich diese zugegebenermaßen nicht zu unterschätzende Anstrengung lohnt.[4]
Als Planer_innen, die sich mit der Gestaltung von (Möglichkeits-)Räumen befassen, finden wir es schade und bezeichnend, dass es an den Hochschulen immer weniger ‚weltfremde‘ Räume gibt, die jenseits von Leistungsdruck ‚nur‘ für ungeschütztes wissenschaftliches und kritisches Denken zur Verfügung stehen und theoretisch auch die Möglichkeit böten, sich selbst und das umgebende System zu hinterfragen – eine vielleicht starke Kompetenz angesichts vieler aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen. Mit unseren Befürchtungen malen wir natürlich den Teufel an die Wand; es gibt viele Planungsfakultäten, die argumentieren, mit benoteten Projekten gute Erfahrungen gemacht zu haben. Hier muss allerdings einschränkend bemerkt werden, dass das Dortmunder Modell mit dem Betreuungsaufwand und den Gruppengrößen einzigartig ist. Es bleibt also abzuwarten, ob die Benotung das etablierte (und positiv bewertete) System ins Wanken bringen kann. Inwiefern in den Fortgeschrittenenprojekten durch die Einführung einer individuellen Benotung und den Wegfall einer interdisziplinären Betreuung beziehungsweise Beratung diese Ziele beeinträchtigt werden, wird sich nach der Beobachtung der Entwicklungen in den nächsten Jahren herausstellen.
Der Kern des Projektstudiums ist unserer Meinung nach auch in Zukunft das ‚forschende Lernen‘ mit seinen entsprechenden Entfaltungsmöglichkeiten (vgl. hierzu auch Wildt 2009: 4; 6). Die Ziele der Anfangszeit nach Ernst et al. (1978) sind weiterhin aktuell und sollten unserer Meinung nach nicht grundsätzlich infrage gestellt werden. Die Förderung der Eigenmotivation und des selbständigen Arbeitens sowie das Hinterfragen gängiger Planungspraktiken sollten auch zukünftig im Vordergrund stehen. In den übrigen Lehrveranstaltungen wird Sozialkompetenz in der Regel nicht – zumindest nicht in annähernd vergleichbarem Maße – berücksichtigt und angeregt. Raum für Experimente und damit zwangsläufig auch für gescheiterte Ansätze gibt es ansonsten ebenfalls kaum. Hier kann im Projekt durch die intensive Reflexion von Vorgehensweisen und Ergebnissen auch eine ‚Kultur des Scheiterns‘ etabliert werden, die maßgeblich zum Lernerfolg beiträgt. Dafür braucht es entsprechende Freiräume und Ressourcen (z. B. die interdisziplinäre Betreuung und Beratung mit entsprechendem Lehrdeputat).
Sehr bedauerlich ist, dass die Diskussion zum Projektstudium nicht anhand der hier aufgegriffenen Inhalte und Zielsetzungen geführt wurde, sondern allein anhand rahmengebender Notwendigkeiten wie der Änderung des Landeshochschulgesetzes und deren spezifischer Interpretation durch die Dortmunder Hochschulleitung. Eine grundsätzliche konzeptionelle Reflexion wäre viel notwendiger, um zu überprüfen, an welchen Stellen Korrekturen des Projektstudiums notwendig sein könnten (z. B. an der Ausbildung der Lehrenden, Definition von Qualitätsstandards etc.).
Mit unserer emphatischen Argumentation begeben wir uns in Gefahr, das Projektstudium zu überhöhen und mit Erwartungen zu überfrachten, die bereits kurz nach der Einführung des Projektstudiums als unrealistisch enttarnt worden sind (s. o.). Sicherlich dürfte das Projekt für viele Studierende und Lehrende auch nur eine Lehrveranstaltung sein wie viele andere, wenn auch eine ungleich aufwändigere. Wir argumentieren trotzdem, dass das selbständige Erarbeiten wissenschaftlicher Fragestellungen und das problemorientierte Durchbrechen disziplinärer Grenzen in gemeinsam organisierten Lernprozessen Freiräume für Utopien und Kontingenz schaffen. Und dass es dafür vielleicht eben einen ‚weltfremden‘ Ansatz braucht, um über den Tellerrand der eigenen Disziplin zu blicken und kreative Lösungsansätze für bestimmte Problemlagen zu entwickeln. Wir freuen uns jedenfalls auf Erwiderungen zu diesem Beitrag und auf eine Fortsetzung der Diskussion.
Sandra Huning ist Raumplanerin und Stadtsoziologin.
sandra.huning@tu-dortmund.de
Frank Schulz ist Raum- und Stadtplaner.
frank.schulz@tu-dortmund.de
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Ernst, Rainer / Müller, Sebastian / Waltz, Viktoria (1978): Projektstudium für Raumplaner Ziele, Probleme, Erfahrungen. In: Ekkehard Brunn / Wolf Pannitschka (Hg.): Raumplanung und Planerausbildung. Zum Beispiel: AG. KOP-Konzept und Dortmunder Modell (1969-1976). Dortmund: Universität Dortmund, Abteilung Raumplanung (Blaue Reihe 9), 289-318.
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Wildt, Johannes (2009): Forschendes Lernen: Lernen im „Format“ der Forschung. Journal Hochschuldidaktik 20/2, 4-7.