PlanBude Hamburg. Kollektives Wissen als Grundlage von Stadtgestaltung

Renée Tribble, Patricia Wedler, Volker Katthagen

Viele stadtplanerische Beteiligungsverfahren hatten in der jüngeren Vergangenheit überwiegend informativen oder konsultierenden Charakter, selten waren Prozesse darauf ausgelegt, weitere Stufen der „ladder of participation“ (Arnstein 1969) zu nehmen. Zunehmend wird aber im hegemonialen Planungsverständnis ein neues Paradigma partizipatorischer Verfahren wirksam; komplexe Aufgaben der Stadtgesellschaft sollen in kooperativen Beteiligungsverfahren die heterogenen, zuweilen auch diametralen Interessenslagen unterschiedlicher Akteure austarieren und zu konstruktiven, von allen Seiten akzeptierten Ergebnissen führen (vgl. Stuttgart 21, Tempelhofer Feld, Ausbau Flughafen Frankfurt). Dass dieses neue Leitbild partizipatorischer Verfahren nicht nur für alle konfliktbehafteten Stadtplanungsvorhaben strapaziert wird, sondern tatsächlich auch durch einen kollektiven Prozess eine Stadt der Vielen ermöglichen kann, soll in diesem Beitrag am Beispiel der PlanBude, einem in der Konstellation der Akteure und der Größenordnung des Bauvorhabens in Hamburg singulären Projekt, dargestellt werden.

Die PlanBude ist ein interdisziplinäres Team aus den Feldern Stadtplanung, Architektur, Kunst, Urbanistik, sozialer Stadtteilarbeit und Kulturwissenschaft und steht für einen aus dem Stadtteil heraus konzipierten Beteiligungsprozess. Im Jahr 2014 wurde die PlanBude aus der autonomen Stadtteilversammlung „St. Pauli selber machen“ heraus gegründet, nachdem der jahrelange Protest für den Erhalt der Esso-Häuser am Spielbudenplatz abrupt mit deren Evakuierung und nachfolgendem Abrissbeschluss beendet worden war. Das Konzept der PlanBude, einer von Nachbar_innen und Expert_innen durchgeführten kollektiven Wunschproduktion[1], zeigt einen konstruktiven Weg aus der konfliktbeladenen Situation zwischen Stadtteil und Investor auf und bildet die Verhandlungsbasis für Gespräche mit der Bezirksleitung. Ergebnis dieser Verhandlungen ist die Beauftragung der PlanBude durch das Bezirksamt Hamburg-Mitte mit der Organisation und Durchführung eines breit zugänglichen, niedrigschwelligen Beteiligungsprozesses mit künstlerischen und planerischen Mitteln als Grundlage für einen städtebaulichen Wettbewerb für den Neubau der Esso-Häuser.

Der Druck wächst

Die Freie und Hansestadt Hamburg ist, wie viele andere, eine wettbewerbsorientierte europäische Metropole neoliberaler Prägung, deren Transformationsprozesse eine Vielzahl an Segregations-, Exklusions- und Umverteilungsdynamiken evozieren. Bereits in den 1980er Jahren wird unter dem Begriff „Unternehmen Hamburg“ (Dohnanyi 1983:12) ein am Ökonomischen ausgerichtetes Leitbild für die städtische Entwicklungspolitik der Hansestadt ausgerufen, das 2002 mit dem Programm „Metropole Hamburg – Wachsende Stadt“ (FHH 2002) bestätigt und bis heute mit nur geringen Modifikationen unter dem Motto „Wachsen mit Weitsicht“ (CDU 2009) verfolgt wird.

Die Stadt Hamburg wendet sich mit der Ökonomisierung von Stadtentwicklung im Zuge der Globalisierung der New Governance zu. Der soziale Wohnungsneubau erreicht Mitte der 1980er Jahre in Deutschland seinen Tiefpunkt (Sautter 2005:15). Bis dahin betrug der Anteil geförderter Wohnungen in Hamburg gut zwei Drittel aller Fertigstellungen, in den 2000er Jahren ist dieser Anteil auf ein Drittel (siehe Mesecke 2009) gesunken. Gleichzeitig entsteht Mitte der 2000er Jahre mit der „Renaissance der Innenstädte” (Guratzsch 2008) beziehungsweise „Großstädte“ (BBSR 2011) eine immer höhere Wohnungsnachfrage in den als urban wahrgenommen gründerzeitlichen Stadtstrukturen der Inneren Stadt[2] Hamburgs. Viele dieser innerstädtischen Viertel wurden Mitte der 1990er Jahre noch als Sanierungsgebiete ausgewiesen. Mit dem Auslaufen der Maßnahmen sind diese besonders von der hohen Wohnungsnachfrage und einem damit einhergehenden wachsenden Gentrifizierungsdruck betroffen. Im Zuge der zunehmenden Segregationsprozesse sowie ausgehend von einem Mangel an günstigen Wohnungen in zentralen Lagen werden Ende der 2000er Jahre Proteste gegen die stadtentwicklungspolitischen Entscheidungen der politischen Elite laut; der Widerstand in der Zivilgesellschaft gegen die starke ökonomische Orientierung der Hamburger Stadtpolitik gipfelt Mitte 2009 in der Herausbildung eines der größten deutschen Recht-auf-Stadt-Netzwerke (vgl. Gebhardt/Holm 2011: 9).

Einer der Brennpunkte dieser Auseinandersetzung ist das Gelände der sogenannten ,Esso-Häuser‘ – ein zentral im Hamburger Stadtteil St. Pauli an der Reeperbahn situiertes Gebäudeensemble im funktional-modernistischen Architekturstil der 1960er Jahre. 2009 wird das Gelände, nachdem es bereits 1997 aus Erbpacht der Stadt Hamburg verkauft und in privates Eigentum überführt wurde, von der Bayerischen Hausbau GmbH & Co KG, einem Unternehmen eines international agierenden Konzerns, erworben. An den Abrissplänen der bayerischen Eigentümerin und Investorin für den Gebäudekomplex mit circa 100 Wohneinheiten, einem Gewerberiegel und der namensgebenden Tankstelle inklusive Tiefgarage entzündet sich ein Konflikt, der zu breitem lokalen Widerstand führt und auch bundesweite Aufmerksamkeit erlangt. Die Verwertungslogik der Eigentümer- und Entwicklerin sieht von Anfang an eine höhere Ausnutzung des Grundstücks vor, die durch den vollständigen Abriss der bestehenden Gebäude und eine neue, dichtere Bebauung realisiert werden soll – und für die neues Baurecht geschaffen werden muss.

Vor dem Hintergrund einer solchen ökonomischen Ausrichtung steht die Frage, wie die Interessen der „drei Sphären der Stadtentwicklung: Kommune, Wirtschaft und Gesellschaft“ (Selle 2013) in diesem asymmetrischen Kräfteverhältnis ausgeglichen werden können. Während Arnstein bereits 1969 acht Stufen der Beteiligung von der Manipulation bis zur Selbstorganisation aufgezeichnet hat, werden diese in Beteiligungsratgebern für Stadtplanung in der Regel in die „drei Intensitätsstufen der Partizipation: Information – Konsultation – Kooperation“ (Arbter 2007) unterteilt. Die letzte Stufe der ‚Selbstorganisation‘ wird in dieser Betrachtung außen vor gelassen. In formellen wie informellen Beteiligungsverfahren kommunaler Planung werden in der Regel nur die Stufen ‚Information‘ und ‚Konsultation‘ praktiziert, beispielsweise in Form von Stellungnahmen in Bebauungsplan- oder Planfeststellungsverfahren. Zum Zeitpunkt der Stellungnahmen liegt jedoch bereits ein konkreter Planungsentwurf als Grundlage vor, der zunehmend auf Initiative eines Investors entsteht. Impulse für die Stadtentwicklung werden aus unternehmerischem Interesse gesetzt, die Kommunen schaffen die rechtlichen Grundlagen. Zu diesem Zeitpunkt ist die Sphäre der Zivilgesellschaft häufig noch nicht vertreten, die im Hintergrund laufenden Prozesse bleiben intransparent – eine Blackbox. Der Prozess der PlanBude zeigt einen Ansatz auf, wie die Interessen der Zivilgesellschaft als Grundlage für die Interessensaushandlung ebenfalls in den Stadtentwicklungsprozess eingebracht werden können, um damit auf Augenhöhe zu agieren.

Stadt selbst gestalten

Trotz des anhaltenden Protests der Hamburger Recht-auf-Stadt-Bewegung wie auch der Unterstützung kultureller und politischer Prominenz wird im Januar 2014 die Abbruchgenehmigung für die Esso-Häuser erteilt, nachdem die Gebäude in der Nacht vom 15.12.2013 wegen Einsturzgefahr geräumt und kurze Zeit später für unbewohnbar erklärt wurden. Die Bewohner_innen und Gewerbetreibenden der Esso-Häuser verlieren über Nacht ihre Wohnungen, mit dem Beschluss ihr Zuhause und zum Teil ihre Existenzgrundlage. In diesem konfliktbeladenen Moment entsteht das Konzept der PlanBude: Nach Jahren der Realisierung von Großbauprojekten und einhergehenden Verdrängungseffekten im Stadtteil St. Pauli wird in einem Bottom-up-Prozess eine städtische Planung eingefordert, die eine an den Bedarfen des Stadtteils orientierte Lösung anstrebt. Auf einer aus der Nachbarschaft einberufenen Stadtteilversammlung wird im Februar 2014 die ‚Ballsaalresolution‘ verabschiedet, die Forderungen für den weiteren Umgang mit dem Esso-Häuser-Gelände aufstellt: „Es gibt einen von unten organisierten, demokratischen Planungsprozess. St. Pauli hat längst gezeigt, dass das lokale Know-How interessante, soziale städtebauliche Lösungen entwickeln kann, die der hervorgehobenen Bedeutung des Geländes am Spielbudenplatz gerecht werden.“ (St. Pauli selbermachen 2014) In der Perspektive Lefebvres wird hier der urbane Raum als Ort der Reproduktion hegemonialer Verhältnisse und ideologischer Kämpfe verstanden und die Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen machtgeleiteten Interessengruppen um die Aneignung des urbanen Raumes als zentrales Moment von Stadtentwicklungsprozessen begriffen (vgl. Lefebvre 1991).

Es ist nicht das erste Auftreten von partizipativen, kollektiven und emanzipatorischen Aneignungsprozessen von Stadtentwicklung in St. Pauli. Wurde die Auseinandersetzung um die Hafenstraßenhäuser noch in militanter Weise mit den Mitteln des politischen Kampfes der 1980er Jahre ausgetragen – Stichwort Hausbesetzer_innen-Szene – so organisiert das Anwohnerprojekt „Park Fiction“ Mitte der 1990er eine kollektive Wunschproduktion, die mit der Realisierung einer auf Grundlage der Ideen und Wünsche der Nachbarschaft gestalteten Grünanlage an der Hafenkante erfolgreich ist. Bei diesem Projekt kollaborieren bereits in der Verbindung von Kunst, Politik, Sozialem und Subkultur verschiedene Disziplinen für eine alternative Stadtentwicklung aus der Nachbarschaft heraus. Wie bei Lefebvre formuliert, wird beim Park-Fiction-Projekt das Recht auf das utopische Moment des Urbanen mit seinen „schöpferischen Überschüssen“ (Gebhardt/Holm 2011: 8) und der Konstitution von Möglichkeitsräumen als eine Praxis jenseits passiver Konsumverhältnisse forciert. Diese Art der Selbstorganisation ist typisch für den Stadtteil St. Pauli und mit ihr verbunden sind Praktiken der Selbstermächtigung und paralleler Planung.

Dieser heute erfolgreich realisierte, nicht weit von den Esso-Häusern gelegene, öffentliche Park bildet zusammen mit dem im Prozess gewonnenen Erfahrungswissen eine wichtige Hintergrundfolie für die PlanBude. Zum einen, um mit dem Verweis auf den Erfolg von Park Fiction als Verhandlungspartner_in von Seiten des Bezirks wahrgenommen und akzeptiert zu werden, zum anderen auch, um offiziell beauftragt zu werden. Der mit dem Bezirksamt Hamburg-Mitte geschlossene Vertrag ermöglicht es der PlanBude den Beteiligungsprozess selbstverantwortlich durchzuführen und erlaubt zugleich beiden Vertragspartnern jederzeit auszusteigen, wohl wissend, dass dieses Experiment mit offenem Ausgang auch scheitern kann.

Wie geht Beteiligung?

Leitlinie der PlanBude ist das Recht auf Stadt: Neben dem physischen Raum gilt es die gesellschaftlichen Verhältnisse ebenso wie die sozialen Praktiken mit einzuschließen und utopischen Überschuss zu produzieren. Die Umsetzung dieses Konzepts ist eine kollektive Wunschproduktion, deren Ergebnisse zur Grundlage von Stadtentwicklung werden. Für den Prozess hat die PlanBude stadtplanerische und künstlerische Tools neu konzipiert und Methoden weiterentwickelt, die im Beteiligungsrepertoire bereits zu finden sind. Alle Tools werden auf den Ort, die Umgebung und die Fragestellung hin spezifiziert und lenken die Gedanken ins Kreative, Spielerische, Utopische: Von der Wärmekarte über das Legomodell, das Knetmodell, die Nacht- und den Kellerkarten bis hin zu den Fragen der „Dachlandschaften 2.0“ oder dem Tankstellenersatz „An der Tanke du und ich“. Die Nachtkarte fragt nach einem Bild der Fassade zur „Reeperbahn im Jahr 2020“. Zu diesem Zeitpunkt wird der Neubau vermutlich fertig gestellt sein, die Karte steht also in direktem Bezug zur Zeitschiene des Projekts. Gemalt wird mit leuchtenden Stiften, sodass Assoziationen und Ideen für Leuchtschriften und einen glanzvollen Auftritt fast von alleine entstehen.

Um an Alltagsorte anzudocken, wird der Stadtteil zum Seminarraum: Workshops werden in Hotels und Bars abgehalten, durch Kneipen auf dem Kiez mit dem Film „Buy, Buy, St. Pauli“ getourt, gezielt Kioske und kleine Läden aufgesucht. Die PlanBuden-Container selbst sind über viereinhalb Monate von Dienstag bis Sonntag zwischen 16 und 21 Uhr geöffnet und werden zur Plattform: das PlanBuden-Kernteam wird mit den sogenannten PlanBuddies verstärkt, die auch spanisch, französisch, türkisch oder russisch sprechen, bei der wöchentlichen PlanBuden-Schicht werden Gespräche geführt, Besucher_innen informieren sich und tauschen sich aus, entwickeln gemeinsam Ideen oder bauen ihre Konzepte auf anderen auf.

Ein Fragebogen, der sowohl Informationen und Daten als auch Wünsche und Ideen generiert, wird an alle Haushalte St. Paulis und in der unmittelbaren Nachbarschaft, die nicht in der offiziellen Stadtteilumgrenzung liegt, per Postwurf selbst verteilt. Zusätzlich werden PlanBude-Boxen an Alltagsorten aufgestellt, um den Fragebogen dort zurückgeben zu können. In Urbanismus-Schulkursen mit der vierten und zehnten Klasse werden eigene Jugend- und Kinderfragebögen erstellt, verteilt und Stadt erforscht.

In Kooperation mit der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg und der Gemeinwesenarbeit (GWA) St. Pauli werden Haustürgespräche in den benachbarten Straßenzügen geführt, soziale Einrichtungen wie Seniorenheime direkt besucht. Große und kleine Feste werden initiiert, die den Charakter von Straßenfesten oder Nachbarschaftstreffen haben.

Betrachtet man nun diese – nicht abgeschlossene – Aufzählung an Tools und Methoden, fällt zunächst die Vielfältigkeit auf. Im Planungsjargon wird häufig von der richtigen Methode, dem richtigen Werkzeug gesprochen oder auch dem richtigen Mix. Zentral scheint es zu sein, unterschiedliche Formate zu schaffen, die sowohl zu Artikulation und Reflexion anregen, aber auch Spaß machen – also die Freude daran wecken, kreativ zu sein – unabhängig von Sprache, Ausbildung oder Talent. Als wesentliche Eigenschaften für den Planbuden-Prozess sind hier zu nennen:

Als maßgeblich für die hohe Beteiligung der Nachbarschaft sowie die Tiefe und Qualität der Beiträge können folgende Faktoren gesehen werden: eine dauerhafte physische Präsenz vor Ort und ein breit gefächertes, diverses Angebot an Beteiligungstools, Methoden und Plattformen. Elementar war die Vernetzung und Verbindung im Stadtteil, um Gelegenheiten und vielfältige Orte des Austauschs zu schaffen, sowie Möglichkeiten dafür zu bieten, sich gegenseitig schlauer zu machen. Voneinander zu lernen, den eigenen vertrauten Ort zu verlassen, auszuschwärmen, neue Erfahrungen und Blickwinkel zuzulassen und den ganzen Stadtteil zum Seminarraum zu machen,– all dies sieht die PlanBude als grundlegend für den Stadtgestaltungsprozess an.

St. Pauli Code verstärken

Die von Oktober 2014 bis Mitte Februar 2015 gesammelten, dokumentierten und archivierten Beiträge werden im Anschluss qualitativ wie quantitativ ausgewertet. In diesem anderthalb Monate dauernden ‚Übersetzungsprozess‘ werden die Aussagen aus den Zeichnungen, Modellen, Fragebögen etc. extrahiert, verdichtet und zugespitzt. Anschließend erfolgt die Zusammenführung der Kernaussagen in thematischen Strängen wie „Wie wollen wir wohnen?“, „Orte des Gemeinsamen“ oder „Schauseite Reeperbahn“ und schließlich die Übersetzung in städtebauliche, architektonische, ökologische und soziale Anforderungen für Funktion, Programm, Durchwegung, öffentliche Orte, Preise, Strukturen, Dächer und deren räumliche Zuordnung.

Aus dem Grundton der insgesamt über 2.300 Beiträge leitet sich auch der ‚St. Pauli Code‘ ab. In sieben Leitlinien wird hier beschrieben, wie sich ‚St. Pauli in die Zukunft denken‘ lässt: Unterschiedlichkeit statt Homogenität, günstig statt teuer, alt vor neu, Toleranz und Raum für alles, was von der Norm abweicht, Subkultur statt Trivialkultur, live statt Konserve und schmuddeliger Glamour – echt und lebendig – statt Hochglanzfassade, Freiraum ohne Konsumzwang. Der St. Pauli Code bildet den Leit- und Handlungsfaden für eine zukünftige Bebauung, die eine Anschlussfähigkeit an die bestehenden Qualitäten St. Paulis herstellt.

Die ausgewerteten und übersetzten Ergebnisse werden auf zwei Stadtteilkonferenzen in den Stadtteil zurückgespielt und diskutiert. Sie bilden neben dem St. Pauli Code die Grundlage für die anschließenden Verhandlungen mit Bezirk und Eigentümer- und Investorin über das, was in die Aufgabenstellung des städtebaulichen Wettbewerbs einfließen und was in den folgenden Entwicklungsschritten auch politisch und strukturell vereinbart und gesichert werden muss. Dafür werden die Ergebnisse nach Themen sortiert, die städtebaulich relevant sind, also politische Entscheidungsprozesse erfordern und grundsätzlich strukturelle Veränderungen adressieren, und deren Umsetzbarkeit im Städtebau verhandelt. Die zentralen Ergebnisse der Verhandlungen – keine Eigentumswohnungen, circa 60 Prozent geförderter Wohnungsbau und günstige Räume für Nachbarschaft, Innovation, Subkultur und soziale Versorgung – werden zur Grundlage für die Auslobung des städtebaulichen Wettbewerbs. Aber auch eine kleinteilige und heterogene Bebauung, für St. Pauli spezifisches Gewerbe, ein öffentliches Erdgeschoss, öffentlich zugängliche Dachlandschaften und ein öffentlicher Stadtbalkon sind Ergebnisse der Wunschproduktion. Die Interessen der Eigentümer- und Investorin und des Bezirks dagegen spiegeln sich zum Beispiel in einem Hotel wider, das maßgeblich für einen höheren Gewerbeanteil sorgt, aber auch als Lärmschutz für die dahinter liegenden Wohnungen dient.

Wer entscheidet über den Raum?

Der PlanBuden-Prozess zeigt, wie das Wissen der Vielen, aber auch die individuellen Wünsche der Nutzer_innen und Bewohner_innen eines Stadtteils als Grundlage für die Aushandlung über die zukünftige Gestaltung eines Ortes, gegenüber den Interessen von Projektentwickler_innen, Investor_innen, Stadtplanung und Politik in eine machtvollere Verhandlungsposition gebracht werden können. Was heißt das für die Rollenzuteilung der Akteure?

Am Beginn des Prozesses steht die Verhandlung der Akteure über ihre Rollen in einer Struktur, die so stabil ist, dass alle Beteiligten sich immer wieder daran reiben können, und gleichzeitig so fragil, dass alle Sorge dafür tragen müssen, dass der Prozess nicht vorzeitig scheitert. Dass der Prozess bisher so erfolgreich war, beruht zum einen auf der Bereitschaft der Akteure, sich auf einen ergebnisoffenen Prozess einzulassen, und zum anderen auf der verbindlichen Zusage, dass die Ergebnisse des Beteiligungsprozesses die Grundlage der weiteren Planung bilden werden. Im Fall des PlanBuden-Prozesses ist dies die gemeinsame Erstellung der Auslobung für den nachfolgenden städtebaulichen Wettbewerb.

Im Beteiligungsprozess – der Wunschproduktion – lag die inhaltliche, gestalterische und prozessuale Hoheit bei der PlanBude, die Verwaltung musste hier lernen zu vertrauen und Verantwortung abzugeben, und die Rolle eines Kommentators einnehmen. Während dieser Prozessphase kam der Eigentümer- und Investorin die Rolle der stillen Beobachterin zu. Erst nachdem die Ergebnisse im Stadtteil vorgestellt und damit öffentlich waren, wurden die heraus gearbeiteten Interessen des Stadtteils mit denen des Bezirks und der Eigentümer- und Investorin verhandelt. Im nächsten Schritt wurde das in der Verhandlungsphase entstandene Eckpunktepapier der Politik vorgestellt und von dieser bestätigt. Aufbauend auf dem Eckpunktepapier wurde dann die Auslobung in enger Abstimmung von Eigentümer- und Investorin, Bezirk und PlanBude erstellt und der Politik im Stadtplanungsausschuss vorgestellt. In der Vorgehensweise der PlanBude kommt somit zuerst die Nachbarschaft, dann der Bezirk sowie die Eigentümer- und Investorin und dann die Politik zum Zug, die dafür auf die Gewissheit der Verankerung im und eine breite Zustimmung aus dem Stadtteil setzen kann – und trotzdem die Entscheidungshoheit behält. Die Ergebnisse des PlanBuden-Prozesses können als legitimierte Grundlage für die weitere Entwicklung auch von der Politik getragen werden, da der Beteiligungsprozess durch die Dauer, die Tools und die Intensität vielfältige Äußerungen einer breiten Bevölkerungsschicht erzielt hat.

Der Einbezug beziehungsweise die starke Gewichtung des Stadtteilwissens führt dazu, die Asymmetrie im Kräftedreieck Politik, Investor und Zivilgesellschaft in der Planung aufzubrechen. Aus dieser Logik heraus resultiert auch die Vorgehensweise: Die PlanBude versteht sich im Entwicklungsprozess des Geländes der Esso-Häuser als Anwalt für die Belange des Stadtteils und ist daher auch diesem verpflichtet. Im Fall der PlanBude hat diese Art kooperativer Stadtplanung zu einer höheren Qualität des Entwurfs, komplexeren Problemlösungen und zukunftsfähigeren Ansätzen geführt.

Citizen Power

Wenn man mit Arnstein argumentiert, agiert die PlanBude auf der Ebene der bürgerschaftlichen Macht (citizen power) auf den beiden Stufen ‚partnership‘ und ‚delegated power‘. ‚Partnership‘, da die PlanBude gestärkt durch die erste Stufe des städtebaulichen Wettbewerbs, aus der Perspektive von Verwaltung und Politik, aber auch der Eigentümer- und Investorin und der Masterplan-Architekt_innen, als Verhandlungspartnerin wahrgenommen wird, auch wenn dies sicherlich noch nicht immer in einem ausgewogenen Kräfteverhältnis steht. Im Prozess wird diese Position von der PlanBude durch die Mitsprache bei der Auswahl der beteiligten Architekturbüros für den Wettbewerb, der Zusammensetzung der Jury sowie der Mitgestaltung des Wettbewerbsverfahrens (Bürgerwerkstatt) erstritten und eingenommen. ‚Delegated power‘, weil der Bezirk mit der Beauftragung der PlanBude die inhaltliche Kontrolle über den Beteiligungsprozesses abgibt und auf die PlanBude als Auftragnehmerin wie auf den künstlerisch-planerischen Prozess vertrauen muss. Delegated power ist aber auch auf Seiten des Stadtteils zu sehen: Würde die PlanBude nicht als Nachbarin und dadurch als glaubwürdige Vertreterin angesehen, könnte weder eine so große Menge an Beiträgen noch ein so intensiver Austausch stattfinden – und das Ergebnis würde, ohne auch je repräsentativ sein zu können, wesentlich an Qualität verlieren oder erst gar nicht zustande kommen, weil es mangels Interesse scheitern würde.

Der gesamte Prozess versteht sich dabei in progress, das heißt der Erfolg des einen Schrittes bildet die Basis für die Akzeptanz, Durchführung und Beauftragung des nächsten Schrittes. So resultiert aus der Beauftragung eines auf vorerst sechs Monate angesetzten Beteiligungsverfahrens mit Start im Oktober 2014 nun ein bereits fast drei Jahre andauernder Beteiligungsprozess, der in der hochbaulichen Wettbewerbsphase, der Begleitung des B-Planverfahrens, partizipativer Projektentwicklung und weiteren Handlungssträngen fortgeschrieben und beständig weiterentwickelt wird.

Positiver Moment

Prozesse wie die PlanBude schaffen Plattformen, die es ermöglichen, dass über die Frage, was und wie Stadt als Ganzes sein soll, ein Austausch entsteht. Aus einem ursprünglich partikularen Interesse können in der Auseinandersetzung universelle Werte abgeleitet werden, die in einen breiteren Kontext übersetzt werden können: Dem Recht auf Stadt innerhalb einer neoliberal geprägten Stadtentwicklung. Wenn es weiterhin gelingt, die verhandelten Ergebnisse, wie etwa das Nachbarschaftscluster oder öffentlich zugängliche Freiräume auf den Dächern, umzusetzen, mit Leben zu füllen und langfristig zu sichern – also der Marktlogik ganz oder zumindest teilweise zu entziehen, dann kann an der Stelle der ehemaligen Esso-Häuser ein Modell für eine zukünftige Stadtproduktion entstehen. Ein Modell, in dem die neoliberalen Mechanismen ein Stück weit überwunden werden und eine den Anwohner_innen und dem Stadtteil zugutekommende Gebrauchswertorientierung (Sozialwohnungen, Freiräume für Subkultur und soziale Versorgung) der dominierenden Tauschwertlogik von Investor_innen in Teilen vorgezogen und der Zugang zu urbanen Räumen und Ressourcen (vgl. Vogelpohl 2012) für die Nachbarschaft ermöglicht wird.

Um solche Formen emanzipatorischer Beteiligungs- und Planungsprozesse realisieren zu können, braucht es bei allen beteiligten Akteur_innen Mut und Offenheit zum Experiment, sowie Anerkennung und Vertrauen in das kollektive Wissen und die Expertise der Anwohner_innen als Expert_innen ihres Alltags. Nur durch die Bereitschaft, sich auf dieses ergebnisoffene Verfahren einzulassen, die Zusicherung einer tatsächlichen Einflussmöglichkeit des Stadtteils auf die Planung und schlussendlich die Umsetzung der Resultate wird es möglich, Vertrauen zu bilden und Befürchtungen, dass Partizipation in krisenhaften Situationen zum Feigenblatt wird, zu entkräften. Eine verbindliche Prozessstruktur sowie eine klare Rollenzuweisung der Beteiligten bilden dabei den stabilisierenden Rahmen.

Inwieweit sich über den langen Zeitraum der Umsetzung die Ergebnisse im zukünftig gebauten Areal verankern und sichern lassen, bleibt offen und wird von den Beteiligten weiterhin einen langen Atem verlangen. Da der Prozess und die Erfolge der PlanBude trotz offizieller Beauftragung und Bezahlung zu einem nicht unerheblichen Teil auf zivilgesellschaftlichem Engagement und individueller Motivation beruhen, bleibt die Frage noch zu beantworten, wie solche Prozesse zukünftig unerlässlicher und selbstverständlicher Teil von Stadtplanung und das eingangs erwähnte Kräfteungleichgewicht der Akteure in diesem Punkt ausgeglichen werden können. Auf jeden Fall können wir jedoch zumindest im Hinblick auf den bisherigen Prozess davon sprechen, auf der ‚ladder of participation‘ einige Stufen weiter hinauf geklettert zu sein.

Endnoten

Autor_innen

Renée Tribble studierte Architektur und ist Planerin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Prozessgestaltung, Urbane Praxis, Kunst und Stadtentwicklung, Partizipation, Beteiligungsverfahren, Verfahrensmanagement und Städtebau.

renee.tribble@hcu-hamburg.de

 

Patricia Wedler ist Kulturwissenschaftlerin. Arbeitsschwerpunkte sind kreativer Kapitalismus, Urban Political Economy, Gentrifizierung, Kunst und Stadtentwicklung, Urbane Intervention, Partizipation.

wedler@leuphana.de

 

Volker Katthagen ist Architekt und Urbanist. Sein Fokus liegt auf Stadtgestaltung, Städtebau, Architektur- und Stadtvermittlung, Beteiligungsverfahren, Partizipation, Urbane Interventionen.

volker_katthagen@gmx.de

Literatur

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