Keine Angst vor Alternativen. Ein neuer Munizipalismus. über den Kongress „FearlessCities“, Barcelona 10./11. Juni 2017

Lisa Vollmer

Die Idee eines neuen Munizipalismus wird in den linken sozialen Bewegungen Europas und darüber hinaus breit diskutiert. Munizipalistische Bewegungen streben an, kommunale Regierungen zu übernehmen oder zu beeinflussen, um lokale Institutionen (wieder) gemeinwohlorientiert auszurichten, ein neues Verhältnis zwischen kommunalen Regierungen und sozialen Bewegungen zu schaffen und so die Art wie Politik gestaltet wird von unten her zu demokratisieren und institutionelle Rahmenbedingungen zu verändern. Sie entstehen in Reaktion auf die aktuelle ökonomische und politische Krise – ebenso wie neue rechte und rechtspopulistische Bewegungen, als deren Gegenpart sie sich verstehen. Mit Mut und konkreten Utopien will man der multiplen städtischen Krise begegnen, statt mit Angst und Angstmacherei wie rechte Bewegungen. Deshalb trafen sich über 600 Vertreter_innen dieser munizipalistischen Bewegungen auf Einladung „Barcelona en Comús“ aus über 150 Städten weltweit im Juni 2017 in Barcelona – von Vertreter_innen lokaler Protestinitiativen bis zu Bürgermeister_innen – unter dem Motto „FearlessCities“ zum Austausch- und Vernetzungstreffen. Die Wahlplattform[1] „Barcelona en Comú“ stellt seit 2015 die kommunale Regierung Barcelonas.

Die altehrwürdigen, sakral anmutenden Hallen des Hauptgebäudes der Universität – der Ort des Treffens – standen im Kontrast zu den zumeist jungen, überwiegend weiblichen, furchtlosen Graswurzelaktivist_innen des Kongresses, Stadtbewohner_innen, die sich spätestens seit der Finanzkrise 2007 gegen Austeritätspolitik und rechten Populismus organisieren. In vielen Städten haben sich lokale Protestbewegungen und lokale Wahlplattformen gegründet, die der Angst vor dem Abbau der sozialen Infrastruktur und der rechten Bedrohung etwas entgegensetzen wollen. Angst war dann auch tatsächlich nicht zu spüren in Barcelona. Im Gegenteil, es herrschte Aufbruchstimmung und – für die deutsche, Spalterei gewohnte Besucherin – ungewohnte Einigkeit über die zu erreichenden Ziele und – fast noch wichtiger – den Weg dorthin.

Umso erstaunlicher, denn anwesend waren sowohl gewählte Politiker_innen und Verwaltungsmitarbeiter_innen als auch Vertreter_innen von städtischen Bewegungen. Vier Beispiele seien hier stellvertretend benannt, um einen Einblick in die Zusammensetzung der Beteiligten des Kongresses zu geben. „Ne davimo Bograd“ (Belgrad darf nicht untergehen, Übers. d. A.) wehrt sich in Serbien gegen die Folgen eines städtebaulichen Großprojekts, das entlang der Donau zu massiver Aufwertung und Gentrifizierung führt (vgl. Clausen 2017). Da die Gruppe trotz spektakulärer öffentlichkeitswirksamer Proteste – inklusive einer zwölf Meter großen Badeente – keinen Einfluss auf die Politik nehmen konnte, denkt sie darüber nach, bei den nächsten Kommunalwahlen mit einer eigenen Wahlplattform zu kandidieren. Die Mitglieder von „Ciudad Futura“ aus Rosario, Argentinien, beschäftigen sich hingegen mit Bodenrechten, Selbstverwaltung und kooperativen Ökonomien und haben als munizipale Wahlplattform mittlerweile drei Sitze in der Stadtregierung inne. „Ciudad Futura“ entstand aus zwei sozialen Bewegungen, in denen hunderte von Aktivist_innen selbstverwaltete Projekte organisierten (vgl. Baird 2016). „Barcelona en Comú“ ist schon einen Schritt weiter und stellt seit 2015 die Regierung und mit Ada Calou die Bürgermeisterin Barcelonas. Die Wahlplattform war aus zahlreichen städtischen Protestinitiativen entstanden, Calou selbst kommt von der „Plataforma de Afectados por la Hipoteca“ (PAH), die gegen Zwangsräumungen infolge der Finanzkrise 2007/08 mobilisierte. Jeese Arreguin wiederum, Bürgermeister von Berkeley, USA, sammelt seit Jahren Erfahrung in lokalen Verwaltungen und Mitbestimmungsgremien, vor allem im Bereich der Wohnungspolitik, war Teil der „Occupy“- und der „Black Lives Matter“-Bewegung und seine Kandidatur 2016 wurde von lokalen Initiativen getragen.

Aus Deutschland nahmen nur wenige Initiativen an dem Kongress teil: Neben Einzelpersonen kamen Vertreter_innen der Initiative „Stadt von Unten“ aus Berlin und der „Interventionistischen Linken“ (IL). Hierzulande findet der neue Munizipalismus mit wenigen Ausnahmen (vgl. u. a. Zelik/Bruchmann/Candeias 2016, Interventionistische Linke 2017) kaum Beachtung.[2] Deshalb sollen hier zunächst die Ideen des Munizipalismus und die Inhalte des Kongresses vorgestellt werden, bevor am Ende des Textes erörtert wird, warum der neue Munizipalismus in Deutschland bisher kaum diskutiert wird und ob es dabei bleiben muss.

Munizipalismus: Mit lokaler Macht gegen Neoliberalismus und Rechtspopulismus

Die politische Praxis eines neuen Munizipalismus sieht lokale Regierungen als den zentralen Ansatzpunkt für politische Veränderungen. Dabei sollen aber nicht einfach lokale Regierungen durch alte oder neue Parteien übernommen werden, sondern Inhalte, Strukturen und Personen sozialer Bewegungen auf lokale Institutionen und lokale Regierungen übertragen werden. Die kommunale beziehungsweise munizipale politische Ebene wandelt sich also vom Adressaten politischer Forderungen zur Ebene, die selbst Teil einer sozialen Bewegung werden soll.

Die Vertreter_innen des neuen Munizipalismus berufen sich dabei auf städtische Traditionen der Freiheit und der politischen Organisierung (bzw. auf den Diskurs darüber): von der griechischen Polis über die mittelalterliche Stadtluft, die frei macht, bis zur Pariser Commune 1871 (vgl. Caccia 2017). Anfang der 1990er-Jahre wurde in der Linken schon einmal eine breitere Debatte über Munizipalismus geführt. Der anarchistische Denker Murray Bookchin schlug mit dem ‚libertären Munizipalismus’ eine politische Strategie vor, die die basisdemokratische Organisierung von Gemeinden beziehungsweise Gemeinschaften ins Zentrum stellt (Biehl/Bookchin 1990). Mit den Zapatisten wurde diese Idee der Konzentration aufs Lokale auch in der Anti-Globalisierungsbewegung prominent.

Heute hat sich Südeuropa, insbesondere Spanien, zum Zentrum einer munizipalistischen Praxis entwickelt. In den 2000er-Jahren entstanden in Katalonien mit den sogenannten „Candidaturas d’Unitat Popular“ (CUP) lokale Wahlplattformen, mit denen zahlreiche Gemeinderatssitze erobert wurden. Eine solche lokale Wahlplattform formierte sich 2014 mit „Barcelona en Comú“ aus städtischen sozialen Bewegungen wie der „15M“-Bewegung – die sich unter anderem mit Platzbesetzungen für eine „echte Demokratie“ und gegen die Austeritätspolitik einsetzte –, der PAH und zahlreichen anderen. „Barcelona en Comú“ entstand auch in Abgrenzung zur Strategie von „Podemos“, auf nationaler Ebene die Regierung zu stellen. Die munizipalistische Wahlplattform will dagegen die institutionellen Rahmenbedingungen politischen Handelns selbst ändern und diese von lokaler Ebene aus aufrollen (vgl. Zelik/Bruchmann/Candeias 2016). Viele lokale Bewegungen in spanischen Städten folgten dem Beispiel. Bei den Kommunalwahlen 2015 waren munizipalistische Wahlplattformen überaus erfolgreich und sind nun an den Regierungen in Madrid, Barcelona, Valencia, Zaragoza, Cádiz, Badalona, A Coruña und vielen anderen, auch kleinen, Städten beteiligt oder in der Opposition vertreten. In Spanien bot die Kombination aus ökonomischer und politischer Krise der Repräsentation, die auf eine starke Tradition der lokalen Organisierung traf, optimale Bedingungen für den neuen Munizipalismus.

Aber auch in anderen Städten und Regionen weltweit zeichnet sich eine Strategie ab, die die kommunalen Parlamente in den Fokus nimmt. So verfolgen Kurd_innen seit den 2010er-Jahren die Selbstverwaltung kurdischer Gebiete als Konföderation von Gemeinden. In Portugal und Italien konnten lokale Wahlplattformen die Regierungen mehrerer Städte übernehmen. In Frankreich (Grenoble) und den USA (Richmond, CA und Jackson, MS) gelang dies vereinzelt. In Polen verbinden sich die lokalen Wahlplattformen (Warschau, Gorzów Wielkopolski) zunehmend mit der neuen linken Partei „Razem“. Auch in südamerikanischen Städten (Belo Horizonte, Brasilien; Valparaíso, Chile; Rosario, Argentinien) sind Vertreter_innen munizipaler Bewegungen in die Parlamente eingezogen. Ein Anliegen des Kongresses in Barcelona war es, einen Überblick über die zahlreichen Munizipalismen zu schaffen.[3]

Die neuerliche Hinwendung zum Munizipalismus hat verschiedene Gründe. Die ökonomische Krise nach 2008 wird von einer institutionellen und demokratischen Krise begleitet, in der nicht nur einzelne demokratische Repräsentant_innen an Legitimität eingebüßt haben, sondern die Mechanismen und Strukturen der Repräsentation der Demokratie selbst. Dies äußert sich nicht zuletzt in dem Abstand zwischen Politiker_innen, politischen Institutionen, Diskursen und Strukturen und davon ausgegrenzten Menschen, deren Lebensrealität sich darin nicht widerspiegelt. Der Neoliberalismus hat nicht nur das Wirtschaftssystem von alltäglichen Bedürfnissen entfremdet, sondern auch das politische System (vgl. Brown 2015). Bisher sind es überwiegend nationalistische, rechtspopulistische Bewegungen, die aus dieser Krise politisches Kapital schlagen können – und zwar vor allem dort, wo eine linkspopulistische Alternative fehlt.

Mit Gramsci gesprochen, befinden wir uns spätestens seit der Finanzkrise 2007 in einer Zeit des Interregnums, in der sichergeglaubte Wahrheiten aufbrechen. In einer solchen Übergangszeit sei die lokale Ebene besonders wichtig, um mit neuen und radikalen Formen der Politik zu experimentieren, so die Idee des Munizipalismus. Denn auf dieser Ebene könne den Machtverhältnissen konkret begegnet werden. Der vom Neoliberalismus propagierten Alternativlosigkeit könnten hier konkrete Alternativen entgegengesetzt werden, weshalb sich der Munizipalismus auf eine pragmatische Politik der kleinen Siege konzentriert (vgl. Baird 2017). Eine globale, abstrakte Macht soll im Lokalen konkret bekämpfbar werden. Dem Rechtspopulismus könne auf lokaler Ebene tatsächlich begegnet werden, indem die alltäglichen Kämpfe der Menschen ernst genommen und in eine andere politische Strategie eingebunden würden. Der Munizipalismus mache darüber hinaus ein anderes Identitätsangebot als der Nationalismus.

Die lokale politische Ebene wird als wichtigstes politisches Betätigungsfeld gesehen. Nicht nur, weil es einfacher scheint, sich lokal zu organisieren und in die Parlamente zu gelangen. Vielmehr befänden sich hier die Institutionen, die am nächsten an den Bürger_innen und ihrer Lebensrealität sein könnten. Nur von hier aus könne eine echte Demokratie aufgebaut werden. Die lokale Ebene sei die Ebene, auf der ‚der Staat‘ auf die alltägliche Realität der Bürger_innen träfe und damit die Ebene, auf der Ungleichheit erfahrbar sei, in der Spannungen und Risse entstünden, an denen der Staat ‚aufgeribbelt‘ werden könne und neue kreative Prozesse begännen. Auf lokaler Ebene könne radikal demokratisch organisiert und mit neuen Formen der Teilhabe experimentiert werden, die dann abstrahiert werden könnten.

Wie machen wir das? – Institutionen übernehmen und soziale Bewegungen stärken

Was aber sind die Strategien dieser munizipalistischen Bewegungen und einer Demokratisierung von unten? Auf dem Kongress wurde betont, es gäbe nicht die eine Formel des Munizipalismus, sondern jeder Munizipalismus müsse, da er ja lokal verankert sei und agiere, aus dem lokalen Wissen entwickelt werden. Trotzdem lassen sich geteilte Strategien festhalten. Diese nehmen staatliche Institutionen einerseits und das Verhältnis von repräsentativer Demokratie und sozialen Bewegungen andererseits in den Fokus.

Munizipalistische Bewegungen wollen neue Institutionen schaffen beziehungsweise bestehende ändern und demokratisieren, sodass sie wieder als soziale Infrastruktur funktionieren und nicht als Verwertungsvehikel. Denn viele lokale Institutionen, wie zum Beispiel kommunale Wohnungsbaugesellschaften, sind so umstrukturiert worden, dass sie nicht mehr dem Gemeinwohl dienen, sondern einer Profitlogik folgen. Dem Munizipalismus geht es also um ein Wiedereinfordern von Institutionen, die selbst Ergebnisse von sozialen Kämpfen waren – man denke zum Beispiel an Wohnungsbaugenossenschaften. Diese lokal verankerten Institutionen sollen weniger stark an den Staat angebunden sein und mehr selbstverwaltete Elemente erhalten, sodass jede einzelne Institution zur Demokratisierung der Gesellschaft beiträgt. Im Fall von kommunalen Wohnungsbaugesellschaften könne durch mehr Mitbestimmung und -verwaltung der Mieter_innen zum Beispiel verhindert werden, dass Wohnraum privatisiert wird. Durch eine auf das Gemeinwohl verpflichtete, staatliche Kontrolle würde gleichzeitig sichergestellt, dass nicht nur die Interessen der dort schon Wohnenden berücksichtigt werden. Letztlich sollen so Strukturen geschaffen werden, die es ermöglichen, Entscheidungen über ökonomische Strukturen kollektiv zu treffen, ohne Partikularinteressen zu verfallen.

Zentral für diese Strategie sei ein neues Verhältnis zwischen lokalen Regierungen und sozialen Bewegungen. Anstatt soziale Bewegungen zu vereinnahmen oder zu marginalisieren, sollen linke Stadtregierungen als ermächtigende Struktur für soziale Bewegungen dienen. Dazu gehöre auch, neue Ressourcen zu schaffen für eine lokale radikale Demokratie und soziale Bewegungen. Der Munizipalismus beschränkt sich also nicht darauf, lokale Regierungen zu stellen, sondern besteht essentiell immer aus Menschen innerhalb und außerhalb der staatlichen Institutionen, aus Stadtregierung und sozialer Bewegung. Munizipalismus findet auf zwei Ebenen gleichzeitig statt: Erstens in den sozialen Dynamiken von unten und der Fähigkeit verschiedene Konflikte und Aspekte der sozialen Frage zusammenzubringen und diese somit in einem gemeinsamen politischen Projekt zu verbinden; und zweitens auf der Ebene der lokalen Institutionen, die wieder für soziale Ansprüche erobert und demokratisiert werden müssen.

Munizipalismus heißt also mehr (und weniger), als den etablierten Parteien eine neue Wahlplattform entgegenzustellen. Munizipalismus heißt zunächst, eine Gemeinschaft zu bilden, die Menschen aus ihrer Vereinzelung heraus verbindet, und kollektive Forderungen zu artikulieren – wie es in jeder sozialen Bewegung geschieht.

Um ein anderes Verhältnis zwischen lokalen Regierungen und sozialen Bewegungen zu erreichen, braucht es technische Kompetenzen des Organisierens und praktisches Wissen aus sozialen Bewegungen – auch auf institutioneller Seite – sowie Koordination und Einbeziehung der sozialen Basis, um den sozialen und politischen Druck auf die eigene Wahlplattform und andere Parteien aufrechtzuerhalten. Für munizipale Wahlplattformen geht es also nicht einfach darum, die Bewegungen und ihre Forderung als Partei zu repräsentieren, sondern weiterhin in diesen Bewegungen aktiv zu sein beziehungsweise ihre Aktivitäten zu unterstützen, während man auch in den Institutionen arbeitet. Der Staat beziehungsweise seine Institutionen werden so zum Instrument und Werkzeug, die wahre Kreativität und die wahre Demokratie liegt in der Selbstorganisierung der Menschen. Die in Barcelona anwesenden munizipalen Plattformen haben diesen Punkt als eine der größten Herausforderungen benannt: Wie können all die mobilisierten und engagierten Menschen nach der Wahl weiter involviert, wie der Druck von unten aufrechterhalten werden? Die Förderung von Selbstorganisation und die Einbeziehung von lokalem Wissen und Expertise der Bevölkerung in Regierungshandeln scheint am schwierigsten umsetzbar (vgl. Zelik/Bruchmann/Candeias 2016).

Der Munizipalismus ist keine (neue) Technik, einen Konsens zu bilden, er ist eine Forderung nach alternativen Arten des Regierens. Mit dem Munizipalismus sollen in der Krise der politischen Repräsentation neue Wege der Radikalisierung von Demokratie und Partizipation beschritten werden. Essentiell für diese neuen Wege ist, was in Barcelona unter dem Stichwort Feminisierung der Politik verhandelt wurde:

„As we understand it, feminizing politics means three things. First, gender equality in institutional representation and public participation. Second, a commitment to public policies that challenge gender roles and seek to break down patriarchy. Third, a different way of doing politics, based on values and practices that put an emphasis on everyday life, relationships, the role of the community and the common good.“ (Roth/Baird 2017: o. S.)

Neben den vielfach geäußerten feministischen Forderungen nach gleicher Repräsentation und sozialpolitischer Interventionen, benennen die Autorinnen hier ein weiteres zentrales Merkmal feministischer Politik: die Konzentration darauf, wie Politik gemacht wird. Eine Feminisierung der Politik bedeutet für sie eine Fokussierung auf alltägliche Widersprüche und soziale Beziehungen, auf die lokale Gemeinschaft und das Gemeinwohl. Dies sind auch zentrale Merkmale des neuen Munizipalismus.

Zersplitterte linke Artikulationen und Organisationen zu einen, ist ein weiteres zentrales Anliegen des Munizipalismus. Allein diese Aufgabe ist ein schwieriges Unterfangen in politischen Verhältnissen, die darauf abzielen, Gruppen und Menschen zu spalten. Die munizipalistischen Vertreter_innen in Barcelona betonen, dass – um diese Einigkeit herzustellen – gerade kein neuer ideologischer Diskurs über die ‚richtige‘ linke Praxis nötig sei. Vielmehr müsse die Pluralität der Praktiken und sozialen Fragen in ihrer Unterschiedlichkeit verbunden werden. Der Munizipalismus möchte keine Ideologie sein, sondern eine Praxis. Folglich ist es auch nicht zentral, zu sagen, dass man gegen Kapitalismus/Imperialismus/Patriarchat kämpfe, sondern es tatsächlich zu tun und dabei die Praktiken sprechen zu lassen.

Auch in anderer Hinsicht unterscheidet sich die Sprache des Munizipalismus von der ‚klassischer’ linker/linksradikaler Gruppen. Es wird betont, für was man ist, und nicht (nur) gegen was. Für etwas zu sein, heiße auch, sichtbar und erfahrbar zu machen, dass Veränderung und – in der Konsequenz – Siege möglich sind; und auch wenn diese klein sind, sie als solche zu kommunizieren. Dieses Für-etwas-sein erwachse aber nicht aus der linken Reflexion im stillen Kämmerlein, sondern müsse kollektiv erarbeitet werden. Anstatt etwas für andere zu machen, mache man es mit ihnen. In Deutschland lassen sich viele Ansätze der munizipalistischen Bewegung in stadtpolitischen Gruppen wiederfinden. Auch hier werden ideologische Grabenkämpfe überwunden und es wird zu einer Praxis gefunden, die an den alltäglichen Kämpfen der Stadtbewohner_innen ansetzt; eine Praxis, in der Betroffene gemeinsam konkrete Utopien entwickeln und in der eine offene Sprache und undogmatische Strategien die Zusammenarbeit vieler ermöglicht (vgl. Vollmer 2015, Rinn 2016, Dzudzek 2016, Schipper 2017).

Der Fokus des Munizipalismus auf der Methodologie der politischen Praxis führt zum Beispiel dazu, dass in mehreren Städten people’s manifestos als kollektive Prozesse verfasst wurden. Anstatt also eine schöne Zukunft für die Stadtbewohner_innen heraufzubeschwören, wird eine solche mit diesen gemeinschaftlich erarbeitet. In diesem Prozess liegt, folgt man der munizipalistischen Idee, der zentrale politische Moment – und weniger in dem Endprodukt des Manifests. In diesem Verständnis werden die Praktiken der facilitation, der Prozessbegleitung und Moderation, das Gestalten von Abläufen von Treffen und die Dokumentation und Aufbereitung von kollektiven Ergebnissen, zu den wichtigsten Praktiken in politischen Gruppen. Gerade diese sind es jedoch, die in den meisten politischen Gruppen in Deutschland stiefmütterlich behandelt werden; mit Ausnahme der auf Basisorganisierung fokussierten Gruppen (vgl. die Debatte zur Basisorganisierung in sub\urban 4 (2/3), u. a. Kratzsch/Maruschke 2016).

Durch die lokale Fixierung des Munizipalismus unterliegt er einigen Beschränkungen. Wie auch auf nationaler Ebene stehen linke Regierungen hier vor der Herausforderung, dass an der Regierung zu sein noch lange nicht heißt, auch an der Macht zu sein. Zu sehr sind private Profitinteressen und die Wahrung von Eigentumsverhältnissen mit staatlichen Institutionen verquickt. Dazu kommt, dass auf lokaler Ebene größtenteils administrative politische Aufgaben angesiedelt sind und weniger gesetzgeberische. Andererseits sind gerade Administrationsebene und das Wissen um die Implementierung von Gesetzen und Verfahren sehr wichtig, um zu verstehen, wie der Staat funktioniert, und um seine Abläufe zu verändern. Gelingt es einer munizipalistischen Plattform, eine Regierung zu stellen, heißt das aber noch lange nicht, dass sie damit auch die Verwaltung übernehmen kann. Im Gegenteil berichteten viele gewählte Vertreter_innen in Barcelona davon, dass ihre Politik von den Verwaltungsapparaten behindert werde – sei es durch eingeschleifte bürokratische Handlungsweisen, sei es durch die Verfilzung und eine von Lobbygruppen beeinflusste Verwaltungsstruktur. So könnten auch die besten neuen Gesetze oder Instrumente nicht helfen, wenn ihre Implementierung auf administrativer Ebene scheitere. Den Problemen, die die Verwaltung den neuen munizipalistischen Regierungen bereitet, begegnen munizipalistische Bewegungen, indem sie den Druck von der Straße aufrechterhalten, indem Verwaltungsabläufe und der kommunale Haushalt transparent gemacht werden, indem Verwaltungsabläufe geändert und vereinfacht werden und indem neue Stellen und Aufgaben definiert werden. In Badalona, eine Stadt im Norden Barcelonas, ist zum Beispiel die Stelle einer Beraterin für Partizipation eingeführt und mit Fàtima Taleb mit einer Person besetzt worden, die selbst aus sozialen Bewegungen kommt.

Munizipale Wahlplattformen sind in den meisten Fällen auf einen Koalitionspartner angewiesen, wollen sie die Regierung stellen. Damit sind sie automatisch mit dem alten politischen Establishment verbunden. Die Gefahr der Einhegung in bestehende Institutionen, deren Mechanismen und Machtbeziehungen, ist also gegeben. Auch aus diesem Grund ist es zentral, dass der Druck von der Straße hoch bleibt und die Verbindung und Involviertheit in soziale Bewegungen nicht abreißt.

Die Schuldenbremse verringert den Handlungsspielraum kommunaler Regierungen enorm und wurde auf dem Kongress als eines der zentralen Probleme für eine neue Politik benannt. Aus diesem Grund darf der Munizipalismus nicht im Lokalen isoliert sein, sondern muss sich in überregionalen Netzwerken verbinden. Auf der lokalen Ebene schlägt Austerität zwar am härtesten zu, hier kann gesetzgeberisch aber am wenigsten verändert werden. Außerdem sind die Probleme, die der Munizipalismus auf lokaler Ebene versucht zu bekämpfen, global gemachte: weltweite Spekulation mit Boden und Wohnraum, Klimawandel und die ständige Produktion neuer Fluchtursachen, um nur einige zu nennen.

Ein neuer Munizipalismus auch in Deutschland? (Keine) Angst vor Alternativen

Und in Deutschland? Von der Aufbruchstimmung Barcelonas, von linkem Munizipalismus ist hier wenig zu spüren und zu hören. Zwar werden viele Praktiken und Strategien des Munizipalismus auch hier in städtischen Bewegungen umgesetzt. Von einem – gar themenübergreifenden – Zusammenfinden verschiedener Gruppen und Bewegungen sowie der Herausforderung etablierter Parteien, ist man aber weit entfernt. Das Beispiel Berlin veranschaulicht dies: Bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin 2016 kandidierten auf kommunaler (hier: bezirklicher) Ebene zwar verschiedene lokale Wahlgemeinschaften. Die „Wahlliste ÖkoLinX“ in Friedrichshain-Kreuzberg vertrat dabei aber ein linkes Wahlprogramm ohne starken lokalen Bezug (vgl. Ditfurth 2016). Mit „Aktive Bürger“ in Charlottenburg-Wilmersdorf und der „Partei für Nachhaltige Erneuerung“ in Pankow traten zwar zwei Wahlgemeinschaften mit explizit stadtpolitischen Themen an, deren politische Praktiken aber kaum im Austausch mit der mietenpolitischen Bewegung standen. Keine der Wahllisten konnte einen Erfolg verzeichnen. Einzig im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg haben die Grünen sich dafür entschieden mit Florian Schmidt einen Vertreter der mietenpolitischen Bewegung zum Baustadtrat zu machen und damit Ideen des Munizipalismus übernommen.

Warum fehlt eine munizipalistische Praxis oder selbst eine breite Debatte darüber in Deutschland? Diese Frage fand in Barcelona ihren Platz im Workshop „Municipalism. Radical democracy in societies without visible crisis“, der – wenig überraschend – viele Nordeuropäer_innen anzog. Es herrschte große Einigkeit darüber, dass es nicht das Fehlen einer Krise sei, das dazu führe, dass es in manchen Ländern keine neuen breiten linken Bewegungen gibt. In ‚Deutschland‘/‚Dänemark‘/‚Schweden‘ gehe es eben nicht allen gut in der Krise – wie in einfacher Verkürzung auf angeblich homogene Nationen oder ein von der Lohnentwicklung entkoppeltes Wirtschaftswachstum behauptet wird. Auch hier litten viele Menschen unter der permanenten Krise, die der Neoliberalismus ist, und unter den akuten Folgen der Finanzkrise 2008 – zum Beispiel unter steigenden Mieten. Weitgehend einig war man sich auch darüber, dass diese Krise von vielen Menschen auch als solche wahrgenommen werde. Das Problem sei vielmehr, dass diese Wahrnehmung kaum öffentliche Repräsentation fände und entweder im allgemeinen „Uns geht es gut“-Diskurs untergehe oder von rechten Bewegungen und Parteien erfolgreich in Fremdenhass umgemünzt werde. Die Frage sei also, ob es tatsächlich die wichtigste Aufgabe sozialer Bewegungen ist, eine Krise sichtbar zu machen. Wenn man davon ausgeht, dass sie für viele Betroffene sehr sicht- und fühlbar ist, müsste es doch viel eher darum gehen, deren Wahrnehmung in der Öffentlichkeit zu stärken und vor allem Handlungsmacht aufzuzeigen. Denn auch darin waren sich die Anwesenden einig: Nichts lähme die politische Mobilisierung so sehr, wie das Gefühl, sowieso nichts ändern zu können, die Erzählung der Alternativlosigkeit also, die vielen Bürger_innen schon seit Jahrzehnten eingeimpft werde. Schwieriger als eine Krise sichtbar zu machen, sei es, Menschen davon zu überzeugen, sie könnten daran etwas ändern. Anstatt also viel Zeit darauf zu verwenden, die Krise sichtbar zu machen, sollte begonnen werden über eine bessere Gesellschaft zu sprechen – und zwar mit denjenigen, die unter der jetzigen leiden. Durch die Sichtbarmachung von möglichen Alternativen delegitimiere sich der Ist-Zustand von selbst. Die Sprache, in der dies geschehe, müsse weiterhin an die alltäglichen Probleme der Menschen anknüpfen, nicht an ideologische Rhetoriken.

Geteilter Meinung waren die Workshop-Teilnehmer_innen darüber, ob in nordeuropäischen Ländern die Gründung munizipaler Wahlplattformen sinnvoll sei. So wurde die Frage gestellt, warum man Zeit verschwenden sollte, existierende Parteien und deren eingefahrene Strukturen zu beeinflussen, wenn man diese Zeit besser dafür nutzen könnte, eine eigene Partei aufzubauen. Auf der anderen Seite wurde aber auch die Gefahr erkannt, dass existierende linke Parteien sich weiter spalten und so an Einfluss verlieren könnten.

Ob als eigenständige munizipalistische Wahlplattform oder im Verhältnis zu neuen Regierungskoalitionen wie der rot-rot-grünen in Berlin: Städtische soziale Bewegungen können auch in Deutschland von den Debatten des Munizipalismus lernen. Dessen wichtigste Botschaften sind vielleicht, dass man für etwas sein muss, dass die permanente Dagegen-Attitüde die Massen nicht hinterm Ofen hervorlockt und dass es für eine solche politische Praxis tatsächlich vor allem eines braucht: Mut statt Angst.

Endnoten

Autor_innen

Lisa Vollmer ist interdisziplinäre Stadt- und Bewegungsforscherin. Ihre Schwerpunkte liegen im Bereich der Wohnungspolitik und Mieter_innenbewegungen.

lisa.vollmer@uni-weimar.de

Literatur

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