Editorial

Redaktion sub\urban

Liebe Leser_innen,

Postpolitik, Migration, Riots oder Polizei – dies sind einige der Schwerpunkte, die urban für die Diskussion einer kritischen Stadtforschung in den Blick genommen hat. All diesen Themen ist gemein, dass sie in der einen oder anderen Weise auf das Krisenhafte unserer urbanisierten kapitalistischen Gesellschaft verweisen – sei es die Krise der politischen Repräsentation, seien es die Krisen von Nationalstaat und Grenzregimes oder die gesellschaftlicher Inklusion und ‚fordistischer‘ Vergesellschaftung. Der Schwerpunkt unserer aktuellen Ausgabe liegt nun auf ‚Stadt der Reproduktion‘, wo der globale Krisenkapitalismus in seinen nordatlantischen Ausprägungen besonders deutlich wird, wie die Diskussion um die ‚Krise der Reproduktion‘ zeigt.

Gesellschaftliche Krisen und Umbrüche mit einem Fokus auf Reproduktion – und insbesondere auf Care Work oder Sorgearbeit – zu betrachten, impliziert, wie es Stefan Höhne und Nina Schuster in der Einführung herausarbeiten, nicht zuletzt eine Fokussierung minorisierten Arbeitens und Raum-Machens von Frauen, Migrant_innen, Queers und rassifizierten Menschen. Denn es sind gerade die vergeschlechtlichten, migrantischen und rassifizierten Formen des Betreuens und Pflegens, des Putzens und Dienstleistens, die in vielfältige Krisendynamiken eingebunden sind. Erhöhen Politiken der Austerität etwa den Bedarf an billigen Sorgearbeitskräften, so setzen militarisierte Grenzen zugleich die oft transnational verfassten Lebensweisen eben dieser Arbeitskräfte massiv unter Druck. Zugleich werden gesellschaftliche Krisen zugespitzt, wenn sich in den vielfältigen Bereichen der Reproduktion gesellschaftliche Kämpfe herausbilden, die neue Formen der Kollektivität, Vernetzung und Transversalität auf den Plan rufen – von den Aktionen der feministisch-situationistischen Precarias a la deriva in Spanien über den Streik der Pflegekräfte an der Berliner Charité-Klinik bis zu den wöchentlichen Treffen der Hongkonger Hausangestellten und Kinderbetreuerinnen, von denen in der Einführung die Rede ist. Zugleich versuchen hegemoniale Akteure beständig, gesellschaftliche Krisen durch prekarisierte Reproduktionsarbeit zu entschärfen, wodurch die Reproduktion zu einem besonders umkämpften und richtungsweisenden Feld wird.

Wenn wir also die ‚Stadt der Reproduktion‘ ins Zentrum dieses Heftes setzen, so möchten wir nicht lediglich eine ‚Forschungslücke‘ schließen oder einem weiteren ‚innovativen‘ Diskussionsfeld den Weg bereiten. Vielmehr möchten wir stadträumliche Ebenen hegemonialer Reproduktionsdispositive ebenso wie deren Infragestellen sichtbar machen, um damit aus machtkritischer Perspektive zur Entwicklung solidarischer Antworten auf die vielfältigen miteinander verschränkten Krisen unserer Zeit beizutragen. Denn wie diese Krisen, so finden auch politische Kämpfe notwendigerweise in konkreten räumlichen Kontexten statt – nicht zuletzt unter Bedingungen post-industrieller Urbanität. Was bedeutet es etwa, wenn das seit den 2000er Jahren wieder verstärkt diskutierte ‚Recht auf Stadt‘ unter dem Gesichtspunkt der Reproduktion diskutiert wird? Welche Implikationen haben veränderte Verhältnisse des Öffentlichen und Privaten oder des Lokalen und Globalen für das umkämpfte Feld der Reproduktionsarbeit? In welcher Beziehung stehen Prozesse der Gentrifizierung, Finanzialisierung und Ökonomisierung mit gesellschaftlicher Reproduktion und ihrer Prekarisierung?

Um Fragen wie diese zu untersuchen, haben wir in einem Call im Dezember letzten Jahres zur Einreichung von Aufsätzen, Debatten- und Magazinbeiträgen sowie Rezensionen eingeladen. Wir freuen uns, rund ein Jahr später eine große Bandbreite an Beiträgen zur ‚Stadt der Reproduktion‘ – und zum Teil auch darüber hinaus – präsentieren zu können. So widmen sich Susann Schröder und David Scheller in ihrem Aufsatz „Abgesicherte Fürsorge und fürsorgliche Absicherung in Gemeinschaft“ neuen Organisationsformen der Vergemeinschaftung innerhalb von Mehrgenerationenwohnprojekten. Wie gemeinschaftliche Fürsorge in den drei untersuchten Projekten täglich aufs Neue verhandelt wird, steht im Zentrum ihrer Analyse. Im zweiten Aufsatz „Die ungleiche Geographie des Elterngelds“ gehen Jan Kemper und Andrea Mösgen der Frage nach, welche – räumlichen – Ungleichheitseffekte das im Jahr 2007 eingeführte einkommensabhängige Elterngeld nach sich zieht.

Mit „Wie könnte eine nicht-sexistische Stadt aussehen?“ von Dolores Hayden dient uns ein Klassiker der feministischen Stadtforschung als Ausgangspunkt für die Debatte zum Themenschwerpunkt. Der Text erschien erstmals 1980 und wurde dem deutschsprachigen Raum ein Jahr später in gekürzter Form durch die Zeitschrift ARCH+ zugänglich gemacht. In dieser Ausgabe der urbanerscheint er nun zum ersten Mal in ungekürzter Übersetzung. Auch Hayden diskutierte bereits neue Organisationsformen der Vergemeinschaftung im Bereich Wohnen sowie damit verknüpft neue Verteilungsformen der Sorgearbeit. Mit Dörte Kuhlmann, Marianne Rodenstein, Gesa Witthöft, Sandra Huning und Felicitas Reuschling ist es uns gelungen, fünf feministische Stadtforscherinnen zu gewinnen, die den in der Vergangenheit immer wieder kontrovers diskutierten Essay aus heutiger Perspektive kommentieren. Im Anschluss verortet Hayden ihren Beitrag im Lichte der seit der ursprünglichen Veröffentlichung geführten Diskussion. Außerhalb des Themenschwerpunkts erscheint Loïc Wacquants Replik auf die Kommentare, die sein Text „Mit Bourdieu in die Stadt“ im letzten Heft angestoßen hatte. Wacquant folgt darin vielen Impulsen aus den Kommentaren und erneuert sein Plädoyer für eine breite Orientierung an Bourdieus herrschaftssoziologischer Forschungsperspektive in der Stadtforschung – und letztlich auch für die Weiterentwicklung seiner analytischen Kategorien in Bezug auf räumliche Verhältnisse.

Das Magazin wird mit dem Beitrag zum Themenschwerpunkt „‚We take the risk of hope‘ – Überlegungen zu akademischer (Reproduktions-)Arbeit“ von Nina Fraeser, Sarah Klosterkamp, Juliane Kühn, Eva Kuschinski und Theresa Martens eröffnet, in dem sie – aufbauend auf dem Vernetzungstreffen „Feministische Geographien“ in Hamburg – die Universität als Ort der Reproduktion reflektieren. Darüber hinaus diskutiert Lisa Vollmer in „Keine Angst vor Alternativen. Ein neuer Munizipalismus“ außerhalb des Themenschwerpunkts, inwiefern es munizipalistischen Bewegungen gelingen kann, eine neues Verhältnis zwischen kommunalen Regierungen und sozialen Bewegungen zu schaffen. Dabei dient ihr der Kongress „Fearless Cities“ als Aufhänger, bei dem im Juni dieses Jahres verschiedenste europäische Aktivist_innen in Barcelona zusammengekommen sind, um sich über ihre Ideen zu und Erfahrungen mit einem neuen Munizipalismus auszutauschen. Schließlich blickt Frank Eckardt in „Kassel ohne Athen“ auf die documenta 14 und kritisiert ihren Umgang mit den lokalen Gegebenheiten der Stadt Kassel, die der Kunstveranstaltung – im Vergleich zu vorangegangenen Ausstellungen – lediglich als Bühne gedient habe.

Mit ihrer Rezension „Verdammt zum Leben in der ‚Rama-Frühstücksfamilie‘“ vervollständigt Jana Günther die Beiträge zum Themenschwerpunkt. Ausgangspunkt ist die Streitschrift „Kritik des Familismus“ von Gisela Notz, in der die Entwicklung des bundesdeutschen Familienbilds reflektiert wird. Darüber hinaus fordert Laura Nkula-Wenz in ihrer Rezension zu „Decolonize the City!“ des Zwischenraum Kollektivs dazu auf, nicht nur unsere Städte, sondern auch unsere Köpfe zu dekolonisieren. Anja Schwanhäußer schlägt einen weiteren Bogen zu Wacquant, indem sie seine vielbeachtete Studie „Urban Outcasts“ aus dem Jahr 2008 in ihrer gerade erschienenen deutschsprachigen Übersetzung rezensiert. Und auch Eckardt begegnet uns ein zweites Mal: In seiner Rezension „Sich in der ‚Krise‘ einrichten“ stellt er die (Entwurfs-)Vorschläge zum Thema Architektur und Geflüchtete aus dem Team rund um Jörg Friedrich zur Diskussion.

Mit den Beiträgen zum Themenschwerpunkt ist das Thema ‚Stadt und Reproduktion‘ mitnichten abgeschlossen. Wir freuen uns weiterhin über Einreichungen, die an die hier angestoßenen Debatten anknüpfen.

 

Viel Spaß beim Lesen wünscht wie immer

die urban-Redaktion

 

Kristine Beurskens, Laura Calbet i Elias, Antonio Carbone, Mélina Germes, Nina Gribat, Johanna Hoerning, Stefan Höhne, Jan Hutta, Justin Kadi, Yuca Meubrink, Boris Michel, Carsten Praum, Nikolai Roskamm, Nina Schuster und Lisa Vollmer