Physischer Raum und Herrschaft

Kommentar zu Loïc Wacquants „Mit Bourdieu in die Stadt“

Boike Rehbein

Bourdieu wurde oft dafür kritisiert, die Bedeutung des geografischen – oder des physischen – Raums unterschätzt zu haben (siehe zum Beispiel Rérat/Lees 2010: 127). Zumindest dürfte unstrittig sein, dass er kein Raumsoziologe war. Dennoch versucht Wacquant in seinem Aufsatz zu zeigen, dass der geografische Raum durchaus eine wichtige Rolle in Bourdieus Werk spiele. Dabei nimmt er die Gegenposition zur raumsoziologischen Kritik an Bourdieu ein. Ich möchte mich im Folgenden dieser Kritik anschließen und dennoch Wacquants Interpretation des Bourdieuschen Raumbegriffs unterstützen.

Anders als Wacquant betrachte ich Bourdieu nicht als Vordenker der Raumsoziologie. Wenn Wacquant auf die ethnologischen Studien Bourdieus im südfranzösischen Béarn und in Algerien verweist, zeigt er zwar, dass die gesellschaftliche Konstruktion des physischen Raums in ihnen behandelt wird, aber es lässt sich nicht leugnen, dass der physische Raum keine systematische Funktion in Bourdieus Begriffsapparat hat. Den Begriffen des sozialen und des symbolischen Raums kommt eine prominente Funktion zu, eine theoretisch aufgeladene Behandlung des physischen Raums fehlt hingegen. Die drei Raumbegriffe können keinesfalls auf eine Ebene gehoben und als äquivalent betrachtet werden.

Während Wacquant zu zeigen versucht, dass alle soziologisch wichtigen Aspekte des physischen Raums zumindest ansatzweise mit Bourdieus Begriffsapparat zu fassen seien, haben Geograf_innen und Raumsoziolog_innen argumentiert, dass der physische Raum in seiner Theorie fehle und eigens hinzugefügt werden müsse (vgl. Rérat/Lees 2010). Diese Divergenz spitzt sich in der Frage zu, ob eine zusätzliche Kapitalsorte – nämlich die des räumlichen Kapitals (siehe zum Beispiel Marcus 2010) – in Bourdieus Theorie eingeführt werden müsse.

Es bedarf keiner weiteren Erläuterung, dass der Geburts- und Wohnort eine zentrale Rolle für die Lebenschancen eines Menschen spielen. Wer in einem äthiopischen Slum geboren wird, dürfte kaum eine gute Schule besuchen können, die das Studium an einer Eliteuniversität und eine Berufstätigkeit als Manager_in oder Spitzenadvokat_in ermöglicht. Und wer eine gute Ausbildung genossen hat und in Äthiopien wohnt, wird sie nicht so gut zur Geltung bringen können wie deutsche oder französische Staatsbürger_innen. Die Bedeutung dieser Unterschiede ist es gerade, die Bourdieu in einigen seiner frühen Arbeiten zu Algerien und zum Béarn untersucht hat. Das verdeutlicht Wacquant in seinem Aufsatz.

Geburts- und Wohnort können allerdings unter keine der Bourdieuschen Kapitalsorten subsumiert werden. Es handelt sich nicht um ökonomisches, kulturelles, soziales oder symbolisches Kapital. Bourdieu hat diese Form von Ungleichheit nicht mit einem eigenen Begriff bedacht, obwohl sie relevant ist und sich nicht mit den genannten Begriffen fassen lässt. Aus diesem Grund wurde die Kategorie des räumlichen Kapitals in die Raumsoziologie eingeführt. Sie soll die gesellschaftliche Bedeutung des Ortes ausdrücken, die einen Menschen oder eine Gruppe relativ bevorzugt oder benachteiligt, aber auch auf die gesellschaftliche Konstruktion eines heterogenen physischen Raums hinweisen.

Der Ort bedingt teilweise den Habitus und teilweise die Möglichkeit, Kapital einzusetzen. Wacquant schreibt dem Ort sogar einen Wert zu, der geradezu operationalisiert werden kann. Dieser Wert orientiere sich, seinem Aufsatz zufolge, an der „Nähe zum Zentrum der Kapitalakkumulation“ (Wacquant 2017: 181). Durch die jeweilige Entfernung könne man das räumliche Kapital tatsächlich bestimmen.

Nun verweist Wacquant selbst auf die Studien der Pinçons, denen zufolge ein Mitglied der französischen Oberklasse einen Landsitz haben müsse. Dieser befinde sich zumeist fern vom Zentrum der Machtakkumulation. Anders gesagt: Milliardär_innen interessiert das räumliche Kapital nicht. Sie fliegen mit dem Hubschrauber oder mit dem Privatflugzeug, um Entfernungen zu überbrücken. Derselbe Ort kann für unterschiedliche Klassen also einen unterschiedlichen Wert haben.

Hinter dieser Beobachtung verbirgt sich ein theoretisches Problem. Der physische Raum erhält – aus der Perspektive von Bourdieus Theorie – nur insofern gesellschaftliche Bedeutung, als er den Einsatz von (ökonomischem, kulturellem, sozialem oder symbolischem) Kapital behindert oder fördert. Damit kann der Begriff des räumlichen Kapitals nicht auf derselben theoretischen Ebene angesiedelt sein wie Bourdieus Kapitalbegriff insgesamt.

Anja Weiß (2017) hat die Bedeutung des physischen Raums und das genannte theoretische Problem im Begriff der ‚sozialräumlichen Autonomie’ reflektiert. Der Begriff bezeichnet die Möglichkeit, Kapital und Habitus in unterschiedlichen nationalstaatlichen Kontexten einzusetzen. Über sozialräumliche Autonomie verfügt demgemäß eine Person, die an jeden Ort ziehen kann, ohne die eigene soziale Position zu gefährden oder gar zu verlieren. Die maximale sozialräumliche Autonomie hätte man erreicht, wenn alle – gesellschaftlich für wertvoll gehaltenen – Tätigkeiten und Güter zugänglich wären.

Der Begriff der sozialräumlichen Autonomie kann meines Erachtens auch auf den Nationalstaat oder eine Region, eine Stadt oder ein Dorf beschränkt werden. Er erlaubt es darüber hinaus, die Ordnung der Nationalstaaten, die Ungleichheit zwischen Orten und mit Migration verknüpfte Ungleichheit zu fassen – Probleme, die Bourdieu tatsächlich kaum berührt hat. Schließlich erhellt der Begriff das Verhältnis zwischen ‚räumlichem Kapital’ und den Kapitalsorten Bourdieus. Die Dimension des physischen Raums wird als die mehr oder weniger gute Chance interpretiert, Bourdieus Kapitalsorten einzusetzen.

Allerdings muss ich an dieser Stelle noch einmal auf die Oberklasse zurückkommen. Die Bedeutung des physischen Raums ist für diese Gruppe im Sinne einer Einschränkung relativ gering. Darüber hinaus ist das ökonomische Kapital – das großenteils von dieser Klasse monopolisiert wird – zunehmend ortsunabhängig, virtuell und global. Gleichzeitig ist die Oberklasse stärker an den Nationalstaat gebunden als jede andere Klasse. Ihre soziale Position und ihre sozialräumliche Autonomie sind großenteils auf den Nationalstaat fixiert, in dem ihr soziales und kulturelles Kapital erworben wurden.

Die anderen Klassen verlieren durch Migration weniger als die Familien der Oberklasse. Ein_e Universitätsprofessor_in kann nahezu in jedem Staat arbeiten und jeweils eine ähnliche soziale Position bekleiden. Für viele gelernte Arbeitskräfte gilt das ebenfalls, wenn auch nicht immer in demselben Maße, für ungelernte weit weniger. Für die Oberklasse jedoch sind die Grenzen oft klar gezogen. Sogar eine Familie Mittal oder Tata gewinnt schwer Zugang zur britischen Oberklasse, wenn sie nach London zieht. Gleiches gilt auch umgekehrt, wenn die Familie Branson oder Ecclestone nach Indien zöge. Daher sehen wir zwar die Verlegung eines Wohnsitzes oder gar der Staatsbürgerschaft in Steueroasen, aber selten eine echte Migration von Angehörigen oder gar Familien der Oberklasse (siehe Hartmann 2009). Ihre sozialräumliche Autonomie ist eingeschränkt.

Der Begriff der sozialräumlichen Autonomie hebt den des räumlichen Kapitals auf und vermag dessen Verhältnis zu den anderen Kapitalsorten zu erhellen. Allerdings ist das Problem, den physischen Raums aus der Perspektive von Bourdieus Theorie zu verstehen, damit noch nicht vollständig gelöst. Erstens schließt die sozialräumliche Autonomie nicht die Oberklassen ein. Zweitens bleibt die gesellschaftliche Konstruktion des Raums unklar.

Wacquant deutet am Ende seines Aufsatzes an, wie diese Schwierigkeiten aus Bourdieus Perspektive gelöst werden könnten. Er schreibt, dass im Zentrum der Forschung die Herrschaft über den sozialen, symbolischen und physischen Raum stehen müsse. Dieser Forderung schließe ich mich an. Die Oberklasse kann nicht wie jede andere Klasse betrachtet werden, weil sie die herrschende ist. Und die soziologischen Probleme sollten in erster Linie aus der Perspektive von Herrschaft interpretiert werden.

In seinem Aufsatz stellt Wacquant zwar eine zu eindeutige Korrespondenz zwischen sozialem, symbolischem und physischem Raum her. Auch vernachlässigt er das Problem der Herrschaft im Hauptteil seines Textes, in dem er die Wurzeln von Bourdieus Ansatz diskutiert (Marx kommt beispielsweise nicht vor). Schließlich wirken seine Zusammenfassungen der frühen Aufsätze Bourdieus wie beliebige ethnologische Fallstudien – und nicht wie kritische Soziologie. Am Ende aber kommt er auf das zentrale Problem zu sprechen, nämlich Herrschaft, und interpretiert Bourdieus Ansatz als Herrschaftssoziologie.

Aus dieser Perspektive ist am physischen Raum relevant, was die Herrschaftsordnung ausdrückt und stützt. Dieser Raum ist weder Kapital noch soziologisch bedeutungslos, weder Chance zum Einsatz von Kapital noch rein physische Umwelt. Er ist ein Aspekt von Herrschaft und ein Ausdruck ihrer Ordnung. Man kann diese Ordnung am empirischen Material des physischen Raums erforschen, und man muss den physischen Raum bei der Erforschung von Herrschaft berücksichtigen. Es erscheint mir jedoch weder angemessen, Bourdieu die Vernachlässigung des Raums vorzuwerfen, noch ihn zu einem Vorläufer heutiger Raumsoziologie zu erklären. Ich meine vielmehr, dass Bourdieu durchaus in vieler Hinsicht eine weiterführende Perspektive auf den Raum entworfen hat, auch wenn er sie nicht voll entwickelte. Das halte ich für die Kernaussage von Wacquants Aufsatz, der ich zustimme.

Autor_innen

Boike Rehbeins Forschungsschwerpunkte sind Globalisierung, soziale Ungleichheit, Sozialtheorie und Südostasien.

rehbeinb@hu-berlin.de

Literatur

Hartmann, Michael (2009): Die transnationale Klasse – Mythos oder Realität? In: Soziale Welt 60/3, 285-303.

Marcus, Lars (2010): Spatial capital. In: Journal of Space Syntax 1/1, 30-40.

Rérat, Patrick / Lees, Loretta (2010): Spatial capital, gentrification and mobility: evidence from two Swiss cities. In: Transactions of the Institute of British Geographers, 36/1, 126-142.

Wacquant, Loic (2017): Mit Bourdieu in die Stadt: Relevanz, Prinzipien, Anwendungen. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 5, 1/2, 173-196.

Weiß, Anja (2017): Soziologie globaler Ungleichheiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.