Verdammt zum Leben in der ‚Rama-Frühstücksfamilie’

Rezension zu Gisela Notz (2015): Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes. Stuttgart: Schmetterling Verlag.

Jana Günther

Mit „Kritik des Familismus. Theorie und soziale Realität eines ideologischen Gemäldes“ hat die Sozialwissenschaftlerin und nunmehr schon seit vielen Jahrzehnten politisch aktive Feministin Gisela Notz eine Publikation in der Reihe theorie.org vorgelegt, die sich kritisch mit dem bundesdeutschen Familienbild auseinandersetzt. Mit ihrer Streitschrift, die von einer familistisch geprägten Machtstruktur ausgeht, liefert die Autorin damit nicht nur eine verständlich geschriebene Zusammenfassung wesentlicher sozialhistorischer und politischer Entwicklungen sowie öffentlich geführter Diskurse, die die äußerst persistente und – so Notz – ideologisch aufgeladene Figur der „heteronormative[n] monogame[n] Kleinfamilie mit verheirateten Eltern“ (2017: 196, Anmerk. d. A.) stützen und gestützt haben. Sie legt darüber hinaus auch eine grundsätzliche Kritik am Familismus – als einer allgemeinen „Überbetonung der familialen Ordnung“ (ebd.: 8) – sowie der in der bundesdeutschen Gesellschaft imaginierten glücklichen „Rama-Frühstücksfamilie“ (ebd.: 196) vor.

Im ersten Kapitel erläutert Notz zunächst die Begriffe Familie und Familismus. Es gelingt ihr die Heterogenität gelebter Familienformen darzustellen, ohne ‚Familie‘ als gesellschaftliches Konstrukt festzuschreiben. Ihrer eigenen Begriffsbildung gegenüber bleibt sie aber auch kritisch, das heißt, sie begreift vielfältige Formen des Zusammenlebens von Menschen als gesellschaftlich legitim und notwendig (vgl. ebd.: 13ff). Die Darstellung zielt insgesamt darauf ab, aufzuarbeiten, was zu dem „ideologisierten Familienverständnis“ (ebd.: 10) geführt hat, welches „die bürgerliche Kleinfamilie als Leitform“ (ebd.: 17) festschreibt. Dabei ist besonders bemerkenswert, dass trotz starker historischer Brüche – wie beispielsweise der zwei Kriege (vgl. ebd.: 42ff) oder dem geteilten Deutschland (vgl. ebd.: 73ff; 148ff) mit zwei verschiedenen politischen Regimen und den sich daraus ergebenden, unterschiedlichen Lebenspraxen – durchweg an eben diesem Leitbild der ‚typischen‘ Kleinfamilie im ehelichen Verhältnis festgehalten wurde. Den Begriff des Familismus verortet Notz einerseits als fachlichen Begriff in der Soziologie, versteht ihn anderseits aber auch als Ideologie (vgl. ebd.: 17). Als letztere wirke der Familismus einhegend. Das Konstrukt der Kleinfamilie solle den Nationalstaat an sich stützen. „Familie als Leitbild“ (ebd.: 22) drückt sich demnach am offensichtlichsten in der Ausgestaltung des Sozialstaates aus (ebd). Sozialpolitische Maßnahmen orientieren sich immer noch an (hetero-)geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen und damit an den dadurch zugewiesenen Sphären (vgl. ebd.).

In den Kapiteln 2 und 3 beschreibt Notz in ideengeschichtlicher und historischer Perspektive die Etablierung des Familismus. Ihre kursorischen Ausführungen beziehen sich dabei größtenteils auf die Entwicklung im westlichen Raum. In dem Zusammenhang beschreibt sie auch die unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen für bürgerliche und proletarische Familien im 19. Jahrhundert (vgl. ebd.: 42), um dann exemplarisch auf progressive Lebensformen jenseits des Ideals der bürgerlichen Kleinfamilie einzugehen: zum Beispiel die Beginen (vgl. ebd.: 54f.), die owenistische Bewegung (vgl. ebd.: 56) sowie anarchistische Lebenspraxen (vgl. ebd.: 58).

Insgesamt zeigt sie bereits in den ersten 3 Kapiteln, wie hartnäckig sich die patriarchal organisierte Kernfamilie ausgehend vom Bürger_innentum verbreitet hat. Das Patriarchat als väterliche Herrschaft modernisierte sich demnach, indem es sich von einer „traditionellen (patriarchalen) Form des Patriarchats zu einer spezifisch modernen“ (Patemen 2000: 23) bürgerliche Gesellschaft entwickelt hat. Dabei verweist Notz auch auf die Diskrepanzen marxistischer Ansprüche und die Tendenzen in der Arbeiter_innenbewegungen, das bürgerliche Familienbild zu favorisieren und Frauen die Erwerbsarbeit zu verwehren (vgl. 2017: 37; 62). Dieser „proletarische Antifeminismus“ (Thönnessen 1969: 14), der insbesondere von Ferdinand Lassalle und dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) forciert wurde, folgte der Logik der „Geschlechtercharaktere“ (Hausen 2001 [1976]: 171) und verwies Frauen in die häusliche Sphäre. Aber auch die „halbherzige Kritik“ (Notz 2017: 66) „der ‚ersten alten‘ Frauenbewegung“ (ebd.) an Ehe und Familie lässt Notz nicht unerwähnt. In der frühen Frauenbewegung setzte sich der gemäßigt konservative Flügel mit seinen eher traditionellen Ideen von Ehe und Familie durch, worüber jedoch die harten Kämpfe mit dem radikalen Flügel, der in den Anfangsjahren noch eine bedeutendere Rolle im Bund deutscher Frauenvereine als „Wächterin auf der Zinne“ (Zahn-Harnack 1928: 273) spielte, nicht vergessen werden dürfen. So waren es vor allem die Radikalen, die sich im Besonderen mit der sogenannten ‚Sittlichkeitsfrage‘ und Sexualmoral auseinandersetzten und die gesellschaftliche Stellung lediger Mütter zu verbessern suchten (vgl. Schenk 1981: 22) und damit an die Tradition der „neuen Ethik“ (Notz 2017: 71f.), wie sie Notz am Ende des Kapitels vorstellt, anschlossen.

In den Kapiteln 4 und 5 wendet sich Notz der bundesdeutschen Entwicklung der Nachkriegszeit (vgl. ebd.: 73ff.) und den politischen und von Protestbewegungen forcierten Debatten infolge der 68er (vgl. ebd.: 108ff.) zu. Hier gelingt es Notz sehr eindringlich und nachvollziehbar, zu beschreiben, wie sich familistisch geprägte Normen, obwohl sie nicht der alltäglichen Lebensweise der Kriegs- und Nachkriegsgeneration entsprochen haben, von einer diskursiven und politisch forcierten Ebene in rigide und Frauen stark benachteiligende Gesetzgebungen mündeten. So gelang es den „Sozialdemokratinnen“ (vgl. ebd.: 75f.) zwar, durchzusetzen, die Gleichstellung der Geschlechter in die Verfassung aufzunehmen, jedoch habe sich dies nicht auf der Ebene des Familien- oder Arbeitsrechts ausgewirkt (ebd.). Und das spiegele, so die Argumentation von Notz, die Janusköpfigkeit bundesdeutscher Politik wider: Die Gleichstellung der Geschlechter sei immer in den engen Grenzen eines familialen Verständnisses gefangen geblieben, denn die heterosexuelle Kleinfamilie gelte bis heute als zu schützende Institution des Staates. Besonders hervorzuheben ist, dass die Autorin immer wieder und aus ihrer Argumentation heraus nachvollziehbar argumentiert, dass Familienpolitik immer als Bevölkerungspolitik (vgl. ebd.: 81) gedacht wurde. Und über „nationale Bevölkerungspolitik“ (ebd.: 86) hinaus funktioniere sie eben auch als Vehikel von „Militärpolitik“ (ebd.) und Stellschraube für Arbeitsmarktreformen, die generell Frauen und alternative Formen familialen Zusammenlebens im Besonderen benachteiligt habe und bis heute benachteilige. Das zeige sich beispielsweise an der Einführung des Ehegattensplittings (vgl. ebd.), der politisch präferierten (heterosexuellen) Kernfamilie (vgl. ebd.: 89), dem rigiden Abtreibungsgesetz (vgl. ebd.: 98), dem „Kuppeleiparagraf“ (vgl. ebd.: 84) und dem Paragraph 175, der Homosexualität unter Strafe stellte (vgl. ebd.: 99). Die Bedeutung der alternativen Lebensweisen und Protestbewegungen rund um die 68er stellt Notz noch einmal besonders heraus und verbindet auch in diesem Kapitel theoretische Einflüsse mit vielfältigen, alternativen Projekten und differenten Praxen (vgl. ebd.: 116ff.). Auch finden intersektionale Perspektivierungen in ihre Ausführungen Eingang (vgl. ebd.: 119).

Es ist der Autorin absolut zugutezuhalten, dass sie in ihrer Betrachtung der Nachkriegsgeschichte nicht selbstverständlich von der Geschichte eines westdeutschen Familismus ausgeht und darüber vergisst, dass 40 Jahre lang für einen Teil der Bevölkerung die DDR alltägliche Realität war. Zwar fällt Kapitel 6, welches sich diesem Thema widmet, merklich kürzer aus als Kapitel 4 und 5 zur BRD, dies ist aber der vergleichsweise spärlicheren sozialwissenschaftlichen Erforschung von alltäglichen Praxen, Lebensweisen und sozialstrukturellen Zusammenhängen in der DDR geschuldet und nicht Notz anzulasten. Anders als in der BRD wurde in der DDR die Rechtsgleichheit nicht nur in der Verfassung, sondern in allen anderen Bereichen (zumindest formal) sofort hergestellt (vgl. ebd.: 149). Anders als in der BRD gab es außerdem ein „Recht auf Arbeit“ (ebd.: 149) für Frauen und es wurde auf außerfamiliale Betreuungseinrichtungen gesetzt. Zudem war das Abtreibungs- und Scheidungsrecht – im Gegensatz zu dem der BRD – fortschrittlich und erlaubte den Frauen (relativ) große Spielräume. Allerdings wurde tabuisiert, „daß damit längst nicht die sozialen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern beseitigt waren“ (Nickel 1990: 10). Auch weist Notz darauf hin, dass Anspruch und Wirklichkeit in der DDR zwei Seiten einer Medaille gewesen seien: Auch in der DDR blieben familistische Strukturen bestehen (vgl. Notz 2017: 149).

Nach der Wende taten sich – wie in den Kapiteln 7 und 8 nachgezeichnet wird – die westdeutschen Parteien schwer, ostdeutsche Lebensbiografien, Erfahrungen und Ansprüche ernst zu nehmen. Die Angst der ostdeutschen Frauen aus der Erwerbsarbeit gedrängt zu werden, sei laut Notz auch nicht unberechtigt gewesen (vgl. ebd.: 159ff.). Der politische und öffentliche Diskurs zielte auf die Wiederherstellung eines „gesamtdeutschen Familismus“ (ebd.: 161) ab. Diese – sowie die ökonomische – Situation konnten die Alltagspraxen ostdeutscher Frauen aber kaum brechen (vgl. ebd.: 162). Deutlich werde jedoch für die gesamtdeutsche Politik seit der Wende, dass Familienpolitik stets auf der Folie von Bevölkerungspolitik gedacht, entwickelt und umgesetzt wurde. In den Strategien der Bundesregierung(en) blieben sexistische, rassistische und klassistische Muster äußerst persistent bestehen (vgl. ebd.: 165ff.). Dies zeigt sich beispielsweise an der Einführung des Elterngeldes 2007 (vgl. ebd.: 172) und der Rekonstruktion des Zuverdiener_innenmodells mit den ALG II-Gesetzen (vgl. ebd.: 178ff.). Bemerkenswert – und daran zeige sich wiederum der ideologische Charakter des Familismus – sei, dass trotz gelebter heterogener Familien- und Lebensformen (vgl. ebd.: 193), der Schwierigkeiten im Bereich der Pflege älterer Menschen (vgl. ebd.: 178), transnationaler Versorgungsketten (vgl. ebd.: 183) und der desaströsen Situation alleinerziehender Eltern (Hübgen 2017: 22ff.) am Bild der Kleinfamilie als „Pflegedienst der Nation“ (vgl. 2017: 187) festgehalten werde.

Zusammenfassend gelingt es Notz das „ideologisierte Familienverständnis“ (ebd.: 10) facetten- und quellenreich zu belegen. Die Publikation ist ein sehr guter Einstieg in das Thema und macht recht spezifisches Wissen für eine breite Leser_innenschaft zugänglich. Der Sprachstil ist äußerst verständlich und das Verhältnis zwischen theoretischen, ideengeschichtlichen und sozialhistorischen Analysen für einen Einführungsband sehr gelungen. Er bietet demnach vor allem eine Grundlage für linke Politik(en) und die Möglichkeit „inhaltlicher Reflexion politischer Praxis“[1], ein Anspruch dem die Reihe theorie.org im Allgemeinen gerecht werden möchte.

Besonders am Ende der Schrift – in Kapitel 9 – verweist die Autorin vorausschauend darauf, dass die Debatten um Familie, Sexualität und körperliche Selbstbestimmung nicht an Brisanz verlieren und auch weiterhin ein entscheidender Ort feministischer Kämpfe sein werden. Denn gerade die familistisch geprägte Familien-, Arbeits- und Sozialpolitik als Bevölkerungspolitik – wie sie im bundespolitischen Kontext immer noch gedacht wird – sei eine Sphäre, in welche fundamental-konservative Kräfte (vgl. ebd.:. 202), rechtsextreme Bewegungen und nationalistische Parteien (vgl. ebd.: 208f.) ohne besondere Schwierigkeiten einhaken können, in der aber auch feministische Einsprüche geltend gemacht werden müssten.

Endnoten

Autor_innen

Jana Günther ist promovierte Sozialwissenschaftlerin.

jana.guenther@tu-dresden.de

 

Diese Publikation wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und den Publikationsfonds der TU Dresden.

Literatur

Hausen, Karin (2001 [1976]): Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Sabine Hark (Hg.): Dis/Kontinuitäten: feministische Theorie. Opladen: Leske+Budrich, 162-185.

Hübgen, Sabine (2017): Armutsrisiko Alleinerziehend. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 67,/30-31, 22-27.

Nickel, Hildegard Maria (1990): Geschlechtertrennung durch Arbeitsteilung. Berufs- und Familienarbeit in der DDR. In: Feministische Studien, 8/1, 10-19.

Pateman, Carole (2000): Der brüderliche Gesellschaftsvertrag. In: Braun, Kathrin/Fuchs, Gesine/ Lemke, Christiane/Töns Katrin (Hg.): Feministische Perspektiven der Politikwissenschaft. München: Oldenbourg, 20-49.

Thönnessen, Werner (1969): Frauenemanzipation. Frankfurt am Main: Europäische Verlags-Anstalt.

Zahn-Harnack, Agnes von (1928): Die Frauenbewegung. Geschichte, Probleme, Ziele. Berlin: Deutsche Buch-Gemeinschaft GmbH.