„Die Entscheidung ist ausgelöst in der Zeit“

Kommentar zu Lucius Burckhardts „Wer plant die Planung?“

Beate Binder

Die Frage „Wer plant die Planung?“, die Lucius Burckhardt 1974 seinen Überlegungen zu den Missverhältnissen in der hiesigen Stadtplanungskultur voranstellt, ist heute genauso aktuell wie damals. In den letzten Jahren sind Planungsprozesse verstärkt auch in den Fokus der Stadtanthropologie gerückt, wobei der über 40 Jahre alte Text einige Anschlussstellen bietet. Doch neben einem freudigen Staunen über die Aktualität des Beitrags zur damaligen Debatte stellen sich bei der Lektüre auch ambivalente Gefühle ein: Etwas wehmütig denke ich, wie einfach die Welt damals noch zu ordnen schien, und die anklingende Aufbruchsstimmung in der Zeit ‚nach ´68‘ ruft nostalgische Gefühle hervor; Ärger mischt sich dazu über manche Auslassung und die Arroganz des schnellen Urteils, und vor allem fühle ich mich irritiert angesichts des Mäanderns zwischen aus meiner Perspektive nur schwer zu vereinbarenden Theoriefragmenten. Doch eins nach dem anderen.

Meine Zustimmung findet vor allem der Auftakt: „Die Stadt ist voller Übelstände, und nicht jeder ist Gegenstand unserer planerischen Fürsorge“ (S. 105), schreibt Lucius Burckhardt bereits auf der ersten Seite. Ja, möchte ich rufen, genau: Was wo und wie als Problem wahrgenommen wird, ist weder selbstverständlich noch naturgegeben, folgt keiner abstrakten Logik oder ist entsprechend allgemeingültiger Grundsätze ‚rational‘. Vielmehr werden Probleme gemacht, entstehen matters of concern in konkreten, sozial strukturierten Situationen, oder in der zwar nicht identischen, aber durchaus anschlussfähig lesbaren Wortwahl von Lucius Burckhardt: Planung „ist nicht autonom, sondern einem sozialen System zugehörig“ (S. 113). An anderer Stelle spricht der Autor der „Benennung des Übelstands“ und der „sprachlichen Fixierung“ von Problemen eine „determinierende Kraft“ zu (S. 109) – es sind die Beschreibungen, welche die Gestalt und Wahrnehmung eines Problems maßgeblich bestimmen, würde ich formulieren (Binder 2006). Die Metaphern mit ihren eingelagerten normativen wie utopischen Vorstellungen nehmen Einfluss darauf, wo Planungsanstrengungen hinlaufen sollen. Zudem führten „unscharfe Grenzen“ dazu, so Burckhardt, dass – so wiederum meine Formulierung – Problemdefinitionen als boundary objects (Star/Griesemer 1989) fungieren, die unterschiedlichen Akteur_innen Anschluss- und Handlungsmöglichkeiten bieten. Weiter diagnostiziert Lucius Burckhardt, dass Probleme separiert werden. Es gehört also zu den Techniken des Definierens handhabbarer Probleme, die Stadt nicht als Ganzes in den Blick zu nehmen, sondern an Einzelbaustellen herumzuwerkeln, mit dem Effekt, dass Probleme nur verlagert werden. So würde ich es jedenfalls formulieren und dabei auf alltägliche Erfahrungen verweisen – bis hin zu der Groteske, dass der Fahrradweg, auf dem ich fahre, im Off endet. Der Begriff der ‚Problematisierung‘, den Foucault geprägt hat, um auf Prozesse der Konstitution von Objekten beziehungsweise Phänomenen als in spezifischer Weise problematische aufmerksam zu machen (vgl. auch Klöppel 2010), kommt mir dabei in den Sinn. Die „Übelstände der Stadt“ (S. 105) sind zwar da, aber werden nur vermittelt als solche wahrgenommen; zudem liefert die Art und Weise ihrer Konstitution auch die Logik für sich ergebende Konsequenzen – also dafür, wie eine Lösung aussehen kann. Lucius Burckhardt spricht in seinem Text einige der zeitspezifischen Problematisierungsweisen an, etwa die bereits genannte Zerlegung des städtischen Ganzen in Einzelprobleme, die auf messbare Erfolge ausgerichtete Bewertung von Stadtplanungsmaßnahmen, spezifische Formen der (Nicht-)Beteiligung von ‚Betroffenen‘ und nicht zuletzt den Glauben an die technische Machbarkeit städtischer Planung.

Die Polemik und Schärfe der Kritik verweist zugleich darauf, dass auch Lucius Burckhardt mit seinem Text dazu beitragen will, die Stadt und die etablierten Prozeduren der Planung zu problematisieren. Er interveniert in die damalige Praxis, indem er ‚andere‘ Bewertungen vorschlägt und das wahrnehmende Auge auf spezifische Problemkonstellationen lenkt. Der Text trägt insofern selbst zur Konstitution seines Gegenstandes bei, indem er die aktuellen Missstände in spezifischer Weise formatiert, Interpretationen vorschlägt und Lösungen zumindest andeutet – ohne allerdings die eigene Perspektive in dem Text zu reflektieren.

Doch dann gibt es Passagen, die meinen Widerspruch hervorrufen. Obwohl zu Beginn vom aktiven Herstellen von Problemlagen gesprochen wird, wird dieses Tun im weiteren Verlauf der Argumentation an Personen und spezifische Interessenkonstellationen gebunden. Der mit Foucault sich öffnende Kurs wird, vielleicht nicht so erstaunlich für einen Text der 1970er Jahre aus westdeutscher Werkstatt, in organisationssoziologische und handlungstheoretische Fahrwasser gelenkt. Für meinen Blick einer praxeologisch und gendertheoretisch informierten Stadtanthropologin ist der Schlenker kaum nachzuvollziehen, dass Burckhardt das Herstellen von Problemen an das politische Kalkül einzelner Personen bindet, die sich ein Problem „an die Fahne“ (S. 105) heften, oder an Akteurskollektive, die im Rahmen der Planungsbehörde als Organisation Nutzen und Schaden kalkulieren. Stadtplanung wird damit der Vorstellung zweckrationalen Handelns untergeordnet, das jenseits des städtischen Gemeinwohls auf individuelle respektive kollektive Vorteile bedacht ist. Mir scheint, dass in diesen Passagen die Denkfigur des rational choice Pate steht und damit die Vorstellung, dass bereits im Vorfeld Nutzen und Schaden, Anerkennung und Abwertung als Folgen spezifischer Entscheidungen abgewogen werden können.

Eingebunden wird die organisationssoziologisch gerahmte Analyse in die Vorstellung von der Wirkkraft eines Kräfteparallelogramms. Burckhard identifiziert und diskutiert vier Gruppen, die mit unterschiedlichen Interessen an der Stadtplanung partizipieren – und, so könnte man im Anschluss an Michel de Certeaus Unterscheidung in Strategien und Taktiken argumentieren (de Certeau 1988), auch in unterschiedlichem Maß Einfluss auf stadtplanerische Entscheidungsprozesse nehmen (können): „Die Frage, wer die Planung plant“, so Lucius Burckhardt, „führt uns also heute in das Kräfteparallelogramm zwischen der regierenden Beamtenschaft, der Bauspekulation, der Bürgerschaft und den durch die beschlossenen Maßnahmen betroffenen Leuten.“ (S. 107) Auch wenn diese Konstellation aus heutiger Perspektive etwas holzschnittartig daherkommt, besticht sie dadurch, dass sie die sozialen Dynamiken des Planungsprozesses in den Fokus rückt. Als eine Art trickster führt Lucius Burckhardt an dieser Stelle den Planer selbst als Figur ein, in welche die Vorstellung von der Möglichkeit „sachliche[r] Planung“ (S. 107) jenseits situierter Wissensbestände eingeschrieben ist – mit Sicherheit eine männlich kodierte Figur, die bis heute wirksame Ausschlüsse produziert, wie ich anmerken würde (vgl. Frank 2003). Bereits auf Grund der Einbindung in die Organisationslogik der Planungsbehörde scheitert dieses Ideal an Bedingungen des Machbaren: Die „entscheidungsfindenden Kollektive“ (S. 107) folgen der Logik der Organisation und der dort herrschenden Bewertungsmatrix, argumentiert Lucius Burckhardt. Dabei identifiziert er überaus überzeugend zentrale Momente des ‚Problems Stadtplanung‘: Er weist hin auf die Blackbox der Übersetzung von Beschreibungen in Maßnahmen, auf das Angewiesen-Sein auf Kompromisse, um zwischen Bestehendem und Gewolltem vermitteln zu können, auf die unscharfe inhaltliche wie räumliche Bestimmung von Problemkonstellationen und die Pfadabhängigkeit von Planungsprozessen. Gerade die Frage der Übersetzung ist in den letzten Jahren ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, nicht zuletzt durch den Einfluss der Science and Technology Studies sowie der Akteur-Netzwerk-Theorie und die damit einhergehende Beachtung nicht-menschlicher Beteiligter in solchen Prozessen (vgl. Beck et al. 2012). Aus dieser Perspektive kann die Frage der Planung als Übersetzungsprozess verstanden werden, bei dem Leitideen und Zielvorstellungen in konkrete Praktiken verwandelt – eben übersetzt – werden (vgl. z. B. Farias/Bender 2010). So produktiv diese Perspektive ist, geht sie doch gelegentlich auf Kosten der ausreichenden Beachtung von sozialen Dynamiken und Machtkonstellationen, die Stadtplanungsprozesse durchziehen.

Dies ist jedoch genau das zentrale Anliegen von Lucius Burckhardt und bestimmt auch eine weitere interessante Wendung, die der Text vollzieht. Denn der Autor beschreibt die Interessenkonstellationen nicht nur zwischen Planungsbehörden, Stadtpolitik und Bauspekulation, sondern auch zwischen dieser Planungs-Trias und Teilen des Mittelstandes. „Diese Klasse ist in relativ kurzer Zeit von einem trägen Konservatismus zu einem wirtschaftlichen Fortschrittsglauben übergegangen“ (S. 110), stellt der Autor fest, und befindet, dass das „bürgerliche Credo“, Wohlstand durch Investition zu erlangen, sich in den Städten durch „hektische Bauerei und Saniererei“ (ebd.) artikuliert. Mir fallen dazu Bilder aus meiner Kindheit und Jugend in Frankfurt am Main ein, angefangen beim Bau der U-Bahn und unterirdischer Fußgängerpassagen – Burckhardt schreibt von der „Tieflegung des öffentlichen Verkehrs unter die Erde“ (ebd.) – über die Abrisssanierung von Altstadtquartieren bis hin zu Häuserkampf und militanten Demonstrationen gegen Spekulation – während vor der Stadt suburbane Siedlungen wucherten. Mir fallen Henri Lefebvres Diagnosen mit dem Ruf nach einem „Recht auf Stadt“ ein (Lefebvre 2003), die beginnenden Kämpfe um den Erhalt von als historisch klassifizierten innerstädtischen Quartieren und die gleichzeitige Spekulation mit Grundstückpreisen.

Von diesen Spuren der sozialen Kämpfe um Stadt führt uns Lucius Burckhardt schließlich – und logisch – zu der „Stimme der Verplanten“ (S. 111) und den Versuchen der Stadtplanung, die Zustimmung zu ihren Entscheidungen zu erlangen. Stichwortartig werden die Reform des Städtebauförderungsgesetzes und die darin vorgeschriebene Bürgerbeteiligung genannt und vor allem die Rolle der Soziologie bei der Herstellung eines Planungskonsenses zwischen Stadt und „Betroffenen“ (S. 111) kritisch befragt. Auch hier stimme ich frohgemut zu, dass Befragungs- und Beteiligungsverfahren hochgradig problematisch sind, dass sich mit diesen Verfahren eine Expertenschaft etabliert (hat), die Interessen von „Betroffenen“ verwaltet, ohne die Standortgebundenheit der eigenen Wahrnehmung von Stadt abstreifen zu wollen oder zu können. Auch diese Verfahren werden bis in die Gegenwart von der Stadtanthropologie kritisch befragt: Welche Wissenspraktiken sind für solche Beteiligungsverfahren erforderlich, welche Kapitalien kommen hier zum Einsatz und wo kippt der emanzipatorische Gehalt dieser Partizipationsweisen in Bevormundung, wo wird der Demokratie in der Planung Grenzen gesetzt und welche Aus- und Einschlussmechanismen strukturieren sie? Wer kann hier wie seine Rechte nutzen und durchsetzen? Susan Silbey hat darauf hingewiesen, dass es eine empirisch offene Frage ist – und bleiben wird –, inwiefern solches, an rechtliche Rahmungen anschließendes Handeln demokratische Partizipation ermöglicht oder eben nicht (Silbey 2005). Lucius Burckhardt scheint es noch leichter zu fallen, hier ein Urteil zu fällen: Er ist skeptisch, doch identifiziert er zugleich ein wichtiges Problem auch hier in der Frage der Übersetzung: „Die Beplanten leben in einer Realität, ebenso auch die Planungsberechtigten in der ihren. Die subjektive Realität oder die Art, wie der einzelne die Wirklichkeit zu sehen vermeint, ist eine Folge seiner Erziehung in der Gesellschaft, also eine soziale Konstruktion“ (S. 112), stellt er fest. Auch wenn ich aus praxistheoretischer Perspektive darauf beharren würde, die Konstitution von Wahrnehmungsweisen als konstanten und unabgeschlossenen Prozess, als ein fortwährendes doing zu verstehen, gehe ich gerne mit bei Lucius Burckhardts abschließender Forderung: „Planung ist nicht nur das, was die Techniker planen. Über Stadtplanung nachdenken heißt also nicht (nur), die neuesten Theorien über Wohndichte oder Verkehrsführung zu studieren; vielmehr geht es um die umfassende Betrachtung der Art und Weise, wie Kommunen ihre Umwelt planend verändern“ (S. 114). Dass er zugleich der Stadtplanung den Status einer Wissenschaft entziehen will, führe ich auf sein Wissenschaftsverständnis zurück, das offensichtlich von einer standortunabhängigen Objektivität ausgeht (zur Kritik dieser Vorstellung vgl. Haraway 1988). Aber im Grunde ist die Frage, ob Stadtplanung Wissenschaft ist, auch völlig uninteressant. Wichtiger scheint es mir, (noch) genauer zu verstehen, wie Stadt in Stadtplanungsprozessen gewusst wird und wie Ideen von Stadt in Planung umgesetzt werden. Beim Weiterarbeiten an dieser Frage kann die Stadtanthropologie an den Text von Lucius Burckhardt anschließen, wenn sie wieder stärker soziale Prozesse in den Mittelpunkt rückt – auch wenn ich vorschlagen würde, diese Frage intersektionaler anzugehen und nach der Verwobenheit unterschiedlicher sozial wirksamer Kategorien zu fragen, und dabei zwar auch, aber eben nicht nur Klasse respektive soziale Lage zu beachten (Binder/Hess 2011).

Autor_innen

Beate Binder forscht in der Europäischen Ethnologie zu den Themen Geschlecht, Stadtanthropologie, Politik- und Rechtsanthropologie, Politik und Praktiken der Erinnerung sowie im Bereich feministischer Kulturanthropologie.

beate.binder@hu-berlin.de

Literatur

Beck, Stefan / Niewöhner, Jörg / Sörensen, Estrid (Hg.) (2012): Science and Technology Studies: eine sozialanthropologische Einführung. Bielefeld: transcript.

Binder, Beate (2006): Urbanität als „Moving Metaphor“. Aspekte der Stadtentwicklungsdebatte in den 1960er/1970er Jahren. In: Adelheid von Saldern (Hg.), Stadt und Kommunikation in Umbruchszeiten. Von den 1970er Jahren bis heute. Stuttgart: Steiner, 45-63.

Binder, Beate / Hess, Sabine (2011): Intersektionalität aus der Perspektive der Europäischen Ethnologie. In: Sabine Hess / Langreiter, Nikola / Timm, Elisabeth (Hg.), Intersektionalität Revisited. Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Bielefeld: Transcript, 15-52.

Burckhardt, Lucius (2017 [1974]): Wer plant die Planung?. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 5, 1-2, 105-114.

De Certeau, Michel (1988): Kunst des Handelns. Berlin: Merve.

Farías, Ignacio / Bender, Thomas H. (Hg.) (2010): Urban Assemblages: How Actor-Network Theory Changes Urban Studies. New York: Routledge.

Frank, Susanne (2003): Stadtplanung im Geschlechterkampf. Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts. Opladen: Leske + Budrich.

Haraway, Donna (1988): Situated knowledges: The science question in feminism as a site of discourse on the privilege of partial perspective. In: Feminist Studies, 14/3, 575-599.

Klöppel, Ulrike (2010): Foucaults Konzept der Problematisierungsweise und die Analyse diskursiver Transformationen. In: Achim Landwehr (Hg.), Diskursiver Wandel. Wiesbaden: VS Verlag, 255-263.

Lefèbvre, Henri (2003 [1970]): Die Revolution der Städte. Dresden: PostPlatz.

Silbey, Susan S. (2005): After legal consciousness, in: Annual Review of Law and Social Science, 1, 323-368.

Star, Susan Leigh / Griesemer, James (1989): Institutional ecology, „translations“ and boundary objects: Amateurs and professionals in Berkeley’s museum of vertebrate zoology, 1907-39. In: Social Studies of Science 19/4, 387-420.