Ortseffekte oder Bourdieu und die Ausrufung des Ghettos

Kommentar zu Loïc Wacquants „Mit Bourdieu in die Stadt“

Lars Meier

Ebenso wie Pierre Bourdieu ist sein Schüler Loïc Wacquant einer der selten gewordenen Intellektuellen, die ihre Profession, die Soziologie, nutzen um soziale Ungleichheiten und gesellschaftliche Machtverhältnisse nicht nur zu analysieren, sondern auch versuchen, damit auf öffentliche Debatten zu einzuwirken. Daher ist Wacquants Aufsatz nicht nur als eine interessante Diskussion der Frage, ob Bourdieus Werk in der Stadtsoziologie angemessen und korrekt verwendet werde, zu verstehen. Der in dem Text formulierte Appell, Bourdieus Arbeit auch innerhalb der Stadtsoziologie stärker anzuwenden, ist – vor dem Hintergrund zunehmender sozialer Ungleichheit, Armut, Marginalisierung und einem Aufschwung des Rechtspopulismus – eine Forderung nach einer soziologischen Betrachtung dieser Probleme in der Stadt. Was kann nun also das Werk von Pierre Bourdieu zur Analyse der heutigen sozialen Probleme in der Stadt in Deutschland beitragen?

Ich werde in diesem Kommentar auf die Verräumlichung sozialer Ungleichheit und auf die Relevanz der symbolic power eingehen, also auf ein Konzept, das aus Wacquants Sicht zwar im Zentrum von Bourdieus Soziologie stehe, auf das aber nur selten Bezug genommen werde. Der Hintergrund des Konzepts der symbolic power sei, dass

„die soziale Welt stets aus einer Vielzahl unterschiedlicher Blickwinkel erfahren und konstruiert werden kann, [weshalb] diese konkurrierenden Symbolsysteme so viele Waffen in den „Auseinandersetzungen um die Schaffung und Durchsetzung der legitimen Weltsicht“ dar[stellen] (Bourdieu (2016 [1985]: 17). Auf den urbanen Raum angewandt impliziert dieses Prinzip, dass nicht nur auf die Phänomenologie des urbanen Lebens im Sinne einer an bestimmten Orten gelebten Realität zu achten ist, sondern auch auf die Begriffe, die zur Bezeichnung von Menschen, Objekten, Aktivitäten und Orten in der Stadt verwendet werden. Denn gerade angesichts der Konzentration von symbolischen Autoritäten (religiöser, politischer, juristischer, journalistischer, künstlerischer und wissenschaftlicher Natur) in der Metropole stellen Kategorisierungen, die Konsequenzen zeitigen, ein besonders wirkungsvolles Mittel zur Bewahrung oder Transformation der Realität dar.“ (Wacquant 2017: 184f.)

Wacquant fordert, Bourdieus Konzepte nicht als theoretischen Fetisch zu verstehen, sondern ihre Anwendung in der konkreten empirischen Stadtforschung. Völlig zurecht macht er darauf aufmerksam, dass eine solche Anwendung jedoch problematisch sei, wenn dabei von Bourdieu eingeführte Begriffe unpassend verwendet würden – als „leeres Bourdieugeschwätz“ (2017: 192) –, also ohne dass diese in Beziehung zur ursprünglichen Konzeption stünden. Dieses Argument ist zweifellos unmittelbar plausibel. Allerdings sollte dabei nicht übersehen werden, dass beispielsweise ein Begriff wie Habitus nicht nur von Bourdieu entwickelt wurde, sondern auch mit anderen konzeptionellen Ausrichtungen, wie etwa der von Norbert Elias (2003), von Soziolog_innen verwendet wird. Die stadtsoziologische Verwendung dieses Begriffs ist somit auch ohne Bezug zum Bourdieuschen Habituskonzept möglich und erfordert in jedem Fall eine Bezugnahme zur jeweiligen soziologischen Konzeption.

Wacquant plädiert weiterhin für eine Anwendung einzelner Bourdieuscher Konzepte – wie das der symbolic power – in der Stadtsoziologie. Ich argumentiere dafür, die symbolic power in einem umfassenderen sozio-ökonomischen und politischen Kontext stehend zu analysieren. Dies führe ich im folgenden beispielhaft aus und möchte so hervorheben, dass Stadtsoziolog_innen, wenn sie Bourdieu ernst nehmen wollen, zwar einzelne Bourdieu’sche Konzepte – so wie von Wacquant vorgeschlagen – anwenden können, diese aber auch kontextualisiert werden müssen. Dafür werde ich die Verwendung des Ghettobegriffs in Deutschland als symbolic power mit der zugenommenen sozialen Ungleichheit in Beziehung stellen. Mein Kommentar schließt somit an ein Verständnis von symbolic power an, dass Bourdieu auf die Bildung von sozialen Gruppen angewendet hat. Es sei ein „mental construct [that] is turned into a historical reality through the inculcation of schemata of perception and their deployment to draw, enforce, or contest social boundaries“ (Wacquant 2013: 274). Umfassender lässt sich dieses Konzept verstehen als „capacity to shape reality by shaping shared representations of the world“ (ebd.: 282). Damit wird seine Anwendbarkeit nicht nur auf die Bildung von sozialen Gruppen, sondern auch auf urbane Räume deutlich.

In dem – meinem Kommentar zugrunde liegenden – Aufsatz zeigt Wacquant, dass in Bourdieus frühem Werk die Differenzierung zwischen Stadtbevölkerung (urbanite) und Landbevölkerung (peasant) mit einer soziosymbolischen Markierung einhergehe. Diese werte den peasant im Vergleich zum urbanite ab und verringere somit – zusammen mit der Internalisierung der Abwertung und der Ausbildung von unvorteilhaften Praktiken wie Schüchternheit – die Chancen der peasants auf dem lokalen Heiratsmarkt (vgl. Wacquant 2017: 176). An diesem Beispiel werde die Verbindung von symbolic power zum sozialen und physischen Raum deutlich (vgl. ebd.: 174), der auch für die folgende Analyse zur Verwendung des Ghettobegriffs hilfreich ist.

1. Symbolic power und unwürdige Armut im gewandelten Sozialstaat

Wie ist nun auf dieser Basis die – in Deutschland geführte – politische Debatte über die Entstehung von Ghettos zu verstehen? In deutschen Raptexten oder in skandalisierenden Medienberichten werden städtische Viertel mit dem Begriff ‚Ghetto’ versehen, in denen es eine überdurchschnittliche Armutsquote und Arbeitslosigkeit gibt. Aber auch in der politischen Debatte warnt beispielsweise der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel vor der Entstehung von Ghettos durch die Ansiedlung von Flüchtlingen in bestimmten Wohngebieten. Es ist hier allerdings nicht der Ort um die einzelnen Motive zur Verwendung des Ghettobegriffs zu analysieren. Vielmehr geht es in meinem Kommentar darum, Wacquants Aufruf, Konzepte von Bourdieu in der Stadtsoziologie anzuwenden, aufzugreifen.

Zunächst ist es wichtig, auf die Bedingungen des Ghettos einzugehen. Hierbei geht es nicht nur um die symbolische Stigmatisierung bestimmter Stadtviertel und ihrer Bewohnenden in medialen Texten, sondern auch um die strukturellen Bedingungen infolge von Transformationen des Sozialstaates, des Arbeitsmarktes und der Sozialpolitik. Es sind Transformationen auf der Makroebene, die auf der Mikroebene der alltäglichen Handlungen und Identitätsverortungen im urbanen Raum ihre Wirkung entfalten (vgl. Meier 2016; 2013). Mein Kommentar folgt deshalb der, von Wacquant völlig zurecht geforderten, Verknüpfung verschiedener Betrachtungsebenen – nämlich der Mikro-, Meso- und Makroebene – auf Stadt (vgl. Wacquant 2017: 175).

Die medialen Texte, die eine symbolische Kennzeichnungen von Stadtvierteln und ihren Bewohnenden vornehmen und damit symbolic power ausüben, erfolgen vor dem Hintergrund einer gewandelten Sozialstruktur im gewandelten Sozialstaat (vgl. Lessenich 2008). So hat in Deutschland das anhaltende Wirtschaftswachstum und die sinkende Arbeitslosigkeit nicht dazu geführt, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich wieder geschlossen hat. Vielmehr hat sich, in einem der reichsten Länder der Erde, in den letzten Jahrzehnten die relative Armutsquote noch weiter erhöht. Infolge des Wandels von Arbeitsmarkt und Sozialstaat, der Zunahme von atypischen Beschäftigungsformen – wie Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigung, Leiharbeit, Minijobs, Solo-Selbstständige – und der Ausdehnung des Niedriglohnsektors, betrifft Armut nun auch zunehmend die in den Arbeitsmarkt integrierten Schichten; nämlich eine verunsicherte (ehemalige) Mittelschicht (vgl. Dörre 2008, Koppetsch 2013). Heute, das zeigt eine aktuelle Untersuchung des statistischen Amtes der Europäischen Union, sind in Deutschland nach Sozialleistungen 16,7 Prozent der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht und haben damit weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens zur Verfügung (vgl. Eurostat 2016). Besonders seit den 1990er-Jahren kam es zu einem Anstieg der Armut, und zwar trotz sinkender Arbeitslosigkeit. Dieser Anstieg zeigt sich beispielsweise im Wachstum der Anzahl an wohnungslosen Personen (vgl. Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungshilfe 2015), der Zunahme der Lebensmitteltafeln seit ihrer Gründung im Jahr 1993 (Bundesverband Deutsche Tafel 2016) oder in der Zunahme überschuldeter Haushalte (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017).

In soziologischen Gegenwartsanalysen wird die Entstehung einer Schicht gezeigt, die von der Möglichkeit auf Erwerbsarbeit abgekoppelt ist. Armut geht dabei mit sozialem Ausschluss einher. In medialen Texten wird diese Form der Armut auch als ‚unwürdige Armut’ stigmatisierend präsentiert. So werden beispielsweise in Realityshows Empfänger_innen von ALG II durch die Darstellung von nicht-arbeitsmarktkonformen Verhaltensweisen als für ihre Situation selbstverantwortlich und daher als nicht unterstützenswert dargestellt. Mit Bezug auf Bourdieu drückt diese Darstellung symbolic power aus, bei der Stigmatisierung als sozialer Platzanweiser fungiere und so ihre Wirkung entfalte. Analysen zeigen, dass dieses Narrativ – von den unwürdigen Armen – den Umbau vom vorsorgenden zum aktivierenden Sozialstaat begleitet und sich auch in politischen Narrativen wiederfindet (vgl. Fohrbeck/Hirseland/Ramos Lobato 2014). Die symbolic power des Narrativs der unwürdigen Armut im gewandelten Sozialstaat findet seinen räumlichen Ausdruck im Ghetto. Damit wird mit Bezug zu Wacquants Text der „Zusammenhang[] zwischen symbolischer Macht und physischem Raum in der Stadt“ (2017: 190) deutlich.

2. Symbolic power und der Ghettobegriff

Wacquant kritisiert völlig zurecht, dass „[d]ie Stadtforschung […] es bislang versäumt [habe], sich den Vierteln der Vermögenden, Mächtigen und Privilegierten zu widmen, aus dem einfachen Grunde, dass […] die Soziologie schon lange ein romantisches Faible für Unterschichten und vernachlässigte Räume kultiviert“ (2017: 185). Ebenso wie Armut lässt sich auch Reichtum in bestimmten Stadtvierteln räumlich konzentriert finden. Stadtviertel erzeugen mithin einen zusätzlichen sozialen Statusverlust oder -gewinn der Bewohnenden. Bourdieu (1997) hat dies als ‚Ortseffekte’ gefasst und damit auch sogenannte Ghettos als – durch Sensationsberichte und politische Gerüchte erzeugte – phantasmatische Orte begreifbar gemacht.

Der die sozialen Missstände und Armut skandalisierende Begriff des Ghettos ist dabei der räumliche Widerhall der als ‚unwürdige Arme’ stigmatisierten Bevölkerung und belegt Wacquants These, „dass alle sozialen und mentalen Strukturen räumliche Entsprechungen und Bedingungen ihrer Möglichkeit haben“ (2017: 181). In Deutschland knüpft der Ghettobegriff an die Geschichte der jüdischen Ghettos seit dem Spätmittelalter und der jüdischen Ghettos im Nationalsozialismus an, die – man scheint es heute wiederholen zu müssen – eine geplante und mit Gewalt durchgesetzte räumliche Konzentration der jüdischen Bevölkerung in abgetrennten städtischen Bereichen benennt. Aber ‚Ghetto’ war nie eine neutrale Beschreibung eines solchen Stadtviertels, sondern immer auch eine antisemitische Diskriminierung der dort lebenden Bevölkerung. In den USA haben Ghettos eine verwandte Bedeutung und bezeichnen vorwiegend Stadtviertel, die von armen Afroamerikaner_innen bewohnt werden und sich infolge von mangelnden Investitionen der öffentlichen Hand durch schlechte Infrastruktur auszeichnen. Auch für städtische Ghettos in den USA gilt, dass ihre Bewohnenden durch stereotype rassistische Abwertungen stigmatisiert werden, die sie als gefährlich etikettieren und als Personen, die nicht gemäß den allgemeinen sozialen Normen und Regeln handeln würden. Wenn heute in Deutschland der Ghettobegriff wieder verwendet wird, dann wird zumindest billigend auf solche stigmatisierenden Stereotype Bezug genommen. Denn der Begriff ‚Ghetto’ beinhaltet stets den Verweis auf Diskriminierung und Ausgrenzung einiger Bevölkerungsgruppen. Die Villenviertel werden allerdings gerade nicht als Ghettos bezeichnet. Der Ghettobegriff ist in der Debatte zur sozialen Spaltungen den Stadtvierteln der ärmeren Bevölkerung vorbehalten. Er wird also auf Bevölkerungsgruppen, die in politischen Diskursen und in TV-Realityshows in abwertender Weise dargestellt werden, angewendet. Der Ghettobegriff drückt mithin symbolic power aus und geht – zusammen mit der Darstellung von unwürdiger Armut – mit einer doppelten sich gegenseitig verstärkenden Stigmatisierung einher: Erstens mit „territorialer Stigmatisierung“ (ebd.: 192) bestimmter Stadtviertel und zweitens mit einer Stigamatisierung der Menschen, die in diesen Stadtvierteln wohnen.

Wacquants Text formuliert dies leider nicht aus, aber um symbolic power in der Stadt mit Bezug auf Bourdieu umfassend zu verstehen, ist es notwendig, diese in einen größeren strukturellen Zusammenhang zu stellen. Denn die Makrostrukturen, wie die des gewandelten Sozialstaates, stehen in enger Beziehung zu der Ausprägung der symbolic power. Auf dieser Basis kann man den Wacquants Aufruf zur Anwendung der Bourdieu’schen Konzepte nur unterstützen, um die Stadt als „Sphäre der Akkumulation und Differenzierung vielfältiger Formen von Kapital“ (2017: 190) zu verstehen.

Autor_innen

Lars Meiers Arbeitsschwerpunkte sind die Soziologie der sozialen Ungleichheit, Stadt- und Raumsoziologie, soziale Transformationen und qualitative Methoden.

lars.meier@soz.tu-berlin.de

Literatur

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Bourdieu, Pierre (1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leides in der Gesellschaft. Konstanz: UVK Verlag.

Dörre, Klaus (2008): Armut, Abstieg, Unsicherheit. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 33/34, 3-6.

Elias, Norbert (2003): Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt: Suhrkamp.

Eurostat (2016): Anteil der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Personen in der EU zurück auf Vor-Krisen-Niveau. Ausgeprägte Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten. In: Eurostat Pressemitteilung 199/2016.

Fohrbeck, Anna / Hirseland, Andreas / Ramos Lobato, Philipp (2014): How benefits recipients perceive themselves through the lens of the mass media. Some observations from Germany. In: Sociological Research Online 19/4, 9.

Koppetsch, Cornelia (2013): Die Wiederkehr der Konformität. Streifzüge durch die gefährdete Mitte. Frankfurt a. M.: Campus.

Lessenich, Stephan (2008): Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus. Bielefeld: Transcript Verlag.

Meier, Lars (2013): Encounters with haunted industrial workplaces and emotions of loss. Class related senses of place within the memories of metalworkers. In: Cultural Geographies 20/4, 467-483.

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Paugam, Serge (2008): Die elementaren Formen der Armut. Hamburg: Hamburger Edition.

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Wacquant, Loic (2017): Mit Bourdieu in die Stadt: Relevanz, Prinzipien, Anwendungen. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 5, 1/2, 173-196.