Post-urbanisierte Städte in globaler Perspektive

Kommentar zu Loïc Wacquants „Mit Bourdieu in die Stadt“

Christoph Haferburg

Die Notwendigkeit einer gesellschaftstheoretischen Rückbindung der Stadtforschung kommt in der gegenwärtigen Grundsatzdiskussion über den Stadtbegriff (Netzwerk? Flüsse/Ströme? Räumliche Fixierungen/Barrieren/Territorien?) beziehungsweise über die Fragen nach dessen regionaler Reichweite (Stadt-Land-Dichotomie? Methodischer Nationalismus?) und nach dessen empirischer Basis (Politischer Westen beziehungsweise Ökonomischer Norden oder Globaler Süden? Provinzialisierung oder Planetarisierung?) deutlich zum Ausdruck (vgl. Robinson 2002; 2006, Roy 2009, McFarlane 2010, Savage 2011, Brenner/Schmid 2014 und Scott/Storper 2014). Beantworten lassen sich die hier aufgeworfenen Fragen nur, wenn diskutiert wird, welcher Art die Wechselwirkung zwischen Stadt und Gesellschaft ist. Das setzt nicht nur voraus, dass zur Frage danach, was mit ‚Stadt‘ gemeint ist, Stellung bezogen wird, sondern auch zum Verständnis und zur Reichweite des Gesellschaftsbegriffs.

Es verwundert somit nicht, dass – aufgrund des Bedarfs an gesellschaftstheoretischer Rahmung – inzwischen auch in der Stadtforschung eine Art Kanonisierung Bourdieus beobachtet werden kann[1]; vergleichbar mit derjenigen, die sich spätestens seit den 1990er-Jahren in der Soziologie vollzogen hat[2]. Allerdings ist die Auseinandersetzung mit und das Verständnis von Bourdieus Werk im stadtbezogenen Forschungsfeld fragmentiert. Das mag teilweise an der Interdisziplinarität und Multiperspektivität des Feldes selbst liegen, teilweise aber auch daran, dass theoriegeleitete Forschung hier weniger selbstverständlich ist als in stärker disziplinär formatierten Sozialwissenschaften.

Insofern ist Loïc Wacquants dezidierte und detaillierte Auseinandersetzung mit den Chancen und Problemen, die in einer Stadtforschung im Anschluss an Bourdieu liegen, zu begrüßen. Hiermit ist die Möglichkeit gegeben, Teildebatten – beispielsweise die Tagung 2012 in York, die Wacquant als einen Ausgangspunkt seines Beitrags benennt – zu öffnen und diese in der internationalen Arena der Stadtforschung stärker sichtbar zu machen. Außerdem können diese so auch stärker mit anderen Ansätzen der von Bourdieu inspirierten Stadtforschung in Beziehung gesetzt werden, etwa mithilfe des vorliegenden Diskussionsformats in der sub\urban. Idealerweise wird also eine Öffnung der Auseinandersetzung bei gleichzeitiger Vertiefung der Argumente angeregt.

Vor diesem Hintergrund kann die von Wacquant identifizierte stadtbezogene Basis des Bourdieu`schen Theorieentwurfs (vgl. Wacquant 2017: 180) als Ausgangspunkt und Anregung begriffen werden, die eine weitergehende praxistheoretisch informierte Diskussion ‚urbaner Fragen‘ ermöglicht. Im vorliegenden Beitrag werden diese Hinweise zunächst kommentierend aufgegriffen und hinsichtlich ihres Innovations- und Erklärungspotentials diskutiert. Im Sinne einer Weiterführung der Argumentation wird darüber hinaus versuchsweise eine Heuristik einer posturbanisierten, praxistheoretisch inspirierten Stadtforschung skizziert. Diese speist sich zum Teil aus einem systematisierenden Überblick entsprechender deutschsprachiger Ansätze (vgl. Deffner/Haferburg 2012), der anschließend vorgestellt wird. Schließlich wird auf die fehlende Berücksichtigung einer postkolonial informierten Kritik verwiesen, wobei gezeigt wird, dass Bourdieus Argumentation hier bereits reflektierter ist als viele spätere Adaptionen.

Weshalb erscheint dies als gewinnbringend? Sicher nicht, weil sich die Rezipient_innen von Bourdieus Texten damit ein weiteres Forschungsfeld erschließen – die Proliferation praxistheoretischer Perspektiven ist derzeit ohnehin ein ‚Selbstläufer‘. Von der Stadtforschung her gedacht, können die gesellschaftstheoretischen Begriffe und Einsichten, die Bourdieu formuliert, aber sehr wohl weiterführende forschungsleitende Hinweise geben: Erstens wären Phänomene wie Stadt und Urbanität in ihrer Rolle als zeitgebundene Referenzen von sozioökonomischen Verhältnissen beziehungsweise von kulturellen, lebensstilbildenden Praktiken zu verstehen. Zweitens sollte konzeptionell und empirisch eruiert werden, wie sie in ihrer Artikulation als relationaler beziehungsweise als „angeeigneter physischer Raum“ (Bourdieu 1991) im Zusammenhang mit sich transformierenden Sozialitäten systematisch ‚Gesellschaft‘ produzierend wirksam werden. Schließlich könnten Bourdieus Überlegungen aus methodologischer Perspektive als raumsensible Zugänge zur Spurensuche in beziehungsweise zur Dechiffrierung von ‚urbanen‘ Kontexten zum Tragen kommen. Wacquant verweist auf all diese Möglichkeiten, sortiert und gewichtet sie aber anders, wie etwa in der unidirektional erscheinenden Formel, die von Macht über Strukturen zur Praxis führt (vgl. Wacquant 2017: 181).

Die wahre verlorene Stadtsoziologie Bourdieus…

Wacquants Text ist erkennbar von dem Bemühen motiviert, verkürzte beziehungsweise unzureichende Lesarten Bourdieus in der Stadtforschung zurechtzurücken. Dieses Anliegen wird in drei Schritten bearbeitet: erstens mit einem Rückbezug auf Bourdieus frühe empirische Studien in Algerien und im Béarn; zweitens mit einer ‚archäologisch‘ anmutenden Offenlegung von vier verschiedenen theoretischen Referenzen der Bourdieu‘schen Forschungspraxis; und drittens mit der Warnung vor drei Fallstricken bei der Anwendung Bourdieu‘scher Konzepte.

Innovativ sind – im Zusammenhang mit der Stadtforschung – aus meiner Sicht vor allem die ersten beiden Schritte. Der Verweis auf die frühen Studien Bourdieus lässt sehr deutlich die Urbanisierung als eine sowohl in Algerien als auch in Frankreich wirksame gesellschaftliche Transformation erkennbar werden. Sie erzeugt nicht nur Ungleichzeitigkeiten des Alltags beziehungsweise der Zeitregime (vgl. Wacquant 2017: 180, Bridge 2011: 77f), sondern auch Brüche in den sozialen Raumkonfigurationen. Wacquants stärkstes Beispiel hierfür sind die quasi-urbanen (Flüchtlings-)Camps, die Bourdieu und Sayad beispielsweise in Le Déracinement (1964) sezieren. Dadurch werden Machtverhältnisse deutlich, die durch Raumstrategien vermittelt werden. Indem Wacquant darlegt, wie stark die Analyse der gesellschaftlichen Modernisierung – sowohl des kolonialen als auch des metropolitanen Frankreichs – bereits bei Bourdieu mit der Dynamik der Verstädterung verschränkt war, wobei letztere stets eine Komponente der räumlichen Migration und eine des sozialen Wandels beinhaltet, wird ersichtlich, wie sehr Bourdieus Soziologie von Beginn an auch eine Soziologie des Raums beziehungsweise der Urbanisierung ist: Die ‚Stadt‘ als Bezugspunkt der Entwurzelung beziehungsweise der Erneuerung wird somit auch auf ‚Distanz‘ im ländlichen Raum in allen Lebensbereichen wirksam. In den damit verbunden Raumpraktiken artikulieren sich dementsprechend die jeweiligen gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Diesen Befund spitzt Wacquant zu dem Statement zu, hierin läge die „wahre, ‚unbeachtete Stadtsoziologie Bourdieus‘“ (Wacquant 2017: 181) – eine These, die sich dezidiert von Savages (2011) entsprechend betiteltem Beitrag abgrenzt.[3] Im Verlauf von Wacquants weiteren Ausführungen wird diese Zuspitzung zwar relativiert, dennoch führt sie die Leser_innen meines Erachtens leicht in die Irre, da sie Bourdieus Bedeutung für die Stadtforschung zu exklusiv in dessen Frühwerk verortet.

…sollte (mit Bourdieu) aktuell verortet, empirisch übersetzt und kohärenter konzipiert werden.

Es ist zutreffend, dass bereits Bourdieus frühe Arbeiten in der Kabylei und im Béarn in hohem Maße raumsensibel sind. Ich würde summarisch von einem ‚Ringen Bourdieus mit dem Raum‘ sprechen – auch das ist ein Kampfsport –, welches aber ohne zwei weitere gedankliche Schritte nicht hinreichend nachvollzogen werden kann (vgl. sowohl Savage 2011 als auch Hanquinet/Savage/Callier 2012): erstens seine doppelte Abgrenzung sowohl vom Geodeterminismus etwa den Community Studies (vgl. Hanquinet/Savage/Callier 2012: 512) als auch von vermeintlichen Alltagsgewissheiten wie etwa der profanen Gleichsetzung von sozialer und räumlicher Nähe. Diese Distanzierungen kommen insbesondere in der bewusst abstrahierenden Darstellung von Forschungsergebnissen, etwa in den Feinen Unterschieden, zum Ausdruck, die Wacquant unter dem Stichwort des ‚Bachelard‘schen Moments’ im Verlauf der weiteren Argumentation ebenfalls anspricht (Wacquant 2017: 182f). Der zweite Schritt besteht in Bourdieus späterem expliziten Inbeziehungsetzen von Sozial- und Raumanalyse (inklusive ihrer symbolischen Dimension), wie sie zum Beispiel in den „Ortseffekten“ (Bourdieu 1997) entwickelt wird – auch dieses wird von Wacquant im Sinne einer von Leibniz und Durkheim inspirierten Trialektik[4] aufgegriffen. Eine solche Komplettierung, die von Wacquant selbst im Abstract seines Beitrags ähnlich formuliert wird, die sich in seinen weiteren Ausführungen aber etwas verliert, wäre für eine aktuelle (post-urbanisierte) Stadtforschung mit Bourdieu meines Erachtens besonders relevant.

An dieser Stelle könnte somit der Vorschlag formuliert werden, mittels einer gleichrangigen Einbeziehung erstens des globalen Wandels in Form der gegenwärtigen (Post-)Urbanisierung (entsprechend des späteren Hinweises auf die geschichtliche Produziertheit der sozialen Welt); zweitens der Dechiffrierung alltagsweltlicher Regionalisierungspraktiken (vgl. Bachelard, auch Werlen 2007); und drittens der konzeptionellen Rekonstruktion einer gesellschaftlich verwobenen sozial-symbolischen Räumlichkeit (im Sinne der oben genannten Trialektik als einer Perspektive, die ‚Stadt‘ auch als gebauten Raum begreift) die praxeologische Stadtforschung auf drei Säulen zu stellen. Eine solche ‚Rekomposition‘ einiger der von Wacquant genannten Elemente würde sowohl historische Kontextualität, empirische Umsetzbarkeit und gesellschaftstheoretische Rahmung berücksichtigen, und damit letztlich eine ‚post-urbanisierte Perspektive‘ ermöglichen. Damit ist eine gesellschaftstheoretisch informierte Perspektive gemeint, die städtische Phänomene weder – wie etwa beim frühen Bourdieu, bei Lefebvre und anderen Autor_innen der 1960er- und 1970er-Jahre – in erster Linie als Ausdruck einer kapitalistischen, entfremdenden Modernisierung interpretiert, noch sie vor allem an Beispielen schnell wachsender Städte (vorzugsweise im Globalen Süden) festmacht. Stattdessen wäre sie sensibel für all die aktuellen Praktiken, die in ‚bestehenden‘, ‚vorgefundenen‘ urbanen Arrangements und ‚Zwischenräumen‘ sowohl repliziert werden als auch neu entstehen – ohne die Einschränkungen zu übersehen, die strukturell gegeben sind.

Wenn Wacquant demgegenüber die Urbanisierung als konzeptionelle Rückbindung zentral setzt, ist damit noch nichts Wesentliches über die Stadt als spezifisches räumlich-soziales Phänomen beziehungsweise Produkt gesagt. Das ließe sich zwar gut mit der von Brenner und Schmid (2014) propagierten Loslösung vom Stadtbegriff verbinden, nicht jedoch mit Wacquants durchgängigem Festhalten am Konzept der ‚Stadt‘. Bourdieu wiederum thematisiert – wie von Wacquant zu Recht herausgestellt – bereits während seiner frühen Forschungen die im Prozess der Verstädterung angelegten sozialen ‚Zumutungen‘. Sein Interesse gilt aber anfangs weder der innerstädtischen Artikulation dieses Prozesses noch einer konzeptionellen Rahmung der Stadt selbst; etwa im Sinne eines Produkts ökonomischer Austauschprozesse. Bourdieu thematisiert allerdings später auch städtische Konfigurationen im engeren Sinne: zuerst implizit und ansatzweise in den Feinen Unterschieden (1982 [1979]), dann explizit im Elend der Welt (1997 [1993]), vor allem im darin enthaltenen Text „Ortseffekte“. Die sozialen Effekte des Immobilienmarkts werden schließlich in Der Einzige und sein Eigenheim (frz. 2000/dt. 1998) analysiert. Und obwohl auch diese Texte ohne eine Gesamtbetrachtung von ‚Stadt‘ oder Urbanität auskommen, geben sie doch grundlegende Hinweise zur Stadtforschung, die über die transformatorische Bedeutung des Urbanisierungsprozesses hinausgehen. Insbesondere die relationale Konzeption des Feldbegriffs und aller Dimensionen von Räumlichkeit wären als Stichworte zu nennen; sowie die Betonung der Körperlichkeit von Subjekten und Objekten, und der daher postulierten Trägheit der sozialen Dynamik. In der mit dieser Trägheit einhergehenden Idee des Hysteresis-Effekts[5] könnte im Übrigen eine konzeptionelle Schnittstelle angelegt sein, die bisher wenig aufgegriffen wurde, die aber die Bedeutung von Materialität beziehungsweise von räumlichen Arrangements für soziale Dynamiken erhellen könnte (vgl. auch Bourdieu 1997: 161). Das Aufspüren der ‚verlorenen Stadtsoziologie Bourdieus‘ wäre daher meines Erachtens ohne eine Berücksichtigung dieser weiteren gedanklichen Annährungen an eine ‚soziale Räumlichkeit‘ ebenso unvollständig wie ohne die von Wacquant hervorgehobene soziologische Bedeutung der Urbanisierung.

Prinzipielle Fallstricke

Auch das zweite Element der Wacquant‘schen Darstellung – das Aufzeigen von vier epistemologischen Inspirationen – sollte von der von Bourdieu informierten Stadtforschung zur Kenntnis genommen werden. Die vier besprochenen Referenzen erweitern bestehende Lesarten und sind insbesondere in der vorliegenden Pointierung sehr anregend. Wacquant verweist hier erstens auf das – bereits angesprochene – Hinterfragen vorgefertigter (Alltags-)Kategorien, das er als ‚Bachelard‘schen Bruch’ mit dem ‚gesunden Menschenverstand‘ bezeichnet. Zweitens verdeutlicht er die geschichtliche Produziertheit der sozialen Welt nach Weber, wodurch Machtverhältnisse als Momentaufnahmen gesellschaftlicher Kämpfe erscheinen. Drittens ruft er die von Leibniz und Durkheim inspirierte Trialektik von symbolischem, sozialem und physischem Raum ins Bewusstsein. Schließlich verweist er viertens auf die Cassirer‘sche Dialektik subjektiver Dispositionen und objektiver Positionen (2017: 182ff.).

Mit den in diesen erkenntnistheoretischen Bezügen angelegten Forschungshinweisen lässt sich Bourdieus praxistheoretisches Vorgehen nicht nur besser nachvollziehen, sondern auch auf aktuelle Forschungsfragen anwenden. Allerdings erschließt sich den Leser_innen aus diesem Strauß von Ideen noch keine methodologische Kohärenz in Bezug auf die Stadtforschung. Es wäre deshalb konsequenter, diese Vignetten mit den zuvor entwickelten Gedanken zur Urbanisierung zu verbinden, wie versuchsweise in Form der drei Säulen skizziert, auf denen eine entsprechende Stadtforschung dann aufsetzen könnte. In jedem Fall würde ich mir eine argumentative Klammer wünschen, die den Strauß zusammenbindet.

Das Gleiche gilt für die drei Fallstricke, die Wacquant (2017: 185f.) ausweist, also die Warnung vor der Fetischisierung der Bourdieu’schen Begriffe, vor der sinnentleerten Übernahme einzelner Begriffe und vor dem überambitionierten Anspruch, Bourdieus Konzepte en bloc zu verwenden. Vor allem der letzte Punkt, der als Aufforderung konkretisiert wird, sich einzelner Versatzstücke (wie aus einem Werkzeugkasten) zu bedienen, erscheint mir etwas widersprüchlich zum vorher Gesagten. Auch wenn – oder vielleicht weil – man sich den einzelnen Warnungen für sich genommen gut anschließen kann, scheinen zumindest die ersten beiden im Prinzip auch auf die Mehrzahl aller gesellschaftstheoretischen Ansätze zuzutreffen. Insofern fügen sie dem hier diskutierten Text – im Gegensatz zu den bisher besprochenen Elementen – keinen erkennbaren Mehrwert hinzu.

Welche Wege in welche Stadt?

Von welchen gedanklichen Pfaden würde man sich – über die bisher diskutierten Wege hinaus – noch wünschen, dass sie von an Bourdieu interessierten Stadtforscher_innen beschritten werden? Im Sinne einer Selbstreflexion beziehungsweise eines Nachdenkens über die Bedingungen der Erkenntnis wäre zunächst der Versuch interessant, eine ‚Kartierung‘ der bereits existierenden Stadtforschung mit Bourdieu vorzunehmen. Auch die ‚Fehladaptionen‘, vor denen Wacquant warnt, könnten dann genauer diskutiert werden: Mit einer konkreten Kritik ließen sich etwa seine relativ allgemeinen Warnhinweise untermauern beziehungsweise erweitern. Wacquant nimmt Bourdieu zwar mit in die Stadt, aber er setzt sich im vorliegenden Text nur wenig mit anderen Wegen auseinander, auf denen Bourdieu dort bereits angelangt ist. Obgleich er viele davon benennt (vgl. Wacquant 2017: 174), bleibt vor allem offen, ob sich aus den bestehenden Zugängen nicht eine ‚Routenübersicht‘ erstellen ließe. Deren Interpretation wiederum könnte nicht nur etwas über die – vielleicht gar nicht so verlorene – Stadtsoziologie Bourdieus sagen, sondern auch über Stadtforschungsdesiderata und somit im Endeffekt auch über das Städtische selbst, so wie es sich gegenwärtig darstellt.

Eine solche systematisierende Bestandsaufnahme für den deutschsprachigen Kontext zu erstellen, wurde von Deffner und Haferburg versucht (vgl. Deffner/Haferburg 2014: 335ff, auch Deffner/Haferburg 2012). In der von Bourdieu inspirierten Stadtforschung könnten ihnen zufolge vier Forschungsinteressen unterschieden werden: erstens, die Stadt als Bühne der Selbstinszenierung zu verstehen, was sowohl die kulturelle Konsumption als auch Produktion umfassen könne (vgl. etwa Helbrecht/Pohl 1995, Pohl 2003). Zweitens, ‚das Städtische‘ allgemeiner als Code für einen besonderen urbanen Konstruktionsprozess sozialer Praktiken zu begreifen, was unter starker Bezugnahme auf den mit der Urbanisierung verbundenen Begriff der Urbanität geschähe (vgl. zum Beispiel Dirksmeier 2009). Drittens, die Rolle von raumbezogener Stigmatisierung und Diskriminierung bei der (Re-)Produktion sozial-räumlicher Differenzen zu entschlüsseln, inklusive der Thematisierung des Verhältnisses vom sozialem und physischem Raum (vgl. zum Beispiel Haferburg 2007, Odermatt/van Wezemael 2007, Deffner 2010, Dörfler 2010). Und viertens, Beispielstädte als kohärente und einzigartige soziale Erzeugungssphären eines je gemeinsamen Habitus zu interpretieren, was als typische ‚Fehlanwendung‘ beziehungsweise als Begriffs-Kidnapping verstanden werden könne (vgl. zum Beispiel Lindner 2003).

Lebensstile beziehungsweise Habitus werden von allen genannten Autor_innen (mit Ausnahme von Lindner) als Prinzip verstanden, das soziale Differenzen generiert – und zum Teil auch als Ergebnis dieser Differenzen in einem abstrakten sozialen Raum (vgl. Bourdieu 1982). Die durch – und für – sie entstehenden Relationen zwischen neuen ‚urbanen‘ sozialen Positionen wären demzufolge für die Konstitution des ‚Städtischen‘ entscheidend.

Das Besondere an fast allen diesen Varianten der Stadtforschung mit Bourdieu ist, dass Stadt hier ebenfalls als sozialer, symbolischer und räumlicher Ausdruck gesellschaftlicher Relationen interpretiert wird, also im Sinne einer Trialektik (avant la lettre). Das korrespondiert mit der Bourdieu’schen Weise, topologisch zu argumentieren, die Wacquant als Ausdruck Leibniz’scher und Durkheim’scher Denkfiguren interpretiert. ‚Stadt‘ wird also einerseits – aktiver gedacht – als Konglomerat von Arenen beschrieben, in denen Lebensstile ‚symbolisch zum Einsatz‘ kommen. Andererseits wird sie – reaktiver gedacht – als Amalgam sich überlappender, gesellschaftlich produzierter (vgl. Bourdieu 1998), aufgrund des Hysteresis-Effekts wenig fluider (Bourdieu 1997), gleichwohl nur temporär fixierter Habitate verstanden, die auch in Bezug auf spezifische Anwendungsbedingungen von Habitus wirksam werden (können) (vgl. Deffner/Haferburg 2014: 335).

An die skizzierten Möglichkeiten, Stadt nicht nur sozial, sondern auch symbolisch und als gebauten Raum zu verstehen, schließt sich zuletzt die Frage danach an, um welche Städte beziehungsweise um welche Gesellschaften es überhaupt geht (vgl. Deffner/Haferburg 2014: 340). Hier steht das vielleicht größte Fragezeichen, das Wacquants Text aufwirft: Wenn die Reichweite der Aussagen kaum thematisiert wird, besteht implizit ein universaler Geltungsanspruch. Dieser stützt sich gleichwohl – bei den von Wacquant zitierten Studien – fast nur auf ‚westliche‘ Fallbeispiele.[6] Dies reproduziert tendenziell die problematische Rollenaufteilung der Empirie zwischen Globalem Norden (Theorieentwicklung befördern) und Süden (soziale Missstände belegen). Auch die zweite Beitragssammlung, die diesem ersten IJURR-Themenheft folgen soll – in der Wacquants Beitrag in der längeren Originalfassung erschien –, und die stärker an empirischen Beispielen aus dem Globalen Süden orientiert ist als die ‚makroperspektivischen‘ und offenbar stärker theorieorientierten Artikel des vorliegenden Hefts, entkräftet dieses Unbehagen nicht (vgl. Wacquant 2017: 174). Im Gegenteil scheint die beschriebene Aufteilung die befürchtete typische Arbeitsteilung noch zu bestätigen. Dies ist umso bedauerlicher, insofern eine besondere Stärke der Theorie der Praxis gerade darin gesehen werden kann, dass diese Fragen bereits von Bourdieu selbst thematisiert wurden, was auch Wacquant an anderer Stelle herausstellt (vgl. Wacquant 2017: 181, 188). So hat Bourdieu die Anschlussfähigkeit seiner Überlegungen an gesellschaftliche Kontexte jenseits des ‚Westens‘ nicht nur mitgedacht beziehungsweise angestrebt (vgl. Bourdieu 1998: 14), sondern zur Voraussetzung seines Theorieentwurfs gemacht (vgl. Bourdieu 1976). Dieser gründete in wesentlichen Punkten auf den Ergebnissen seiner Feldforschungen in Algerien, denen Wacquant ja ebenfalls eine große Bedeutung beimisst. In diesem Punkt unterscheidet sich Bourdieu von den vielen zeitgenössischen Gesellschaftstheoretiker_innen, die ihre Modelle fast ausschließlich an westlichen Beispielen entwickeln beziehungsweise explizieren (vgl. Deffner/Haferburg 2014: 340). Das ist einer der Gründe, der ihn für eine postkolonial informierte Sozialforschung, die sich global verortet, so interessant macht.

Was nimmt man mit in die Stadt?

Wacquants Darstellung zeigt, dass die Stadtforschung von einer Auseinandersetzung mit Bourdieus Konzepten beziehungsweise von seiner relationalen, praxistheoretisch ausformulierten Perspektive auf die soziale Welt nach wie vor stark profitieren kann. Gleichzeitig wird deutlich, dass die darin angelegten Möglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft sind. Außerdem dokumentieren Wacquants Beitrag selbst, die dort angeführten Forschungsbeispiele sowie – ergänzend – die im vorliegenden Text angesprochenen Autor_innen die eindrucksvolle Vielfalt der Stadtforschung, die sich von Bourdieu inspirieren lässt. Ähnlich wie von Wacquant beschrieben und eingangs thematisiert erzeugt dies einerseits den Wunsch nach Öffnung der Debatte, einhergehend mit einer stärkeren gegenseitigen Bezugnahme. Der vorliegende Austausch in der Zeitschrift sub\urban leistet dazu bereits einen Beitrag, der aber sicher gewinnbringend auf weitere Beteiligte ausdehnbar wäre. Andererseits – und dies entspricht möglicherweise der ebenfalls oben erhofften ‚Vertiefung‘ – wäre es zu begrüßen, wenn einzelnen Zugänge konzeptionell so fortgeführt werden könnten, dass diesen ein noch stärkerer erkenntnisleitender Mehrwert zukäme. Die oben skizzierte Rekomposition – die sich aus einer aktuellen, post-urbanisierten und post-kolonial informierten Verortung der Forschung, einer empirischen Bezugnahme auf alltagsweltlich wirksame (Raum-)Praxis in Verbindung mit einer konzeptionellen Trialektik von symbolischem, sozialem und physischem Raum ergeben könnte – ist die hier vorgeschlagene Richtung, mit Bourdieu weiterzugehen.

Endnoten

Autor_innen

Christoph Haferburg ist Geograph; sein Fokus liegt auf sozial/räumlichen Differenzen (u.a. beim Wohnen und Stadtverkehr), insbesondere aus praxistheoretischer Perspektive und im Globalen Süden.

sefu@gmx.net

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